Protokoll der Sitzung vom 26.02.2010

(Zwischenruf Abg. Kemmerich, FDP: Das bekommt er doch als Gegenleistung von der Gemeinschaft. Das ist doch Unsinn.)

Ja. Dann unterhalten Sie sich bitte mal mit Menschen, die zu Pflichtpraktika geschickt werden, die unabhängig von ihrer persönlichen Qualifikation, Eignung, Leistung und Interessen in Unternehmen gesteckt werden, und sollten sie diese Arbeit nicht annehmen, werden ihnen die Bezüge gestrichen.

(Unruhe FDP)

Das ist Repression der Betroffenen, das ist unwürdig. Denn im Grundgesetz steht eindeutig drin, dass es keinen Zwang zur Arbeit gibt, und die Situation, die ich Ihnen geschildert habe, mit den freien Arbeitsplätzen und den Arbeitslosen, die ist es eigentlich, die uns antreibt, darüber nachzudenken, was kommt nach Hartz IV. Denn nach Hartz IV muss etwas kommen, das heißt Umverteilung von Arbeitszeiten, das heißt Grundeinkommen, bedingungsloses oder bedarfsgerechtes, darüber kann man gerne diskutieren. Aber die Zeiten der Lohnarbeit und der Repression durch Hartz IV, die sollten eindeutig vorüber sein.

(Beifall DIE LINKE)

Herr Abgeordneter Bärwolff, es gibt eine Zwischenfrage. Gestatten Sie die?

Von Herrn Recknagel gerne.

(Zwischenruf Abg. Fiedler, CDU. Pass auf, das ist ein Kapitalist.)

Ich weiß, ich weiß.

Jawohl, dazu bekenne ich mich, nachdem Sie sich dazu bekannt haben, Marxist zu sein. Marktwirtschaftler bin ich sehr gerne. Herr Bärwolff, Sie hatten eben erwähnt, es gebe Arbeitsverhältnisse zum Lohn null und haben als Beispiel angeführt Praktika, Pflichtpraktika. Ist Ihnen der Unterschied zwischen einer Ausbildung, einem Praktikum im Rahmen einer Ausbildung und Erwerbsarbeit bekannt?

(Zwischenruf Abg. Barth, FDP: Dem si- cher nicht.)

Ja, Herr Recknagel, mir sind die Unterschiede sehr bekannt. Ich weiß, was ein Arbeitsverhältnis ist, ich weiß, was ein Arbeitsvertrag ist, ich weiß, was eine Ausbildung und was ein Praktikum ist. Ich weiß auch, was Ausbeutung ist.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich weiß auch, was es bedeutet für Menschen, in Betriebe geschickt zu werden unter Androhung der Kürzung des Regelsatzes, sollten sie für drei, vier, fünf Monate die Praktika, die die ARGE vermittelt, nicht annehmen. Das weiß ich sehr wohl auch einzuschätzen, Herr Recknagel. Da können Sie sich schon sehr sicher sein. Das, was sich für uns unterm Strich ergibt, ist die Aussage, Hartz IV …

Herr Bärwolff, es gibt noch eine zweite Nachfrage vom Abgeordneten Kuschel. Lassen Sie die zu?

Herr Bärwollf, würden Sie mir zustimmen, dass auch die Arbeitspflicht für Hartz-IV-Bezieher, bei der sie nur eine sogenannte Mehraufwandsentschädigung bekommen, eine ähnliche Wirkung hat, die Sie beschrieben haben, nachdem nämlich dort wertschöpfende Arbeit geschaffen, ohne dass der Betroffene für seine Arbeit entlohnt wird?

Ich würde sogar noch weitergehen und sagen, die Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwand, also die sogenannten Ein-Euro-Jobber, haben nicht nur für den Betroffenen selber, sondern vor allem auch für die Angestellten und Beschäftigten im Niedriglohnbereich ganz verheerende Konsequenzen. Denn dadurch

Herr Abgeordneter Bärwolff, Entschuldigung, es gibt eine nächste Zwischenfrage.

Als ich würde jetzt langsam mal - Frau Meißner Sie dürfen gerne …

(Zwischenruf Abg. Kuschel, DIE LINKE: Er muss jetzt erstmal eine beantworten.)

Moment, sobald Sie Ihre erst jetzt aktuelle Frage beantwortet haben. Würden Sie dann die nächste auch zulassen, von der Abgeordneten Meißner?

Ja, aber dann würde ich gern noch ein bisschen zum Thema weiterreden, es geht um Kindergrundsicherung. Frau Meißner, bitte.

Ich wollte Sie jetzt schon noch antworten lassen. Aber wenn die Antwort beendet ist, eine Frage meinerseits: Geben Sie mir recht, dass es auch durchaus Praktikas geben kann, aus denen Arbeitsverhältnisse resultieren?

Ja, wenn das Junge Unionler bei Ministerien und bei Ministern sind, dann hat das durchaus beschäftigungsfördernde Wirkung, Frau Meißner. Das habe ich schon mitbekommen.

(Beifall DIE LINKE)

Weitere Nachfragen möchte ich an dieser Stelle erst einmal nicht zulassen. Ich möchte gern mal ein bisschen zum Punkt kommen.

(Heiterkeit DIE LINKE)

Hartz IV ist Armut per Gesetz. Der Staatssekretär im Bildungsministerium, Herr Prof. Merten, hat das eindeutig in verschiedenen Veranstaltungen dargelegt. Denn der Hartz IV-Satz entspricht 40 Prozent des mittleren Einkommens und der ist nach der Definition von Sozialwissenschaftlern Armut. Da hilft es nicht, wenn man sich hier hinstellt, Herr Gumprecht, und Studien zitiert, wonach Armut doch gar nicht an Zahlen zu belegen sei, indem man sozusagen versucht, den Armutsbegriff zu relativieren. Nein, diese Zahlen sind amtlich

(Zwischenruf Abg. Gumprecht, CDU: Das haben Sie falsch verstanden.)

- Herr Gumprecht, Sie haben jemanden zitiert vom Sozialinstitut in Köln, wenn ich mich recht entsinne - und diese Hintergründe, glaube ich, müssen wir auch gelten lassen zur Bewertung von Hartz IV. Es ist Armut, die damit produziert wird, das ist ganz strenge Einkommensarmut. Der Staatssekretär im Bildungsministerium, der Herr Merten, kann Ihnen das sicherlich dann, wenn wir es im Ausschuss beraten, auch noch mal darstellen.

Hartz IV schafft also Ausgrenzung, Stigmatisierung und Benachteiligung, Perspektivlosigkeit. All das sind Punkte, die im Urteil des Bundesverfassungsgerichts aufgegriffen werden, die für unmöglich gehalten werden, wogegen man vorgehen sollte.

Die Kindergrundsicherung, die wir vorschlagen, ist also eine Möglichkeit, aus dem Urteil, aus den zum ersten Mal so offen dargestellten Grundrechtsansprüchen Konsequenzen zu ziehen. Da haben wir uns überlegt, wie könnte das funktionieren. Wir haben ja die paradoxe Situation in Deutschland, dass wir unter den OECD-Staaten das meiste Geld pro Kopf ausgeben für die Kinderförderung. Die Schwierigkeit ist nur die, Herr Koppe, dass der Unterschied in der Förderung zwischen arm und reich liegt. Das heißt, besser Verdienende haben mehr Chancen, mehr Möglichkeiten, sozusagen Familienförderung und Kinderförderung für sich zu akquirieren, während diejenigen, die auf Transferleistungen angewiesen sind, während diejenigen, die auf Zuschüsse angewiesen sind, nur unzureichende Möglichkeiten haben in der Familienförderung. Deshalb brauchen wir eigentlich die Kindergrundsicherung. Die Kindergrundsicherung ist eine Möglichkeit, all diese Mittel, all diese finanziellen Mittel, die wir dort haben - insgesamt machen

die 183 Mrd. € aus, kann man sich auf der Internetseite des Bundesfamilienministeriums auch schön aufschlüsseln lassen - 183 Mrd. € also, die wir für Familienförderleistungen ausgeben. Diese 183 Mrd. kann man auch anders ausgeben. Wir wollen nicht die kompletten 183 Mrd. € verteilen, denn Sie werden uns sicherlich zustimmen, dass die Mitversicherung von Kindern bei der Familienversicherung eine Leistung ist, die man befürworten kann. Da muss man nicht unbedingt etwas umverteilen. Aber gerade wenn es um Ehegattensplitting geht, wenn es um Kinderfreibeträge, diese Dinge sind es, die hochgradig sozial ungerecht wirken. Das Ehegattensplitting, Sie wissen es vielleicht, 40 Prozent der geförderten Ehen über das Ehegattensplitting haben nicht mal Kinder. Trotzdem wird das Ehegattensplitting als Leistung für Kinder und Familien gewertet, und das finden wir einfach schlecht. Wir möchten, dass alle Kinder unabhängig vom sozialen Hintergrund den Rechtsanspruch auf Förderung haben.

Frau Siegesmund hat schon gesagt, das breite Bündnis, welches existiert: Deutscher Kinderschutzbund ganz vorne an der Spitze, die AWO, auch DIE GRÜNEN, und wir wollen natürlich gerne daran mitwirken, diese Diskussion um das „wie weiter“ hier zu befördern.

Herr Gumprecht, Sie hatten ja unseren ersten Antragsentwurf noch mal zitiert, wo wir die 358 € aufgeführt hatten. Da haben wir uns nicht verrechnet, sondern die 358 €, die dort entstanden sind, das ist eine Zahl, die der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband errechnet hat, denn der DPWV hat sich bereits im Jahr 2008 - das können Sie auch in der Expertise des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes nachlesen - damit beschäftigt, was Kinder eigentlich brauchen, um das soziokulturelle Existenzminimum zu gewährleisten, und der kam im Jahre 2008 auf eine Summe von 358 €. Der Vorteil dieser Zahl ist im Gegensatz zu den Regelsätzen, die bislang im SGB II gezahlt oder genannt werden, derjenige, dass sich der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband wenigstens Gedanken gemacht hat, wie ein solcher Bedarf aussehen könnte. Die Bundesregierung hat einfach nur gesagt, Kinder sind 60 bzw. 80 Prozent eines Erwachsenen. Der Vorschlag, den der Paritätische Wohlfahrtsverband gemacht hat, der hat einen ökonomischen Hintergrund. Da haben sich Experten Gedanken gemacht, wie das soziokulturelle Existenzminimum auch aussehen kann. Denn es geht nicht nur darum, dass die Familien Geld haben müssen, um ihre Kinder zu ernähren, um das physische Existenzminimum zu erhalten, sondern es geht vor allem auch - und gerade wenn Sie sich mit Armut und Armutsfolgen auseinandersetzen, dann wissen Sie das ja sicherlich auch - darum, einen Zugang zu Einrichtungen zu gewährleisten, damit Teilhabe umfassend möglich ist und Teilhabe auch gewährleistet

werden kann. Deshalb wollen wir nicht nur eine monetäre Leistung, sondern in dem großen Umverteilungspaket zur Kindergrundsicherung ist auch ein bestimmter Betrag, den die Länder ausgezahlt bekommen, zum Beispiel, um Museen, Theater Kultur- und Sporteinrichtungen für Kinder kostenfrei zu gestalten. Es geht zum Beispiel auch um die kostenlose Nutzung des ÖPNV, was Mobilität bedingen würde. Damit die Kinder das auch nutzen können, brauchen die Betriebe eine Kompensation. Aus diesen Mitteln soll das bestritten werden. Im Großen und Ganzen geht es also um einen Paradigmenwechsel in der Kinderpolitik. Wir wollen weg von der einseitigen Abhängigkeit von Eltern hin zu eigenen Rechtsansprüchen für Kinder.

(Beifall DIE LINKE)

Auf diesem Weg ist der unmittelbare Anspruch derjenige, dass wir den Regelsatz aufstocken, das heißt, dem Urteil unmittelbar nachkommen und in einem zweiten Schritt die Kindergrundsicherung einführen.

Frau Taubert, Sie hatten ja gefragt, warum wir uns die Mühe machen, die Maßnahmen gegen Kinderarmut in Punkt 3 unseres Antrags noch einmal vorzutragen. Das will ich Ihnen ganz kurz begründen: Sie hatten am 13. Januar in einer Pressemitteilung mitgeteilt, dass Sie zu Arbeitsgruppen einladen möchten, um einen Maßnahmekatalog gegen Kinderarmut vorzubereiten. Die Pressemittelung habe ich gut gespeichert und angesehen. Für mich hat sich die Frage gestellt, ob Sie das, was die heutige Ministerpräsidentin Lieberknecht gemacht hat, mitbekommen haben oder ob das etwas an Ihnen vorbeigegangen ist. Die SPD ist damals aus diesen Arbeitsgruppen der Ministerin für Soziales, Familie und Gesundheit mit großem Tamtam und mit Bausch und Bogen ausgetreten, hat also die Arbeit in diesen Arbeitsgruppen niedergelegt. Da stellt sich mir die Frage, ob Sie jetzt von vorne anfangen können. Wenn Sie das nicht machen wollen, wenn Sie also auf dem, was Frau Lieberknecht in ihrer Zeit als Ministerin für Soziales, Familie und Gesundheit angefangen hat, aufbauen wollen, dann begrüßen wir das durchaus. Denn es bringt nichts, hier weitere akademische Debatten zu führen, sondern es kommt ganz massiv darauf an, die vielen Ansätze, die es zum Thema Kinderarmut gibt, endlich umzusetzen. Das ist der wichtigste Punkt in der ganzen Debatte, dass wir eine finanzielle Umstrukturierung der ganzen Familienförderleistung brauchen, um Kinderarmut in der Tat zu bekämpfen. Das ist für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Anspruch gewesen, einen Änderungsantrag zu unserem Antrag einzureichen. Sie haben sicher noch einmal geschaut, wie wir das Thema in den letzten Jahren behandelt haben. Unser Anspruch ist es auch, dass die UN-Kinderrechtskonvention ohne irgendwelche Vorbehaltserklärungen für alle Kinder

umfassend gilt. Von daher haben Sie uns da ganz auf Ihrer Seite bzw. wir freuen uns, dass Sie uns beigesprungen sind, je nachdem. Das ist also eine ganz wichtige Sache.

Zu all denjenigen in der CDU und in der FDP, die jetzt die Diskussion anstoßen, dass die Regelsätze eigentlich gekürzt werden sollen - Herr Westerwelle hat ähnliche Geschichten ausgeführt, aber auch aus der CDU-Richtung kamen ja solche …

(Zwischenruf Abg. Untermann, FDP: Was soll diese Unterstellung?)

(Zwischenruf Abg. Kemmerich, FDP: Zu- hören ist schwierig.)

Ja, ich kann es noch einmal vorlesen. Also: FDPSteuerexperte Hermann Otto Solms sagte, bei den Hartz-IV-Leistungen seien insgesamt sogar Einsparmöglichkeiten vorhanden.

(Unruhe DIE LINKE)

Das hat er im Handelsblatt gesagt. Das lässt darauf schließen, dass er die Regelsätze am Ende kürzen möchte. All denjenigen, die genau diese Rhetorik auch bedienen, möchte ich sagen, schlimmer als blind sein ist, an dieser Stelle nicht sehen zu wollen. Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Danke, Herr Abgeordneter Bärwolff. Gibt es weitere Wortmeldungen. Das sehe ich. Herr Abgeordneter, bitte.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren. Herr Bärwolff, Sie haben mich jetzt aus dem einfachen Grund noch mal nach vorn getrieben, weil wir die Debatte bisher versucht haben, sehr sachlich zu halten, sowohl in der letzten Legislatur als auch jetzt. Das haben auch Ihre Kollegen ziemlich deutlich gemacht. Wir waren uns im ganzen Hause einig, dass die Regelsätze noch Veränderungen bedürfen. Völlig d’accord, das ist in Ordnung. Was den Paradigmenwechsel zu einer generellen Kindergrundsicherung anbelangt, habe ich dazu eine etwas andere Auffassung. Man kann natürlich darüber reden. Ich habe heute auch gelernt, was eine grüne Kindergrundsicherung bedeutet. Sehen Sie es mir nach, ich habe es noch nicht gelesen. Ich weiß, dass es eine rot-grüne bedingungslose Grundsicherung gibt.