litätswahrnehmung annimmt, der Frage also: Wie erleben die Bürgerinnen und Bürger die gegenwärtige EU? Dabei haben wir in der Tat unterschiedliche Sichten in diesem Hause.
Bis dato wirkt nach unserem Empfinden die EU-Politik für viele Menschen nämlich eher als Motor für den Abbau des Sozialstaats. Die vorrangige Orientierung auf Binnenmarkt und Wettbewerb durch Deregulierung, die Sie als FDP uns immer wieder als Allheilmittel erklären wollen, hat flächendeckend zu Lohn- und Sozialdumping europaweit geführt. Immer mehr Menschen werden in den Niedriglohnsektor gezwungen. Armut nimmt trotz Arbeit zu. Das ist die Realität, die wir in den Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern erleben, und die – nebenbei bemerkt – über 100 000 Bürger vor Tagen unter dem Dach des DGB für ein sozialeres Europa auf die Straße brachte.
Eine brandaktuelle Emnid-Umfrage hat ergeben, dass 74 Prozent der Deutschen – Herr Dragowski, hören Sie gut zu! – auf eine entsprechende Frage angaben, dass die Arbeitnehmerrechte und das Sozialstaatsprinzip in der EU Vorrang haben sollten gegenüber Wettbewerbs- und Handelsfreiheiten.
Wir fordern daher klare europaweite Zielvorgaben in Richtung sozialer Regulierung, zum Beispiel europaweite Mindestlöhne, die entsprechend der EU-Armutsdefinition nicht unter 60 Prozent des nationalen Durchschnittseinkommens liegen dürfen. Wir fordern eine garantierte gute Gesundheitsversorgung für alle und die Halbierung der Kinderarmut in den Mitgliedsländern bis 2012. Unser Ziel bleiben Tariftreueklauseln bei der öffentlichen Auftragsvergabe. Das Prinzip „gleiches Entgelt für gleichwertige Arbeit am gleichen Ort“ darf nicht durch EU-Richtlinien oder EuGH-Urteile verboten werden.
Wir bleiben auch dabei, dass Sozialleistungen von allgemeinem Interesse keine unternehmerischern Tätigkeiten im Sinne des EU-Wettbewerbsrechts, sondern Ausdruck der Gemeinwohlverpflichtung des Staates sind. All dies haben wir in diesem Hause – Herr Zimmermann hat es bereits gesagt – in Koalitionsanträgen untermauert, teilweise sogar mit Unterstützung der Grünen. Und auch das konkrete Senatshandeln ist darauf ausgerichtet. Und ich sage: Und das ist gut so!
Das sind unsere vorrangigen europäischen Zielvorstellungen, die wir als Linke auch am 7. Juni zur Abstimmung stellen wollen. Die EU braucht endlich demokratischere
Strukturen, die den Bürgerinnen die Möglichkeit einräumen, bei Entscheidungsfindungen mitzuwirken statt zuzusehen. Am 7. Juni entscheiden die Bürgerinnen und Bürger über diese Zukunftsfähigkeit der EU. Wer sich einmischen will, der sollte sich auch an der Wahl beteiligen. Das ist eine wirklich wichtige demokratische Form der Teilhabe. Denn nur wer sich einmischt, der kann auch verändern.
Vielen Dank, Frau Abgeordnete Michels! – Zunächst hat der Abgeordnete Scholz das Wort für eine Kurzintervention. Erst wenn Frau Michels geantwortet hat, hat die FDP-Fraktion das Wort. Ich weiß nicht, wer von den beiden Herren möchte, Herr Lindner oder Herr Dragowski. – Okay. Dann zunächst Herr Scholz!
Danke, Frau Präsidentin! – Meine Damen und Herren! Frau Michels! All diejenigen, die schon lange Politik machen oder sich mit Politik befassen, wissen, dass es nicht das perfekte System gibt und dass nicht alles in der Europäischen Union so läuft, wie man sich das wünscht. Es ist ja wohl unstreitig. Sonst brauchten wir keine Politik mehr zu machen, wenn es nicht Dinge gäbe, die einer Verbesserung bedürfen. Aber was Sie hier abziehen, sägt an dem Stuhl des demokratische Gefüges.
Sie malen nur schwarz. Sie sind eine reine Protestpartei. Sie haben es auch gar nicht nötig, eigene Visionen und Ideen einzubringen.
Sie brauchen immer nur den Bürgern zum Munde zu reden, weil Sie nirgendwo große Verantwortung tragen, und selbst hier, wo Sie in der Koalition sitzen, nehmen Sie nicht die Verantwortung für dieses Land wahr. Deshalb spreche ich einer reinen Protestpartei ab, zu beurteilen, was für Europa gut und richtig ist.
Dass in Ihrer alten Partei mit dem neuen Namen immer noch die alte SED-Befehlsmentalität herrscht, durften wir bei der Listenaufstellung erleben. Erzählen Sie uns doch bitte, warum Sie die Europäerin Frau Yvonne Kaufmann aus Ihrer Fraktion, die den Lissabon-Vertrag verteidigt hat, versenkt, mundtot gemacht haben. Das ist die alte Mentalität, und das müssen Sie uns und den Menschen in Berlin einmal erklären.
Das erkläre ich Ihnen gern, Herr Scholz! Mit Propaganda, die Sie hier machen, und zwar einer, die völlig rückwärtsgewandt ist, ist dieses Europa nicht zu machen.
Sie können uns absprechen, was Sie wollen. Sie können Ihre Meinung über uns haben. Das bleibt Ihnen unbenommen. Entscheiden werden am 7. Juni einzig und allein die Wählerinnen und Wähler. Ich bin mir ziemlich sicher: Unser Maßstab ist das, was die Realität in Europa ist, und zwar die Realität, so wie sie die Bürgerinnen und Bürger wahrnehmen. Ich empfehle Ihnen: Gehen Sie zum Deutschen Gewerkschaftsbund! Reden Sie mit Bürgerinnen und Bürgern auf der Straße! Die können Ihnen sagen, wie sozial sie das Europa empfinden. Mir ist es sehr wichtig, dass Bürgerinnen und Bürger erkennen, dass wir ihre Interessen wahrnehmen und dass wir etwas verändern wollen. Das hat nichts mit Europafeindlichkeit zu tun. Europakritisch und europafeindlich sind zwei völlig verschiedene Schuhe. Ich bin – das lasse ich mir auch von Ihnen nicht absprechen – durch und durch Europäerin. Deswegen kandidiere ich auch dafür, und ich glaube, das ist richtig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist sicher in einem föderalen Staat schwierig, verschiedene Interessen zum Ausgleich zu bekommen, von Bundesländern im Westen und im Osten – reich oder weniger reich. In Europa ist das natürlich ein noch komplizierterer und noch komplexerer Vorgang. Ein solches Unternehmen ist mit dem Vertrag von Lissabon versucht worden. Im Vertrag von Lissabon ist sicher nichts pur. Das ist nicht pur reichere Länder, das ist nicht pur Gründungsländer, das ist nicht pur sozialdemokratisch, das ist nicht pur liberal und nicht pur konservativ. Aber es ist ein Versuch gewesen, hier Interessen zum Ausgleich zu bekommen und das größer gewordene Europa zu einen und auch arbeitsfähig zu halten. Und wer sich diesem Vertrag von Lissabon widersetzt, dem spreche ich hier jede Möglichkeit ab, mitzureden.
Die Rechts- und die Linksextremisten in Europa – und dazu gehören Sie auch – haben sich gegen den Vertrag von Lissabon gestellt. Le Pen, NPD, Linkspartei und andere Extremisten versuchen nichts anderes als puren Populismus, dümmliche Hetze auf den Straßen. Die Leute aufzuwiegeln ist alles, was Sie drauf haben. Sie nehmen diffuse Ängste der Bevölkerung auf. Ja, natürlich gibt es die! Die gibt in Deutschland, in Polen und in Rumänien. Aber es ist verantwortliche Politik, eben nicht diesen diffusen Ängsten nachzugeben, sondern es ist verantwortliche Politik, alles aufzunehmen und in einen vernünftigen Konsens zu führen, und dies können Sie nicht, weil Sie eine platte populistische Partei sind, mit Lafontaine und anderen Hetzfiguren an der Spitze. Sie haben bei Europa nicht mehr mitzureden!
[Uwe Doering (Linksfraktion): Können Sie das nicht mal rügen, Herr Präsident? Ich bin doch kein Linksextremist! – Weitere Zurufe von der Linksfraktion]
Herr Dr. Lindner! Gott sei Dank bestimmen Sie weder in diesem Haus noch hierzulande über das Rederecht. Darüber bin ich ganz froh, denn es ist ein völlig undemokratisches Verhalten, das Sie hier an den Tag legen, dass Sie bestimmen, wer sich hier wozu zu Wort melden kann.
Zum anderen: Ich wäre mit den Beispielen, die Sie hier nennen, sehr vorsichtig. Sie nennen auf der einen Seite Le Pen. Ich sage Ihnen: In Italien ruft der Vorsitzende der faschistischen Partei, Fini, offen auf, dass es die oberste Pflicht ist, dem Lissabon-Vertrag zuzustimmen. Also wen Sie hier in welche Gegend stecken, ist eine ganz andere Frage.
Im Lissabon-Vertrag steht viel Gutes. Das sagen wir auch! Lesen Sie unsere Standpunkte! Wir sagen: Jawohl! Der Lissabon-Vertrag hat viele gute Ansätze und ist in manchen Dingen ein Fortschritt, zum Beispiel, was die Rolle und Kontrollrechte des Parlamentes betrifft.
Aber ich kann keinem Vertrag zustimmen, der in Artikel 42 sagt: Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verpflichten sich, schrittweise ihre militärischen Potenziale zu verbessern. – Da sage ich Ihnen: Hören Sie auf den amerikanischen Präsidenten Obama,
der überall offen dafür gefeiert wird, dass er den demokratischen Traum hat, die Welt atomwaffenfrei zu machen, und da, wo wir in Europa zum völlig richtigen Zeitpunkt die Grundlagen dafür legen können, nämlich mit Konsequenzen, schreiben wir eben nicht: Die europäischen Staaten werden verpflichtet, schrittweise abzurüsten –, sondern es steht genau das Gegenteil darin, und damit kann ich mich als Mitglied einer Friedenspartei leider nicht anfreunden.
Meine Damen und Herren! Ich schlage vor, dass wir den Rest der Debatte in gemäßigtem Ton fortführen! – Das Wort hat jetzt die Kollegin Schillhaneck!
Herr Präsident! Vielen Dank! – Ich glaube, dass der Aufruf nach Mäßigung nicht mir persönlich galt. Ich freue mich, dass so ein Thema mit einer gewissen Leidenschaft diskutiert werden kann, aber an diesem Punkt ist ein bisschen Rationalität angebracht.