Protokoll der Sitzung vom 31.08.2005

Drucksache 4/1751

Die Aussprache wird mit dem Beitrag der Abgeordneten Große von der Linkspartei.PDS eröffnet. Bitte, Frau Große, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren Abgeordnete! Ich möchte an dieser Stelle noch einmal begründen, warum wir gegen die Ihnen vorliegende Beschlussempfehlung mit der Mehrheit der Mitglieder des Ausschusses für Bildung, Jugend und Sport gestimmt haben. Wir räumen durchaus ein - das haben wir bereits bei der Begründung unseres Antrags getan -,

dass die Landesregierung in den letzten Jahren auf dem Gebiet der sonderpädagogischen Förderung einiges auf den Weg gebracht hat. Es gibt diverse Maßnahmen. Ich möchte erinnern an die Verbesserung der Grundlagen für die frühzeitige sonderpädagogische Förderung durch die neue Sonderpädagogikverordnung und die Verwaltungsvorschrift Feststellungsverfahren, die nach dem Dialog mit den entsprechenden Experten im letzten Moment glücklicherweise noch qualifiziert wurde. Das sind sinnvolle Maßnahmen, ein ganzheitliches Konzept aber ist es noch nicht. Von daher besteht die Gefahr, dass diese Einzelmaßnahmen in ihrer Wirkungsweise möglicherweise stark eingeschränkt bleiben oder ihr Ziel sogar gänzlich verfehlen.

Es gibt noch immer genügend Schwachpunkte im Bereich der sonderpädagogischen Förderung, die stärkerer Beachtung bedürfen. Ich erinnere an den gesamten Komplex der Frühförderung - wir werden morgen darüber noch einmal beraten oder die Überforderung der sonderpädagogischen Förder- und Beratungsstellen angesichts der Diskrepanz zwischen dem ungeheuer breiten Aufgabenspektrum und der ungenügenden personellen Ausstattung. Dies betrifft auch den Bereich der Schulpsychologen, die den Hauptteil ihrer Arbeitszeit zur Diagnostik der Teilleistungsstörung Legasthenie benötigen und demzufolge für andere Förderbereiche nur unzureichend beansprucht werden können.

Am problematischsten erscheinen mir jedoch im Moment die Ausbildung von Sonderpädagogen, die entsprechende Fortbildung und die Ausstattung der Schulen mit sonderpädagogischem Personal. Nur etwas mehr als 50 % der Lehrkräfte an Förderschulen und nur 30 % der Lehrkräfte im gemeinsamen Unterricht sind entsprechend ausgebildet. Das wird sich auch nicht dadurch ändern, dass wir einige allgemeine Förderschulen zumindest im Bereich der 1. und 2. Klasse durch die flexible Eingangsphase und die neue Verordnung reduzieren können.

Wir sind durchaus Verfechter des Prinzips der Integration, also so viel Integration wie möglich, so wenig Förderschule wie nötig. Doch das kann nur bei entsprechenden personellen und finanziellen Ressourcen funktionieren, und die sind in Brandenburg nicht gegeben. Insofern kann ich nur Gesagtes wiederholen: Es fehlen Sonderpädagogen, es fehlt eine systematische Weiterbildung für Regelschullehrer, es fehlen Fortbildungsangebote für Lehrkräfte im Integrationsunterricht und es fehlt deren zeitliche Entlastung für die Zusammenarbeit mit den Sonderpädagogen. Es fehlt die kontinuierliche Präsenz von Sonderpädagogen in Klassen mit gemeinsamem Unterricht. Es gibt ganz offensichtlich noch nicht einmal ein quantitatives Konzept der sonderpädagogischen Begleitung des gemeinsamen Unterrichts, von qualitativen Parametern ganz zu schweigen.

Nun werden Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsparteien, uns sicher wieder entgegenhalten, dass an all diesen Problemen ja gearbeitet und daher kein Gesamtkonzept gebraucht wird. Ich darf Sie an dieser Stelle an Ihren eigenen Antrag erinnern, den Sie in der 17. Landtagssitzung kurz vor der Sommerpause eingebracht haben und der da lautete „Konzept zur Qualitätsverbesserung der Kindertagesbetreuung“. Vom Anspruch und von der Zielsetzung her sind beide Anträge durchaus vergleichbar, sie haben nur einen Unterschied: Der eine stammt von den Koalitionsparteien, der andere von der Opposition, und dementsprechend wurde mit ihnen verfahren. Während Ihr Antrag - ich zitiere Herrn Minister Rupprecht

„eine gute Gelegenheit bot, die vielfältigen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Vorhaben in ihrem Gesamtzusammenhang darzustellen“, ist die Reaktion auf unseren Antrag letztendlich ablehnend.

Damit haben Sie eine weitere Chance zur umfassenden Verbesserung der sonderpädagogischen Förderung verpasst. Wir hingegen müssen uns damit trösten, dass unser Antrag zwar abgelehnt wurde, aber dennoch nicht ganz umsonst war. Er hat immerhin zu einer qualitativ hochwertigen Anhörung im Ausschuss geführt, bei der eine Reihe von Experten aus ihrem jeweiligen Erfahrungsbereich auf die aktuellen Probleme aufmerksam gemacht und auf diese Weise hoffentlich Ihr Interesse geweckt oder Sie zumindest für die sonderpädagogische Förderung etwas sensibilisiert haben. Dies war umso wichtiger, als es sich um eine Klientel handelt, die sich selbst oft nur schwer vertreten kann.

Sollten Sie, verehrte Damen und Herren der Koalition, bei Ihrer Ablehnung bleiben, werden wir Sie dennoch nicht aus Ihrer Verantwortung entlassen. Auch Kinder mit besonderem Förderbedarf sind Kinder dieses Landes, die besonders behütet und gefördert werden müssen.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Für die Fraktion der SPD spricht Frau Abgeordnete Siebke.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei dem Antrag der PDS-Fraktion vom Januar dieses Jahres, ein Konzept zur sonderpädagogischen Förderung im Land Brandenburg zu erarbeiten, haben wir dafür plädiert, diesen Antrag in den Ausschuss zu überweisen. Es gibt insbesondere zwei Argumente, weshalb wir der Meinung waren, dies zu tun.

Erstens: Es fällt auf, dass es im Land Brandenburg sinkende Schülerzahlen gibt. Aber es gibt keine Abnahme der Zahl der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. In einigen Bereichen ist sogar ein Anstieg zu verzeichnen.

Zweitens: Unter diesem Gesichtspunkt war es auch richtig, diesen Antrag zum Anlass zu nehmen, die Maßnahmen für diese wichtige Schülergruppe auf den Prüfstand zu stellen, um eventuell, wenn etwas fehlt, entsprechende Schlussfolgerungen ziehen zu können.

Ich meine, dass der Ausschuss in den vergangenen Monaten diesem Anspruch gerecht geworden ist. Die Landesregierung stellte im Ausschuss Fördermöglichkeiten und die Richtung ihrer Entwicklung ausführlich dar und wir haben - Frau Große hat es bereits gesagt - eine intensive Anhörung zu dieser Problematik durchgeführt, wo Wissenschaftler und Praktiker zu Wort kamen und unter unterschiedlichen Gesichtspunkten diese Problematik betrachtet werden konnte. Nach weiterer Beratung kamen wir zu dem Schluss, diesen Antrag abzulehnen, weil wir der Meinung sind, dass alle Maßnahmen und Möglichkeiten zusammengenommen richtig sind bzw. in die richtige Richtung weisen. Defizite wurden benannt, aber es wurden auch Lösungsansätze dargelegt.

Lassen Sie mich auf einige Bereiche explizit eingehen. Es ist bekannt, dass sich die SPD-Fraktion für Integration ausspricht, was natürlich besonders auch für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf gilt. So ist es auch im Schulgesetz des Landes Brandenburg formuliert. Bestärkt hat uns in dieser Richtung die Studie von Prof. Wocken, die zu dem Ergebnis kommt, dass Schüler leistungsschwächer werden, je länger sie die allgemeine Förderschule besuchen, und demzufolge dort auch nicht die Abschlüsse erlangen, die ihnen einen Weg in die berufliche Bildung bieten.

Lassen Sie mich an dieser Stelle, um nicht falsch verstanden zu werden, etwas zu den Förderschulen im Land Brandenburg sagen. Ich bin nicht der Meinung, dass wir generell keine Förderschulen im Land Brandenburg brauchen, auch nicht die allgemeinen Förderschulen. Sie werden gebraucht für eine ganz bestimmte Schülerklientel und sie werden, glaube ich, auch noch für viele Jahre diese Aufgabe übernehmen müssen. Aber es ist trotzdem berechtigt, genauer hinzugucken, ob Integration nicht noch besser und vertiefter durchgeführt werden kann, als es zurzeit der Fall ist.

Richtig ist die Qualifizierung des Feststellungsverfahrens, das insbesondere Schülern mit dem Förderschwerpunkt Lernen, Sprache sowie emotionale und soziale Entwicklung die Chance vergrößert, in der Grundschule diagnostiziert und auch entsprechend gefördert zu werden. Ziel ist es also, den Besuch der allgemeinen Förderschule zu vermeiden. Das Ziel ist Prävention.

Ebenso ist der Ansatz der Prävention im Kita-Alter wie vorgesehen richtig. Integration, also die optimale Förderung jedes Kindes entsprechend seinem Förderbedarf, gelingt aber nur da stimme ich Frau Große ausdrücklich zu -, wenn ausreichend sonderpädagogischer Fachverstand an den Grund- und weiterführenden Schulen vorhanden ist. Für die Förderschulen gilt das natürlich explizit.

Hier haben wir einige Ansätze, die in diese Richtung gehen. Richtig finde ich folgende: die zunehmend zentrale Stellung der sonderpädagogischen Förder- und Beratungsstellen, die in diesem Verfahren zusammen mit qualifizierten Lehrerinnen und Lehrern die Diagnose und insbesondere die Förderung in der Eingangsphase der Grundschule vornehmen sollen.

Richtig ist das Ziel, Lehrer an Förderschulen, die durch die fortschreitende Integration nicht erforderlich sind, besonders in den Klassen 1 und 2 an Grundschulen einzusetzen, um Fachverstand dorthin zu bringen.

Es ist auch richtig, ein qualifiziertes Fort- und Weiterbildungsprogramm im Zusammenhang mit der Sonderpädagogik-Verordnung durchzuführen. Meine Erfahrung ist - das will ich zum Schluss sagen -, dass Integration auf diesem Gebiet immer dann funktioniert, wenn nicht nur Lehrer mit sonderpädagogischem Sachverstand für Stunden in Schulen kommen, um dort die entsprechenden Schüler zu unterrichten, sondern wenn sie auch Zeit haben, den Lehrern an den Schulen mit Rat und Tat zur Verfügung zu stehen, und zwar nicht nur gerade mal in der Pause, sondern dann, wenn es nötig ist. Hier gäbe es im Land Brandenburg - das gebe ich zu - noch einiges zu leisten.

Deswegen haben wir vereinbart, uns dieses neue Verfahren nach zwei Jahren anzuschauen und zu prüfen, ob es funktioniert, ob die Kinder unter diesen Bedingungen entsprechend

gefördert werden können und ob die Lehrer entsprechend ausgebildet sind.

Frau Abgeordnete, ich gebe zu, dass Ihre Redezeit um eine Minute überzogen worden ist.

Damit ist es auch schon getan. Ich danke Ihnen für die Toleranz. - Danke.

(Beifall bei der SPD)

Vielen Dank, Frau Abgeordnete Siebke. - Das Wort erhält die DVU-Fraktion. Die Abgeordnete Fechner spricht.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann es kurz machen. Ich bin der Meinung, dass Frau Große sehr ausführlich dargelegt hat, warum der Forderung nach einem Konzept zur sonderpädagogischen Förderung nicht nachgekommen worden ist. Ich erspare es mir, das alles zu wiederholen.

Auch die DVU-Fraktion wird die Beschlussempfehlung des Ausschusses ablehnen.

(Beifall bei der DVU)

Vielen Dank. Das Wort erhält der Abgeordnete Senftleben von der CDU-Fraktion.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Man könnte fast vermuten, aller guten Dinge sind drei, denn genau dreimal hat sich der Ausschuss mit diesem Thema befasst, das heute auch den Landtag beschäftigt. Der Wunsch der Linkspartei - als der Antrag eingebracht wurde, hieß sie noch PDS -, eine Gesamtbehandlung des Themas zu erbitten, ist vielleicht verständlich. Aber ich glaube, wie schon Frau Kollegin Siebke gesagt hat, dass Koalition und Regierung bereits vor dieser Aufforderung aktiv geworden sind, um einen Weg zu beschreiten, der diesem Thema gerecht wird.

Frau Große, Sie haben diesen Antrag trotz Ihrer Kleinen Anfrage vom Februar dieses Jahres gestellt, auf welche Sie von der Landesregierung als Antwort bekommen haben, dass wir erstens Veränderungen im Schulgesetz planen, die diesen Bereich betreffen, dass wir zweitens Veränderungen im Bereich des Feststellungs- und Förderverfahrens vornehmen wollen, zum Schuljahr 2005/2006 bereits eingeführt, und dass wir drittens feststellen können - das festzuhalten ist wichtig -: Wir haben eine gute Struktur von allgemeinen Förderschulen und von Förderschulen für geistig Behinderte im Land Brandenburg.

Wir müssen aber auch feststellen - auch das ist eben gesagt worden -: Die Zahl der verhaltensauffälligen Kinder ist in den letzten Jahren um 60 % gestiegen. In der Anhörung ist von einzelnen Beteiligten auch gesagt worden: Das Problem von Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf in der emotionalen und sozialen Entwicklung ist eines der zentralen Probleme für die kommende Zeit und es ist in diesem Bereich ein hoher Anstieg, nämlich auf ca. 12 bis 20 % festzustellen.

Herr Senftleben, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Ja, bitte.

Bitte, Frau Weber.

Herr Senftleben, ich möchte Sie fragen: Sind Sie der Meinung, dass die Veränderungen im Förderausschussverfahren und die neue Zuwendung der Aufgabenfülle an sonderpädagogische Förder- und Beratungsstellen durch die vorhandene Kraft der Sonderpädagogen wirklich so realisiert werden können, dass sie dem Anspruch, den wir an sie stellen, Genüge tun können?

Nichts ist so perfekt, dass es nicht noch besser werden kann. Aber wenn Sie mir bis zum Schluss meiner Rede zugehört hätten, hätten Sie festgestellt, dass ich auf diese Frage eingegangen bin, also auch eingehen werde.

Zuerst aber noch einmal zu der Anhörung vom 2. Juni dieses Jahres. Die Anhörung war hochklassig, und zwar nicht deshalb, weil der Antrag so gut war, sondern weil wir gute Anzuhörende hatten - das will ich an dieser Stelle auch festgehalten haben -, die dazu beitrugen, gemeinsam die inhaltlichen Punkte aufzugreifen.

Festzustellen ist, dass es deutliche Kritik an den Ergebnissen und Schlussfolgerungen des Herrn Dr. Wocken gab. Das sollten wir an dieser Stelle betonen und es sollte nachdenklich stimmen.

Wir müssen festhalten, was die Anhörung - darüber gibt es ein Protokoll - am Ende gebracht hat.

Erstens: Die Anzuhörenden haben gesagt, dass es wichtiger sei, eine Debatte über Inhalt und Standards anstatt ständige Strukturdebatten zu führen.

Zweitens: Sie haben darauf hingewiesen, dass es ungenügende Voraussetzungen gibt, was das Fachpersonal mit entsprechender Ausbildung angeht, und dass zum Beispiel nicht allein Grundschullehrer die Integration leisten können. Das ist eben auch so beschrieben worden. Deswegen ist vielleicht integrative Unterrichtung vorstellbar, aber mit den aktuellen Zahlen nicht umsetzbar.

Drittens ist gesagt worden: Wir haben einen Förderschüleranteil von ca. 4,4 %. Dieser Anteil ist nicht allein auf Verordnungs- oder Gesetzeswege absenkbar, sondern nur mit inhaltlichen Entscheidungen, die wir auch voranbringen wollen und werden. Herr Wocken sagte auch, dass das Wohlbefinden der Schüler in den Förderschulen besonders zu loben sei, denn gerade die soziale Situation in den Förderschulen ist als positiv zu bewerten.

Für die Union ergeben sich daraus mehrere Schlussfolgerungen, die man festhalten muss.

Wir haben aktuell 58 Förderschulen, deren Struktur wir auch beibehalten wollen, und haben 8 000 Schülerinnen und Schüler, also eine nicht zu unterschätzende Schülerschaft in diesem Bereich. Deswegen wollen wir, dass der Vorschlag, die Klassen 1 und 2 generell abzuschaffen, so nicht zum Tragen kommt, denn es geht darum, eine frühzeitige Förderung in den Kindergärten zu realisieren, aber auch darum, Familien Hilfe anzubieten, um Unterstützung in der Erziehung zu bekommen, denn die Anzuhörenden haben ausgesagt, dass ein Förderbedarf in der Regel drei bis vier Jahre zu spät entdeckt wird. Also geht es darum, Förderbedarf eher zu entdecken bzw. zu erkennen. Das, denke ich, ist auch in den Kindergärten, in den Kindereinrichtungen möglich. Deswegen sind wir nicht für die generelle Abschaffung der Klassen 1 und 2 an den Förderschulen.