Protokoll der Sitzung vom 18.11.2011

(Beifall DIE LINKE, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN)

Danke, Frau Abgeordnete. Die Landesregierung erstattet einen Sofortbericht zu Nummer 1 des Antrags. Für die Landesregierung erteile ich Herrn Minister Carius das Wort.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, die im Antrag genannten Empfehlungen des Europäischen Parlaments, in Wohngebieten und auf allen einspurigen Straßen in Stadtgebieten, die keine getrennte Fahrbahn für Radfahrer haben, generell eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h vorzuschreiben, ist einer von über 100 Punkten im Bericht des Europäischen Parlaments über die europäische Straßenverkehrssicherheit. In diesem Gesamtkontext ist diese Empfehlung auch zu sehen. Übergeordnetes Ziel des Europäischen Parlaments ist dabei „Vision Zero“, also null Verkehrstote. Ein Ziel, dem wir uns sicher alle verschreiben. Das Ziel einer weiteren Reduzierung der Unfalltoten ist natürlich auch ein Kernanliegen der Verkehrssicherheitsarbeit in Thüringen. Ich glaube, dass der Erfolg uns insgesamt recht gibt.

Wir können feststellen, dass Europas Straßen in den letzten Jahren bereits erheblich sicherer geworden sind. Zwischen 2001 und 2009 ist die Anzahl der Verkehrstoten im Straßenverkehr innerhalb der EU um 36 Prozent gesunken. Dennoch gilt, jeder Mensch, der bei einem Verkehrsunfall getötet oder verletzt wird, ist einer zuviel. Ansätze für Verbesserungen gibt es hier sicher viele. Ich denke zum Beispiel an die fortlaufende Anpassung und Verbesserung der Verkehrserziehung und der Qualität der Fahrschulausbildung. Dafür gibt es auch zahlreiche praktische Beispiele in Thüringen.

(Beifall CDU, SPD)

Ich denke auch an verbesserte technische Sicherheitsmaßnahmen für Lkw und Pkw. Sie können es sich in den Gefahrensicherheitszentren anschauen, die Wirkungen sind enorm. Das vermag man manchmal auf den ersten Blick gar nicht so zu sehen. Ich denke an die Entwicklung intelligenter Fahrassistenzsysteme sowie Verbesserung bei Notfalldiensten und natürlich auch der Ersten Hilfe. Die Einführung einer generellen Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h halte ich dagegen nicht für zielführend.

(Beifall CDU)

Ein solches Vorhaben wäre auf Landesebene auch gar nicht umsetzbar, weil es hierfür eine Änderung von Bundesrecht der Straßenverkehrsordnung be

(Vizepräsident Gentzel)

dürfte. Im Übrigen sehe ich für ein generelles Tempolimit auch keine Notwendigkeit,

(Beifall CDU, FDP)

denn schon heute können die Straßenverkehrsbehörden unter den Voraussetzungen des § 45 der Straßenverkehrsordnung großräumige Tempo30-Zonen oder Tempo-30-Beschränkungen für einzelne Strecken ausweisen. Wo das tatsächlich auf Landesebene eine Rolle spielt, ist eigentlich eher in den Stadtstaaten, da ist aber die Verfassungslage insgesamt eine andere. Es handelt sich hier um Einzelfallentscheidungen, die von den zuständigen Straßenverkehrsbehörden vor Ort nach gründlicher Abwägung der Vor- und Nachteile getroffen werden. Dabei spielt selbstverständlich die Frage, ob die Beschränkung zu einer Erhöhung der Verkehrssicherheit beitragen kann, eine zentrale Rolle.

Ich halte diese Praxis für sachgerecht, weil die Entscheidungsträger über die erforderlichen Ortskenntnisse und Erfahrungen aus der täglichen Praxis verfügen. Wenn ich von Erfahrungen aus der täglichen Praxis berichte, dann geht es hier vor allen Dingen um die Frage: Welche Erfahrungen haben wir denn mit generellen Tempolimits? Die zeigen nämlich, dass die Akzeptanz eines generellen Tempolimits deutlich niedriger ist, als wenn der Autofahrer für eine Geschwindigkeitsbeschränkung einen klaren Grund erkennen könnte, etwa vor Schulen, Kindergärten oder Seniorenheimen. Gleiches gilt, meine Damen und Herren, auch für Autobahnen. Jetzt will ich nicht von persönlichen Erfahrungen der Mitglieder dieses Hauses berichten, aber auch hier halte ich eine Geschwindigkeitsbegrenzung generell nicht für sinnvoll.

(Beifall CDU)

Danke. Im Vergleich zu den Landes- und Innerortsstraßen handelt es sich hier um gut ausgebaute Straßen, die aufgrund ihrer Anlage und Gestaltung darauf ausgelegt sind, dass hohe Geschwindigkeiten darauf gefahren werden können. Das gilt selbstverständlich nur dann, wenn die Witterungsvoraussetzungen es zulassen. Dort, wo es zu Unfällen oder Gefährdungen kommt, reagieren wir umgehend. Unfallschwerpunkte werden anhand des konkreten Unfallgeschehens erkannt, statistisch erfasst und ausgewertet. Sicherlich mag man hier über die einzelnen Auswertungs- und Erfassungsmethoden streiten und diskutieren können, aber generell gilt, dass die Auswertung dann über die örtlichen Unfallkommissionen erfolgt, in denen sowohl Polizei als auch Straßenverkehrs- und Straßenbaubehörden vertreten sind. Dort, wo es nach Auffassung dieser Fachleute erforderlich ist, werden dann konkrete Maßnahmen zur Beseitigung von Unfallschwerpunkten festgelegt. Diese Maßnahmen umfassen im Grunde einen breiten Strauß von polizeilicher Verkehrsüberwachung und Verkehrskontrollmaßnahmen oder der Anordnung von Geschwindig

keitsbegrenzungen bis hin zu baulichen Veränderungen.

Ein generelles Tempolimit hingegen ist hier nicht die richtige Antwort. Viel sinnvoller ist es, neben abschnittsbezogenen Geschwindigkeitsbegrenzungen gezielt Verkehrsbeeinflussungsanlagen aufzustellen. Das sind Anlagen, die mittels eines Computerprogramms die Straßenverhältnisse erfassen und entsprechend regulieren. Diese Anlagen messen den Verkehrsfluss, die Verkehrsdichte, die Oberflächentemperatur der Autobahn und auch in diesen Tagen des nebligen Novembers die Sichtweite. Wenn die Straße nass oder gar vereist und die Sicht schlecht ist, setzt die Anlage über angeschlossene Schilder die Höchstgeschwindigkeit automatisch herunter. Selbst ein Stau entgeht dem Computerprogramm nicht. In einem solchen Fall setzt das Programm die Geschwindigkeit automatisch herunter, sodass die Autos bereits mit reduzierter Geschwindigkeit in das Stauende, an das Stauende herangeführt werden. Ja, sie fahren nicht hinein, sondern werden herangeführt. Es ist immer gut, wenn man sich direkt an den Bericht hält.

(Heiterkeit CDU)

Eine zeitlich begrenzte Freigabe des Standstreifens kommt zum Beispiel auch in Betracht. Ich möchte auch auf einen weiteren Punkt hinweisen. Ein großer Teil der Autobahnen in Deutschland ist ohnehin bereits geschwindigkeitsbegrenzt. 27 Prozent sind mit einer dauerhaft gültigen Geschwindigkeitsbegrenzung versehen, also einer Rund-um-die-UhrGeschwindigkeitsbegrenzung. Bei 3 Prozent ist die Geschwindigkeit zu bestimmten Uhrzeiten, also beispielsweise zwischen 22.00 und 6.00 Uhr, oder bei nasser Fahrbahn eingeschränkt. 4 Prozent befinden sich im Geltungsbereich einer Verkehrsbeeinflussungsanlage, die unter ungünstigen Bedingungen auch ein Tempolimit anzeigt. Hinzu kommen natürlich die Langzeitbaustellen, die in der Summe mit einem Anteil von ca. 5 Prozent am Gesamtnetz der Autobahnen zu Buche schlagen.

Herr Minister, es gibt jetzt zwei Mal den Wunsch auf eine Zwischenfrage. Der Erste war der Abgeordnete Kuschel und der Zweite der Abgeordnete Adams.

Selbstverständlich.

Selbstverständlich, Herr Abgeordneter Kuschel.

(Minister Carius)

Danke, Herr Präsident. Danke, Herr Minister. Herr Minister, kann es sein, dass die Reduzierung der Instandsetzungs- und Sanierungsmittel für die Landesstraßen den Beitrag der Landesregierung zu einem flächendeckenden Tempolimit darstellt?

(Zwischenruf Abg. Mohring, CDU: Die Frage erschließt sich doch von selbst.)

Die Antwort hierauf ergibt sich von selbst. Aber in der Sache ist das kein beabsichtigter Beitrag der Landesregierung, weil sie natürlich weiß, dass verkehrssichere Straßen, also Straßen ohne Schlaglöcher, die Verkehrssicherheit deutlich erhöhen, sodass wir dann keine Tempolimits brauchen. Die Fahrer sind natürlich sonst auch darauf hinzuweisen, dass sie sich verkehrsangemessen verhalten müssen. Das machen wir auch gelegentlich. Wenn das eine oder andere Schlagloch da ist, im Übrigen verfüllen wir diese alle, müssen sie ihre Geschwindigkeit anpassen. Da haben Sie insofern recht.

(Zwischenruf Abg. Mohring, CDU: Der Minis- ter verfüllt noch selbst Schlaglöcher.)

Wie bitte? Ich verfülle selbst auch Schlaglöcher. Hier scheut die Landesregierung keine Mittel, würde ich an dieser Stelle noch einmal sagen.

(Beifall CDU)

Herr Abgeordneter Adams.

Vielen Dank, Herr Präsident. Herr Minister, zwei Fragen. Würden Sie mir zustimmen, dass die Heiterkeit zu diesem Tagesordnungspunkt in einem unwürdigen Kontrast zu den Verkehrstoten steht, die wir hier zur Begründung angeführt haben?

Die zweite Frage: Sie haben ausgeführt, dass die Gebietskörperschaften

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

(Unruhe CDU)

schon die Möglichkeiten haben, in Stadtgebieten großräumige 30er-Zonen auszuweisen. Würden Sie beurteilen, dass vor dem Hintergrund, dass Sie sich zum Beispiel bei den Radfahrern sehr um Verkehrssicherheit bemühen und eine Helmpflicht einführen wollen, die Kommunen ausreichend Gebrauch machen von der Möglichkeit, ausgedehnte Tempo-30-Zonen auszuweisen?

Zunächst zur allerersten Frage: Die Heiterkeit im Raum ist immer ein Grund zur Fröhlichkeit, ob die dann angemessen ist oder nicht. Ich glaube nicht, dass die Landesregierung über das Verhalten generell bewerten sollte, sondern wir sind immer gut damit gefahren, dass die Abgeordneten selbst entscheiden, wie sie auf Beiträge des Hauses reagieren.

(Beifall CDU, FDP)

Zur zweiten Frage: Selbstverständlich glaube ich, dass grundsätzlich die Kommunen hier sehr positive Erfahrungen gemacht haben. Aber auch hier zeigt sich bei den großräumigen Ausweisungen, insbesondere wenn Sie eine Ausweisung von Tempo 30 in Wohngebieten haben, dass die Ausweisung aus meiner Erfahrung dann besonders erfolgreich ist, wenn Sie die Ausweisung zum einen direkt vor Kindergärten machen, wenn Sie es vor Schulen machen oder auch Seniorenheimen oder anderen Einrichtungen oder aber dass die Einhaltung der 30-Zone dann besonders gut funktioniert, wenn die Straßenverhältnisse ein schnelleres Fahren überhaupt nicht zulassen. Sonst kann ich momentan nicht überall erkennen, dass sich die Verkehrsteilnehmer quer über alle parteipolitischen Überzeugungen hier besonders daran halten.

Ich glaube, die Kommunen haben erstens grundsätzlich ausreichend Gebrauch davon gemacht, das heißt, Einzelfälle will ich in der Sache nicht ausschließen. Zweitens glaube ich aber auch, dass die Erfahrungen momentan nicht zeigen, dass wir dieses Instrument noch deutlich stärker ausweiten müssten.

Ich darf jetzt zu meinem Bericht zurückkommen, Herr Präsident. Ich möchte auch auf einen weiteren Punkt hinweisen, welche Strecken hier unter einem Tempolimit stehen. Insgesamt sind laut einem Bericht der Bundesanstalt für Straßenwesen vom Januar 2010 rund 39 Prozent der bundesweiten Autobahnen bereits mit Geschwindigkeitsbeschränkungen versehen und dies aus gutem Grund. Durch die Möglichkeit einer individuellen Regelung des Tempolimits können wir zielgerichtet auf konkrete Gefährdungslagen angemessen reagieren. Das kann auch bedeuten, dass die Geschwindigkeit auf bestimmten Abschnitten deutlich unter der immer mal wieder geforderten 120 km/h-Grenze liegen kann. Die Einführung eines generellen Tempolimits lehnt die Landesregierung ab.

Lassen Sie mich am Ende noch etwas zu dem oft bemühten Argument der CO2-Reduzierung sagen. Selbstverständlich können niedrigere Geschwindigkeiten zu einer Reduzierung des CO2-Ausstoßes beitragen. Bei einer generellen Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h in Wohngebie

ten wäre dieser Effekt allerdings nur sehr gering. Das liegt daran, dass ca. 70 bis 80 Prozent der Schadstoffimmission auf den innerstädtischen Hauptverkehrsstraßen entstehen. Entscheidender ist aus meiner Sicht der technische Fortschritt bei der Entwicklung energieeffizienter Fahrzeuge. Dies dürfte der wohl wichtigste Beitrag zur signifikanten Reduktion des CO2-Ausstoßes sein. Gleiches gilt für die Potenziale bei der Reduzierung des Lärms.

Eines möchte ich aber auch sagen. Technischer Fortschritt allein ist nicht alles. Mindestens genauso wichtig ist das Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen.

(Beifall CDU)

Denn jeder Autofahrer kann natürlich durch sein persönliches Fahrverhalten und die Ausstattung seines Fahrzeugs unmittelbar Einfluss auf die von ihm verursachten Lärm- und CO2-Emissionen nehmen. Hier ist ein deutlich höheres Einsparpotenzial gegeben als durch ein generelles Tempolimit, das die Landesregierung ablehnt. Vielen Dank.

(Beifall CDU, SPD)

Danke, Herr Minister, für die Berichterstattung. Ich gehe jetzt zunächst erst einmal davon aus, dass alle Fraktionen die Beratung zum Sofortbericht wünschen, zumindest nach der mir vorliegenden Rednerliste. Kann ich das ableiten? Das wird mir bestätigt. Also eröffne ich auf Verlangen aller Fraktionen die Beratung zum Sofortbericht zu Nummer 1 des Antrags. Ich weise darauf hin, dass wir laut Geschäftsordnung doppelte Redezeit haben. Gleichzeitig eröffne ich die Aussprache zu den Nummern 2 und 3 des Antrags. Als Erste hat das Wort die Abgeordnete Lukin von der Fraktion DIE LINKE.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, das angesprochene Thema der Geschwindigkeitsbegrenzung berührt eine der Kernaufgaben der Verkehrsplanung und -entwicklung. Verkehrslärm, das wissen wir alle, gehört zu den größten Umweltproblemen der Gegenwart. HerzKreislauf-Erkrankungen, ein erhöhtes Krebsrisiko und Schlafstörungen in verkehrslärmbelasteten Gebieten sind nur einige der nachgewiesenen Gesundheitsschäden. Als kritisch gelten laut WHO bereits Mittelungspegel ab 50 Dezibel. Auch deshalb, es wurde bereits angesprochen, hat die EU 2002 in ihrer Umgebungsrichtlinie die Kommunen zur Ausfertigung von Lärmkarten und Lärmaktionsplänen verpflichtet.

Dieses sehr aktuelle Thema haben wir auf Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN mehrfach im Ausschuss für Bau, Landesentwick

lung und Verkehr besprochen. So hat unsere Fraktion die Lärmbelastung der angrenzenden Ortschaften bei der Umverlegung der A 4 in den Hörselbergen auf die Tagesordnung gesetzt und den Lärmschutz auf Thüringer Straßen im Zusammenhang mit dem geplanten Ausbau des Hermsdorfer Kreuzes im Ausschuss ebenfalls thematisiert. Dort erhielten wir, ich erinnere daran, einen ersten Überblick über besonders lärmbelastete Gebiete im Freistaat. Im Ergebnis zeichnete sich besonders an den Autobahnen eine zunehmende und größere Belastung für die anliegenden Orte ab. 82 Gemeinden wurden in Lärmkarten erfasst, 30 davon stellten noch Lärmaktionspläne auf.

Sicher ist hier ein ganzes Bündel von Maßnahmen gemeint, zum Beispiel eine Verstärkung des öffentlichen Nahverkehrs, des Radwegebaus, eine Verkehrsberuhigung oder auch Fahrbahnsanierung. Allerdings möchte ich sagen, dass natürlich auch die Reduzierung des Tempolimits gerade in Wohngebieten eine immer größere Rolle spielt. Ich möchte stichpunktartig noch einige Beispiele ansprechen, zum Beispiel das Hermsdorfer Kreuz. Ich hatte es vorhin schon erwähnt, es ist klar, dass mit dem zunehmenden Ausbau, gerade nachts, die Grenzimmissionswerte in den Wohngebieten Kirchenholzsiedlung, Mendelssohnstraße und Uthmannstraße überschritten werden und durch aktive Lärmschutzmaßnahmen nicht eingehalten werden können. Auch die Tageswerte in Hermsdorf sind sehr hoch. Nicht zuletzt deswegen wird die Stadt wieder den Klageweg beschreiten. Sie hat es bereits ein Mal getan.