Protokoll der Sitzung vom 11.10.2007

Verpflichtende Früherkennungsuntersuchungen für alle Kinder

Antrag der CDU Drs 16/0896

Für die Beratungen steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu fünf Minuten zur Verfügung. Es beginnt die Linksfraktion mit Frau Abgeordnete Dr. Barth. – Bitte!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir wollen unter diesem Tagesordnungspunkt über das Thema Kinderschutz sprechen. Wir beschäftigen uns nicht zum ersten Mal mit der Frage, ob durch eine stärkere Inanspruchnahme der gesetzlichen Früherkennungsuntersuchungen der Kinderschutz verbessert werden kann. Dass heute sowohl ein Antrag der Koalition als auch der CDU vorliegt, ist Beleg dafür, dass sich sowohl die Koalition als auch die Opposition weiterhin ernsthaft mit diesem Thema auseinandersetzen.

Damals wie heute scheinen wir ein Grundproblem zu haben: Wir haben zwar in der Zielstellung kaum Differenzen, doch in der Frage der Verbindlichkeit gibt es einen deutlichen Dissens. Eine Verpflichtung zur Inanspruchnahme der gesetzlichen Vorsorgeuntersuchung ist – bei aller Sympathie für den Gedanken einer möglichst lückenlosen gesundheitlichen Vorsorge und auch zur Gewinnung entsprechender Daten für die Weiterentwicklung der Gesundheitsvorsorge in einem für die kindliche Entwicklung zunehmend kritischen Alter – aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich. Ich betone dies: Aus verfassungsrechtlichen Gründen ist dies nicht möglich! Unserer Meinung nach ist dies nach wie vor ein Eingriff in das Elternrecht. Das haben diverse Gutachten und der Wissenschaftliche Parlamentsdienst dieses Hauses als auch der des Bundestags belegt.

Ich will noch einmal auf dieses Problem grundsätzlich eingehen, und zwar zunächst auf die Frage, ob die Vorsorgeuntersuchungen einen wirksamen Beitrag zur Stärkung des Kinderschutzes leisten können. Vorsorgeuntersuchungen nach § 26 SGB V dienen in erster Linie der Gesundheitsvorsorge und der Früherkennung von Erkrankungen und Behinderungen. Sie sind für sich allein nicht ausreichend, um Kinderschutzfälle zu verhindern und aufzudecken. Wir sind jedoch der Auffassung, dass sie dann, wenn sie in unser Netzwerk Kinderschutz eingebettet und mit anderen Maßnahmen vernetzt sind, eine wichtige Rolle im Kinderschutz spielen können. Daran knüpfen sich weitere Bedingungen wie z. B. die Qualifikation der Ärzte, ihre Sensibilität für das Kinderschutzproblem, ihre Einbettung in sozialräumliche Strukturen usw. an. In diesem Zusammenhang werden auch Fragen berührt, inwieweit die Vorsorgeuntersuchungen in ihrer gegenwärtigen inhaltlichen Ausrichtung und zeitlichen Abfolge den aktuellen und erweiterten Anforderungen gerecht werden können. Wir wissen, dass es diesbezügliche Aktivitäten zu ihrer Weiterentwicklung auf Bundesebene im Rahmen des gemeinsamen Bundesausschusses gibt, an denen der Senat mitwirkt.

Wie ist die aktuelle Situation in Berlin? – Laut Bericht der Senatsverwaltung für Gesundheit haben wir eine sehr hohe Inanspruchnahme der U1 und U2. In den ersten beiden Lebenswochen nutzen von ca. 95 Prozent der Eltern ca. 99 Prozent die Untersuchungen im ersten Lebensjahr. Erst ab U7 – und das betrifft die Untersuchung ab dem 20. bis zum 27. Lebensmonat – sinkt die Teilnahmequote auf ca. 90 Prozent. Die U9 im 58. bis 66. Lebensmonat nehmen nur noch ca. 80 Prozent in Anspruch. Interessant ist hierzu die Analyse der vorliegenden Daten, die ich kurz zusammenfasse:

1. Nach Analysen der Senatsverwaltung für Gesundheit gibt es einen Zusammenhang zwischen der Inanspruchnahme und dem sozialen Status der Eltern. Kinder aus sozial schwachen Familien nehmen die Untersuchungen der U 3 bis zur U 8 weniger in Anspruch.

2. Nichtdeutsche Familien haben einen geringeren Grad der Inanspruchnahme, wobei es je nach Herkunft zum Teil deutliche Unterschiede gibt.

3. Kinder, die die Kita länger besuchen, nehmen die Untersuchungen öfter in Anspruch.

Damit komme ich zu unserem Antrag. Was müssen wir tun, wo müssen wir ansetzen, um mehr Eltern als bisher für die Inanspruchnahme der Vorsorgeuntersuchungen zu gewinnen? – Zunächst müssen wir Eltern in ihrem sozialen Umfeld mehr und gezielter informieren und aufklären. Wir müssen weiterhin alles versuchen, um den Kindern mehr und früher als bisher die Möglichkeit des Kitabesuchs zu eröffnen. Der Kitabesuch ist die beste Prävention, die wir uns denken können.

[Beifall bei der Linksfraktion – Mirco Dragowski (FDP): So ist es!]

Rot-Rot hat deutliche Weichen gestellt, um Zugangshürden zur Kita und zur Krippe deutlich herabzusenken. An diesem Problem arbeiten wir weiter.

Wir schlagen des Weiteren vor, zu prüfen, ob durch die Einführung eines Einladungswesens für die Eltern, die die Vorsorgeuntersuchungen aus den verschiedenen Gründen nicht oder nur unregelmäßig in Anspruch nehmen, mehr Kinder als bislang einem Arzt vorgestellt werden können. Das will gut überlegt sein, denn es wirft neue Fragen auf – datenschutzrechtliche und auch die nach dem finanziellen Aufwand; darüber müssen wir reden. Wir haben zur Kenntnis genommen, dass der Gesundheitsausschuss finanzielle Mittel dafür bereitstellen will.

Mit unseren Aktivitäten bewegen wir uns im Einklang mit den anderen Bundesländern. Die CDU verweist in ihrem Antrag auf das Saarland, das jedoch – anders als im CDUAntrag suggeriert wird – keine Untersuchungspflicht eingeführt hat, sondern auf ein Einladungswesen setzt.

Lassen Sie uns über beide Anträge im Ausschuss gründlich reden. Die Zielrichtung ist klar, hier besteht kein Dissens. – Danke!

[Beifall bei der Linksfraktion]

Vielen Dank! – Das Wort für die CDU-Fraktion hat Frau Demirbüken-Wegner. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin nicht nur erstaunt, sondern auch sehr erfreut, dass wir heute über zwei neue Anträge zum Kindeswohl und zur Beseitigung der immer noch bestehenden Lücken im Berliner Kinderschutz gemeinsam diskutieren. Ich bin mir sicher, meine sehr verehrten Damen und Herren aus den Regierungsreihen, dass Sie das Thema ernsthaft angehen wollen, habe nur aufgrund meiner einjährigen – vielleicht kurzen – Erfahrung die Sorge, dass Sie auch hier ein bisschen zu kurz springen werden.

Ob durch Ihren Antrag wirklich eine Verbesserung des Kinderschutzes erzielbar ist, bleibt auch nach genauer Durchsicht des vorgelegten Antrags fraglich.

In Ihrem Antrag wird der Senat lediglich aufgefordert zu überprüfen, ob und wie verpflichtende Früherkennungsuntersuchungen auch dem Zweck des Kinderschutzes dienen und welche Alternativen es hierzu gibt. Sie drücken sich nach wie vor darum herum, die Früherkennungsuntersuchung für alle Kinder obligatorisch zu machen, und verweisen darauf, wie vorhin durch Frau Dr. Barth, dass verfassungsschutzrechtliche Gründe vorliegen und man nicht ins Elternrecht eingreifen kann. Sie verweisen auch zu Recht darauf, dass andere Bundesländer uns vormachen, wie man es machen kann, verschweigen aber, dass es parallel zu der einladenden Methodik Sanktionen für

die Eltern gibt, die die Früherkennungsuntersuchungen nicht wahrnehmen.

Mehrfach habe ich Ihre Nachbesserungsversuche beim Kinderschutz analysiert. Sie haben in diesem einen Jahr viel Papier beschrieben, aber in der praktischen Politik die notwendigen oder zusätzlichen Ressourcen nicht zur Verfügung gestellt. Daher ist es nur folgerichtig, dass Sie zum dritten Mal einen Auftrag an Ihren eigenen Senat richten müssen. Es ist auch deprimierend zu lesen, wenn der Senat in seinem Bericht die Ergebnisse der von ihm eingesetzten Arbeitsgruppe Netzwerk Kinderschutz wie folgt beschreibt:

Eine Analyse der vorhandenen Maßnahmen und Kontrollmöglichkeiten hat trotz eines beachtlichen Hilfesystems bestehende Lücken oder Unzulänglichkeiten aufgezeigt.

Dann wurden elementare Mängel aufgelistet wie:

Kooperationsdefizite zwischen den Behörden,

Fehlen überregionaler Anlaufstellen,

keine flächendeckenden Erstkontakte des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes,

keine einheitlichen Handlungsmuster,

Lücken im Untersuchungssystem von der U1 bis zur U9 und der Kita-Aufnahmeuntersuchung,

Fehlen eines Früherkennungs- und Interventionssystems.

Nun bewegen Sie sich und schließen sich – sehr erfreulich! – unserer Forderung nach einer besseren Personalausstattung in den Bezirken an. Sie fordern zu Recht mehr Personal in den Gesundheits- und Jugendämtern ein. Doch wir alle wissen genau, dass damit noch lange keine flächendeckende Früherkennungsuntersuchung und auch keine aufsuchende und nachsorgende Hilfe möglich ist.

Nun wollen Sie mit Ihrem Antrag suggerieren, es gehe Ihnen um mehr Kinderschutz und Kindeswohl. Doch wenn Sie das wirklich wollen – und daran möchte ich glauben –, hoffe ich sehr, dass Sie Ihren Antrag, der allein ein Prüfauftrag ist, zurückziehen und unseren Antrag unterstützen, damit der von Ihnen getragene Senat endlich das macht, was wir seit langem fordern. Sie erwarten anscheinend vom Senat das Gleiche, nämlich allen Kindern die notwendige Fürsorge zu bieten, sie vor Verwahrlosung zu schützen und allen Eltern die dafür notwendige Unterstützung zu geben. Fordern Sie also mit uns den Senat auf, die Früherkennungsuntersuchung auch in Berlin zur Pflicht zu machen, die Organisationsstruktur zur flächendeckenden Umsetzung aufzubauen und – zuallerletzt – die dafür notwendigen Maßnahmen zum Datenaustausch zwischen den beteiligten Behörden und Organisationen zu ermöglichen.

[Beifall bei der CDU]

Das Wohl der Berliner Kinder sollte auch die Regierungsfraktionen zu diesem einzig richtigen Schritt veranlassen. – Ich danke Ihnen!

Vielen Dank! – Das Wort für die SPD-Fraktion hat Frau Winde.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass wir heute unseren Antrag zur Optimierung des Kinderschutzes diskutieren. Allerdings finde ich, dass mehr Abgeordnete im Saal sein könnten, um diesem wichtigen Thema zuzuhören.

[Beifall bei der SPD, der Linksfraktion und der FDP – Mirco Dragowski (FDP): Das stimmt!]

Das betrifft sämtliche Fraktionen.

Mit diesem Antrag wollen wir erreichen, dass endlich mehr Kinder zu den Früherkennungsuntersuchungen, aber auch zu den Vorsorgeuntersuchungen gehen und dass die Eltern ihre Kinder dort hinbringen. Bisher ist es vor allem nach Ende des ersten Lebensjahrs so, dass die Eltern ihre Kinder häufig nicht mehr zu den Untersuchungen bringen, sodass Entwicklungsdefizite nicht erkannt werden und die Eltern auch keine entsprechende Hilfe und Beratung mehr erhalten können. Aber nicht nur dazu sind diese Untersuchungen gedacht, sondern auch, um neben Entwicklungsdefiziten Vernachlässigungen und Misshandlungen aufzudecken. Wir wollen damit auch all jene Eltern erreichen, die diesen Untersuchungen mit Desinteresse gegenüberstehen und ihre Kinder nicht hinbringen, weil sie denken: Es wird schon alles gut sein. Aber leider ist nicht alles immer gut. Wir würden das gern in jedem konkreten Fall wissen.

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der Linksfraktion]

Wir möchten gern, dass Fälle wie der von Kevin nicht mehr vorkommen oder zumindest noch rechtzeitig aufgedeckt werden.

Der Unterschied zwischen unserem Antrag und dem der CDU besteht in erster Linie darin, dass wir diese Untersuchung nicht zur Verpflichtung machen wollen. Wir stehen auf dem Standpunkt – der auch von der Bundesregierung eingenommen wird –, dass dem das Grundgesetz mit dem verbrieften Recht der Eltern auf selbstbestimmende Erziehung entgegensteht. Dem gegenüber steht jedoch das Recht des Kindes auf Unversehrtheit. Um aus diesem rechtlichen Dilemma herauszukommen, fordern wir jetzt den Senat auf, alles auszuloten, was möglich ist, um Eltern dazu zu bringen, ihre Kinder bei den Vorsorgeuntersuchungen vorzustellen.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Das Ziel soll sein, dass der Kinder- und Jugendgesundheitsdienst bzw. das Jugendamt selbst tätig werden und bei den Eltern nachfragen oder sie zu Hause aufsuchen können, nachdem die Eltern eingeladen bzw. aufgefordert wurden, ihr Kind zur Vorsorgeuntersuchung zu bringen.

Dazu müssen wir aber auf der Berliner Verwaltungsebene erst einmal die entsprechenden juristischen Voraussetzungen schaffen.

Des Weiteren ist es notwendig, Gespräche mit den Krankenkassen zu führen, da die Daten darüber, ob ein Kind zur Vorsorgeuntersuchung gebracht wurde oder nicht, nur von ihnen geliefert werden können.

Ich bin zuversichtlich, dass uns die Gesundheitsverwaltung bis Ende des Jahres einen Bericht über ein solches geeignetes Verfahren vorstellen wird, dass wir dieses dann mit unserer Mehrheit im Haus in Auftrag geben können und die Verwaltung es in geeigneter Form umsetzen wird. Um ihr das zu ermöglichen – wie Sie wissen, kostet alles im Leben Geld –, haben wir für dieses Vorhaben in den Haushaltsberatungen zum Doppelhaushalt 2008/2009 im Gesundheitsausschuss durch Umschichtungen vom Umwelt- zum Gesundheitsetat mit der Mehrheit der Koalition immerhin 600 000 € freigemacht.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Wenn dem jetzt noch der Hauptausschuss zustimmt – und da bin ich zuversichtlich –, haben wir damit ein gutes Zeichen gesetzt und einen weiteren Eckpfeiler innerhalb unseres Netzwerks Kinderschutz installiert. Darauf bin ich sehr stolz.

[Beifall bei der SPD]