Protokoll der Sitzung vom 24.05.2007

Lieber Kollege Rissmann! Beide Zwecke, das wissen Sie, sind vom Gesetz nicht vorgesehen. Untersuchungshaft hat einen einzigen Zweck: zu verhindern, dass die Justiz vor Gericht ohne ihren Angeklagten oder ohne ihre Anklage dasteht. Die Untersuchungshaft wird angeordnet – und zwar von einem Richter und nicht von einem Staatsanwalt –, wenn die Gefahr besteht, dass der Beschuldigte weglaufen könnte oder dass er die Spuren seiner Tat verwischt. Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Nehmen wir mal an, der Beschuldigte wohnt noch bei „Mutti“, um das Wort zu verwenden, so dass keine Gefahr besteht, dass er wegläuft, und die Umstände der Tat sind auch völlig klar. Dann darf der Haftrichter noch in einem dritten Fall Untersuchungshaft verhängen, wenn er nämlich genau weiß, dass dieser spezielle Täter sich keine zwei Stunden am Riemen reißen kann und immer wieder über seine Mitmenschen herfällt. Dann kann er in U-Haft genommen werden, weil er ein Wiederholungstäter ist. U-Haft zu Erziehungszwecken oder U-Haft, um die Strafvollzugsanstalten zu entlasten, gibt es nicht. Das wissen Sie ganz genau, Herr Rissmann.

Trotzdem ist es für uns alle wichtig, dass wir uns noch einmal klarmachen, was U-Haft eigentlich ist. Denn jetzt muss ich Sie, Herr Rissmann, das fragen, was ich auch die Berliner Staatsanwälte fragen würde: Was soll eine Justizsenatorin sagen, wenn Sie solche Äußerungen eines ihrer Staatsanwälte zur Kenntnis nehmen muss? – Aus Sicht meiner Fraktion und aus meiner Sicht gibt es nur eine einzige Reaktion, und das ist ein glasklarer Widerspruch.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion – Beifall von Benedikt Lux (Grüne) – Zuruf von Dr. Friedbert Pflüger (CDU)]

Gisela von der Aue hat öffentlich deutlich gemacht, dass in Berlin U-Haft nicht rechtswidrig verhängt wird. Damit hat sie im besten Sinne ihre Pflicht getan. Wer behauptet, ausgerechnet die Senatorin hätte einen falschen Eindruck erzeugt, der vertauscht Ursache und Wirkung. Gisela von

der Aue musste sich zwingend, unmissverständlich und öffentlich von Herrn Reusch und seinen Äußerungen distanzieren. Über die Rechtmäßigkeit der U-Haft in Berlin darf kein Zweifel aufkommen. Was Sie und Ihre Fraktion aber machen, hat damit gar nichts zu tun. Sie konstruieren – Frau Seibeld hat es auch in ihrer Begründung der Aktualität getan – einen Gegensatz zwischen der Senatorin und der Intensivtäterabteilung, die von Herrn Reusch geleitet wird. Davon kann überhaupt keine Rede sein.

[Gelächter von Benedikt Lux (Grüne)]

Die Intensivtäterabteilung ist entwickelt worden, um jugendliche Mehrfachtäter effektiver zu verfolgen. Sie hat die Aufgabe, junge Männer und manchmal auch junge Frauen hinter Gitter zu bringen, die sich von den üblichen Verfahren des Strafrechts nicht beeindrucken lassen. Diese Staatsanwältinnen und Staatsanwälte nehmen sich ganz gezielt und in Einzelbetreuung Jugendliche vor, die mehr als zehn schwere Straftaten begangen haben. Das Ziel ist eine Haftstrafe. Wir wollen, dass diese Jugendlichen eine echte Auszeit bekommen, weil wir damit erstens mögliche Opfer vor weiteren Übergriffen schützen wollen und weil wir zweitens diese Jugendlichen so schnell wie möglich aus ihrem Umfeld herausholen wollen und in der Strafhaft erzieherisch auf sie einwirken wollen, so wie es das Jugendstrafrecht auch vorsieht.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Diese Intensivtäterabteilung macht ihre Arbeit sehr sehr gut. Seit es sie gibt, haben ihre Staatsanwälte fast 2 000 Anklagen erhoben. Hunderte Intensivtäter haben lange Haftstrafen erhalten, nur etwa die Hälfte von Ihnen – und das ist das Spektakuläre – ist nach ihrer Entlassung rückfällig geworden. Das ist ein Erziehungserfolg, den gerade bei diesen Tätern kaum jemand für möglich gehalten hat. Die vom rot-roten Senat entwickelte Intensivtäterrichtlinie ist ein bundesweit beachteter Erfolg.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Den lassen wir uns nicht schlechtreden, und wir lassen uns auch von der CDU nicht einreden, dass diese Koalition die Arbeit der Intensivtäterabteilung nicht im notwendigen Maße unterstützt, im Gegenteil. Die Arbeit dieser Abteilung hat auch innerhalb der Staatsanwaltschaft Denkprozesse ausgelöst, die wir fördern und unterstützen wollen. Es muss uns doch nachdenklich machen, dass wir zum ersten Mal in der Geschichte des Berliner Strafvollzugs so viele Jugendliche in Haft haben, dass der Platz in der Jugendstrafanstalt nicht mehr ausreicht.

[Zuruf von Benedikt Lux (Grüne)]

Da können wir uns doch nicht zurücklehnen und sagen, prima, dass wir eine Intensivtäterabteilung erfunden haben. Vielmehr müssen wir uns ganz intensiv Gedanken machen, Mittel und Wege diskutieren, wie wir verhindern, dass immer mehr Jugendliche Intensivtäter werden. Aus diesem Grund ist aus der Staatsanwaltschaft heraus ein Konzept für sogenannte Schwellentäter entwickelt worden. Da geht es um Jugendliche, die auf ihrer schiefen Bahn noch nicht ganz unten angekommen sind. Die Staatsanwälte sollen sich individuell um diese Jugendli

chen kümmern, sollen dabei auch das Wohnumfeld und die Familien kennenlernen und den richtigen Hebel, die richtige Ansprache finden, um diese Jugendlichen von ihrem Weg abzubringen und zum Nachdenken zu bringen. Der Ansatz ist neu, er ist vielversprechend, und die Justizsenatorin hat ihn sich zu eigen gemacht und unterstützt die Staatsanwaltschaft bei der Umsetzung.

Die Grundhaltung, Herr Lux, die hinter diesem Schwellentäterkonzept steht, ist eine ganz andere als die, die Herr Reusch in seinem Interview zur Schau stellt. Die Berliner Justiz gibt keinen Jugendlichen verloren. Wir sehen die Taten. Wir schützen auch die Opfer. Wir ringen aber auch darum, Jugendliche, die zu Tätern geworden sind, für ein Leben ohne Straftaten zurückzugewinnen.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Das tut auch die Intensivtäterabteilung, und das tut selbstverständlich auch Herr Reusch. Menschlich habe ich sogar Verständnis dafür, dass jemand, der eine so harte Arbeit macht und an seinem Schreibtisch jeden Tag mit schrecklichen Taten und – wenn man das so sagen darf – mit schrecklichen Tätern zu tun hat, auch einmal bitter wird. Das kann ich verstehen. Aber kein Rechtspolitiker in dieser Stadt kann Herrn Reusch unwidersprochen durchgehen lassen, dass er die Untersuchungshaft zweckentfremden will oder über irgendwelche medizinischen Lösungen für kriminelles Verhalten laut nachdenkt. Am allerwenigsten die Senatorin! Es würde mich sehr wundern, Kollege Behrendt, wenn Sie das anders sehen.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Herr Abgeordneter Dr. Felgentreu, wenn Sie dann bitte zum Schluss kommen würden!

Ich habe nur noch 27 Sekunden Redezeit. Ich würde das jetzt gern zu Ende bringen. –

Herr Rissmann! Ich bitte Sie, auch über Ihre Bewertung des Streits zwischen Staatsanwälten und Senatorin nochmals nachzudenken. Gerade mit der Verfolgung der Intensivtäter müssen wir uns immer wieder auseinandersetzen. Dass es aber nie einen Zweifel an der Rechtmäßigkeit unserer Maßnahmen geben kann, ist die Voraussetzung dafür, dass wir auf diesem Gebiet erfolgreich arbeiten. Dafür steht diese rot-rote Koalition, und dafür steht die Senatorin von der Aue. – Vielen Dank!

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Das Wort hat nun der Abgeordnete Behrendt. – Bitte schön!

[Carl Wechselberg (Linksfraktion): Auf den Eiertanz sind wir gespannt!]

Damit kennt ihr euch aus! – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur Erinnerung für die SPD zitiere ich noch einmal die Schlagzeilen der Berliner Zeitungen der letzten Tage. Das Problembewusstsein scheint bei dem Kollegen Felgentreu noch nicht so sonderlich ausgeprägt zu sein. Dort mussten wir lesen: „Senatorin richtet Staatsanwaltschaft!“ – „Unbedachter Tatendrang!“ – „Wut auf die Senatorin!“ – Und besonders delikat ist der Artikel des Kollegen Bommarius: „Ein gelungener Rufmord!“ – Diese Schlagzeilen werfen ein Schlaglicht auf die Probleme der Berliner Justiz und leider auch auf Ihre Amtsführung, Frau Senatorin von der Aue! Man wird den Eindruck nicht los, dass Sie sich von Ihrer Rechnungshoftätigkeit noch nicht recht emanzipieren konnten und noch nicht beim Regieren angekommen sind – also Ihrer Aufgabe, zu regieren statt zu kontrollieren, noch nicht ganz gerecht werden.

Zunächst ein Schlaglicht auf die drängendsten Probleme: Wir haben es häufig thematisiert, und wir thematisieren es auch heute nochmals an dieser Stelle. Die Berliner Haftanstalten sind zum Bersten voll und übervoll. Wir haben auf rd. 5 000 Haftplätzen – mit Datum von gestern – 5 500 Gefangene. Am schlimmsten ist weiterhin die Überbelegung in der Jugendstrafanstalt in Plötzensee. Dort besteht eine Überbelegung von 120 Prozent – es sind also fünf Häftlinge auf vier Plätzen untergebracht. Zudem – und auch das wurde häufiger thematisiert, ohne dass etwas passiert – sind in Moabit mit Datum von gestern 136 Gefangene nicht nur rechtswidrig, sondern verfassungswidrig untergebracht. Die Gefangenen sind mindestens zu zweit in einer Zelle mit einem offenen Toilettenbereich untergebracht.

Über die Abhilfe haben wir auch häufiger gesprochen. Es ist weiterhin so, dass in Berlin zu viele Gefangene zu lange in Haft sitzen. Nur rd. 9 Prozent der Häftlinge werden vorzeitig aus der Haft entlassen. Damit ist Berlin weiterhin Schlusslicht im Bundesdurchschnitt. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 19 Prozent. Berlin muss endlich anfangen, mit seinen Häftlingen in der Haft intensiver zu arbeiten und sie ordentlich und rechtzeitig auf ihre Entlassung vorzubereiten, denn der Grund für diese Berliner Überbelegungsmisere sind die verzögerten Haftprüfungen und die unzureichenden Vollzugspläne.

[Beifall bei den Grünen]

Zudem haben wir bauliche Probleme. Es ist vorgeschlagen worden, dass man in der Berliner Justiz ein Umzugskarussell macht, um wenigstens die drängendsten Überbelegungsprobleme zu lösen – durch die Einrichtung des Haftkrankenhauses. Es ist ausgesprochen unerfreulich, dass die Räume, die jetzt in Moabit freigezogen wurden – wo ein drängender Überbelegungsdruck besteht –, erst in über einem Jahr zur Verfügung stehen, weil sie umgebaut werden. Man fragt sich, warum die Bauarbeiten nicht schneller laufen. Aber sie finden immerhin statt. Anders verhält es sich in der Jugendstrafanstalt: Dort ist auch ein

Haus freigezogen worden, und dieses steht jetzt vollständig leer, ohne dass die notwendigen Bauarbeiten auch nur in Angriff genommen würden. Es soll erst im Herbst damit angefangen werden, dieses Haus umzubauen. Da fragt man sich, warum man in diesem Fall nicht mit Hochdruck zur Tat schreiten kann, um wenigstens diese drängende Überbelegung in den Griff zu bekommen. Zur Erinnerung: Im Jugendbereich ist sie am schlimmsten.

[Beifall bei den Grünen]

Über die Problematik der Todesfälle hinter Gittern – die viel zu hohen Suizidraten – haben wir im Ausschuss auch schon des Häufigeren gesprochen. Wir hatten im letzten Jahr einen Höchststand – den höchsten Stand in den letzten 20 Jahren – mit 10 Selbsttötungen. In diesem Jahr haben wir bereits zwei Selbsttötungen. Hier ist insbesondere an Sie, Frau von der Aue, die Frage zu richten, warum Sie weiterhin auf Ihrer Position beharren und die Suizide nicht bekanntgeben wollen – so wie es jahrelang geübte Praxis in Berlin war. Hier sollte man nicht Geheimniskrämerei obwalten lassen, sondern offen die Probleme der Berliner Justiz ansprechen und die Suizide bekanntgeben, damit die Öffentlichkeit über die Missstände in den Strafvollzugsanstalten Bescheid weiß.

Entschuldigung, Herr Behrendt! – Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kohlmeier?

Aber gern!

Herr Kollege Behrendt! Können Sie mir den Zusammenhang zwischen der Anzahl der Suizide in den Strafanstalten und der Nichtveröffentlichung der Suizide gegenüber der Presse erläutern?

Es besteht folgender Zusammenhang: Wenn man Abhilfe schaffen will, muss man erst einmal die Probleme schonungslos benennen. Wenn man nicht bereit ist, dieses zu tun, wird man auch mit der Abhilfe nicht weit kommen.

[Zuruf von Sven Kohlmeier (SPD)]

Deswegen muss man erst einmal transparente und offene Verhältnisse schaffen, damit man über die Zustände in den Justizvollzugsanstalten Bescheid weiß. Das ist ein Anspruch der gesamten Öffentlichkeit, und den wollen wir erfüllt wissen. Deswegen werde ich auch weiterhin monatlich bei der Verwaltung abfragen, wie viele Todesfälle es im Berliner Vollzug gibt.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Frau von der Aue! Nun zu Ihrer Amtsführung: In der letzten Plenarsitzung – das wurde von den Kollegen bereits

angesprochen – haben Sie der CDU vorsätzliches Schlechtreden des Vollzugs vorgeworfen und mitgeteilt, Sie seien offen für Vorschläge. Da kann ich nur sagen: Die Probleme im Berliner Vollzug haben wir im letzten halben Jahr ausführlichst in mehreren Rechtsausschusssitzungen thematisiert. Worte sind längst genug gewechselt. Wir haben uns quasi den Mund fusselig geredet und versucht, Ihnen goldene Brücken zu bauen und nahezulegen, was man als erstes in Angriff nehmen sollte. Aber leider ist viel zu wenig passiert. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass Taten folgen. Es genügt nicht, dass Sie sich weiterhin nur offen für Vorschläge erklären, sondern nun müssen endlich Maßnahmen zur Entlastung der sehr schwierigen Situation erfolgen, wie ich sie geschildert habe. Dieses ist vordringlich.

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Das Problem der Überbelegung werden Sie weder durch ein IT-Programm BASIS-WEB noch durch Gespräche mit den Personalvertretungen über flexible Arbeitszeiten lösen können.

Leider werde ich auch den Eindruck nicht los, dass Sie die Überbelegungssituation künstlich aufrechterhalten, um Ihr Gefängnis in Großbeeren rechtfertigen zu können. Denn nur wenn die Knäste so voll sind, kann man einen Neubau rechtfertigen.

[Stefan Liebich (Linksfraktion): Eine unglaubliche Frechheit! – Weitere Zurufe von der SPD und der Linksfraktion]

Aber ich kann Ihnen dazu nur nochmals sagen: Das geschieht auf dem Rücken der Gefangenen. – Das habe ich bereits vor 14 Tagen gesagt. – Es ist ein Unding, auf dem Rücken der Gefangenen die Überbelegungssituation künstlich aufrechtzuerhalten, um diesen Gefängnisneubau zu rechtfertigen.

[Beifall bei den Grünen – Martina Michels (Linksfraktion): Das ist frech! – Weitere Zurufe von der SPD und der Linksfraktion]

Zu den anderen längst überfälligen Punkten im Justizbereich: Wir fragen uns, wo der Regierungsvorschlag zum Jugendstrafvollzugsgesetz bleibt. Dort könnte man einen Teil der bereits angesprochenen Probleme angehen. Sie haben in der Problemanalyse völlig recht: Diese Stadt hat ein Problem mit gewalttätigen Jugendlichen. – Deshalb die Frage: Wo ist der Entwurf für ein Jugendstrafvollzugsgesetz?

[Dr. Fritz Felgentreu (SPD): Sie wissen genau, wo er bleibt! – Christian Gaebler (SPD): Im Verfahren!]

Wir müssen bis zum Jahresende damit durch sein. Das ist eine Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts. Wir sind sehr gespannt.

[Dr. Klaus Lederer (Linksfraktion): Wir werden es schaffen!]