Ich eröffne die I. Lesung. Für die Beratung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu fünf Minuten zur Verfügung. Es beginnt die antragstellende Fraktion der FDP. Herr Jotzo steht bereits am Pult und hat das Wort. – Bitte sehr!
Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Meine Damen und Herren! Das Wahlrecht ist eine der tragenden Säulen der Demokratie. In Artikel 20 Abs. 2 des Grundgesetzes heißt es – ich zitiere –:
Entschuldigung; Herr Jotzo! – Ich bitte doch darum, die Murmeleien und Gespräche in den Reihen und hinter den Reihen einzustellen. Jetzt hat Herr Jotzo das Wort, und zwar nur Herr Jotzo. – Bitte sehr!
Entschuldigung, Herr Jotzo! Wir können die Sitzung auch unterbrechen. Der Geräuschpegel ist so laut, und hier oben hören wir Sie, aber Herrn Jotzo nicht. Wenn Sie etwas ruhiger sein und auch in Ihre Reihen zurückgehen könnten! – Bitte sehr, Herr Jotzo!
Vielen Dank! – Was die Abstimmungen angeht, sind wir im Land Berlin schon ein ganzes Stück weitergekommen. In der letzten Legislaturperiode und in dieser Legislaturperiode haben wir den Bürgerinnen und Bürgern in unserer Stadt viele Möglichkeiten gegeben, auf bezirklicher Ebene und auf Landesebene Einfluss zu nehmen. Diese Möglichkeiten werden auch von den Bürgerinnen und Bürgern genutzt. Man kann sich in dem einen oder anderen Fall darüber streiten, ob das sinnvoll geschieht oder nicht. Aber das ist nicht unser Thema, sondern heute geht es darum, dass wir den Wählerinnen und Wählern in Berlin auch bei Wahlen mehr Einfluss geben wollen.
Wir schlagen Ihnen mit unserem Antrag drei wesentliche Punkte vor. Das Erste ist, dass wir Unklarheiten im Wahlrecht beseitigen wollen. Bisher haben wir es mit Erst- und Zweitstimme zu tun, und selbst eingefleischte Fans des Wahlrechts kommen manchmal in Schwierigkeiten, wenn sie den Bürgerinnen und Bürgern die Erst- und Zweitstimme erklären müssen, wobei auch fraglich ist, was am Ende beim Bürger ankommt. Wir schlagen Ihnen vor, dass wir in Zukunft von einer Kandidatenstimme – statt Erststimme – und von einer Parteistimme – statt Zweitstimme – sprechen, um diesen Punkt klarzustellen.
Jetzt aber zu den wichtigen Änderungen: Das Zweite ist, dass wir vorschlagen, künftig den Wählerinnen und Wählern statt einer Zweitstimme bzw. Parteistimme fünf Parteistimmen zur Verfügung zu stellen. Das ermöglicht es den Wählern, Präferenzen erkennen zu lassen. Sie können also beispielsweise ihre Stimmen auf mehrere Parteien verteilen.
Aber das Dritte, was besonders wichtig ist und revolutionär wäre, besteht darin, dass es möglich sein wird, mit der Parteistimme auch einzelne Listenkandidaten zu privilegieren, d. h. ganz bewusst einzelne Kandidaten auf der Liste stärker zu gewichten als andere. Das würde es den Wählerinnen und Wählern zum ersten Mal ermöglichen, auch auf die Blackbox der Parteiliste Einfluss zu nehmen. Und es ist an der Zeit, dass wir diese Blackbox der Parteilisten knacken.
Jetzt habe ich schon im Vorfeld zu diesem Thema viel Skepsis gehört, erstaunlicherweise sehr stark aus der SPD. Da hört man, das ist doch viel zu kompliziert, den Wähler kann ein solches Verfahren ja nur verwirren. Ich kann Ihnen nur sagen, machen Sie den Berliner Wähler nicht zum dummen August, denn er weiß sehr genau, was er will und was er nicht will. Ich kann Ihnen verraten: Der Berliner Wähler ist auch schlau genug, um mit diesen neuen Instrumenten, die er optional wählen kann, auch umzugehen.
Ich frage mich, was ist aus dieser Partei geworden, dieser SPD, die einst mit dem Wahlspruch angetreten ist: Mehr Demokratie wagen! Was wagen Sie denn heute? Wo ist dieser rot-rote Senat angekommen? Sie sind an einem Punkt angekommen, wo Sie überhaupt nichts mehr wagen, und vor allem wagen Sie es nicht, den Wählerinnen und Wählern mehr Selbstbestimmungsmöglichkeiten im Rahmen des Wahlrechts in die Hand zu geben. Deswegen helfen wir Ihnen auf die Sprünge.
Es ist nichts weniger das Ziel dieses Antrags als nicht nur das Verhältnis des Wählers zur Politik zu ändern; vor allem wird dieses Wahlrecht auch das Verhältnis der Politik zum Wähler ändern. Denn dieses Wahlrecht wird es erfordern, dass die Politik sich dem Wähler auch persönlich wieder ganz anders zuwendet, als es bisher der Fall war. Genau das beabsichtigen wir auch mit diesem Antrag.
Ich bedauere es ausdrücklich, dass Rot-Rot bisher keinerlei Anstalten gemacht hat, dem Ansinnen auch von „Mehr Demokratie e. V.“ und der hiesigen Initiative entgegenzukommen, eigene Vorschläge zu präsentieren, auch selbst aus der Deckung zu kommen und zu sagen, okay, das sind die Vorschläge, die wir mittragen, das sind die Vorschläge, die wir nicht mittragen. Sie verharren in einem gefährlichen Stillstand. Ich kann Sie nur warnen, denn wer zu spät kommt, den bestraft spätestens der Wähler.
Danke schön, Herr Kollege Jotzo! – Für die SPD-Fraktion hat nunmehr Herr Kollege Felgentreu das Wort. – Bitte schön, Herr Dr. Felgentreu!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Jotzo! Ich will Ihnen die Auskunft nicht schuldig bleiben, welchen Teil der Initiative „Mehr Demokratie“ zur Wahlrechtsreform wir mittragen: gar keinen. Und zwar nicht, weil wir in einem „gefährlichen Stillstand“ verharren, sondern weil das Wahlsystem, das wir heute haben, besser ist als das, was „Mehr Demokratie“ erreichen will.
Sie haben begonnen mit einer Ausführung darüber, wie Sie den Begriff Demokratie verstehen. Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass unser Demokratiebegriff ein anderer ist als der derjenigen, die den Begriff einmal erfunden haben. In Athen bedeutete Demokratie direkte Ausübung der Staatsgewalt durch das Volk. Das haben wir nicht. Aus Praktikabilitätsgründen werden es sogar diejenigen ablehnen, die vielleicht in der Theorie noch dafür sind. Aber eigentlich sagen wir: Wir wollen, dass jede Machtausübung demokratisch legitimiert wird, und dafür brauchen wir Verfahren. Wir wollen nicht die direkte Machtausübung.
Wenn es um diese Form demokratischer Legitimierung geht, Kollege Jotzo, dann ist das, was die FDP vorschlägt, in der Tat weniger geeignet, diese Demokratisierung und diese Legitimierung zu leisten, als das, was wir heute haben, und zwar präzise aus dem Grund, den Sie angeführt haben. Es ist in der Tat viel zu kompliziert. Ein Wahlrecht in der Demokratie muss so sein, dass die Wählerinnen und Wähler es verstehen. Ich will Ihnen das gern an einem Beispiel vorführen. Das hier ist der Stimmzettel, mit dem in München die Stadtverordnetenversammlung gewählt wird. – Sehen Sie mich noch? In Berlin wäre ein entsprechender Stimmzettel mindestens doppelt so groß. Ich sage Ihnen, was das bedeutet. Es bedeutet gar nicht, dass man Bürgerinnen und Bürger für dumm verkauft, wenn man sagt, dass die Bürgerinnen und Bürger so etwas nicht wollen. Es bedeutet: So ein Stimmzettel, Kollege Jotzo – überlegen Sie sich mal, was das für Oma Krause aus Britz bedeutet! Die kriegt Prüfungsangst! Die geht nicht zur Wahl, weil sie Angst hat, bei der Wahl durchzufallen. Oder Murat aus der Okerstraße, der seit einem Dreivierteljahr eingebürgert ist: Der sieht diesen Stimmzettel und sagt, ihr könnt mich … Ihr könnt auf meine Mitwirkung bei diesem Prozess verzichten.
So kann es nicht funktionieren. Das, was Sie mit Kumulieren und Panaschieren erreichen wollen, bewirkt nicht mehr, sondern weniger Einfluss für die Bürgerinnen und Bürger, weil sie es nicht verstehen, weil sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen, und weil sie im Zweifelsfall zu Hause bleiben. Es bewirkt deswegen auch nicht mehr, sondern weniger Demokratie. Deswegen sind wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten dagegen.
Vielen Dank! – Herr Kollege Felgentreu! Als Sie diesen Zettel hochgehalten haben – Ihnen ist schon klar, dass die FDP fünf Stimmen vorschlägt und der Zettel dann in keinen Fällen so aussehen würde, wie Sie ihn da eben gezeigt haben. Oder meinen Sie, dass er mit fünf Stimmen so groß wird?
Nein! Wie ich vollkommen richtig angenommen habe, wäre der Stimmzettel in Berlin wesentlich größer, denn in München gibt es nur drei Stimmen. Genau das wollte ich sagen.
[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion Christian Gaebler (SPD): Die Kandidaten müssen doch alle draufstehen!]
Das Prinzip des Kumulierens und Panaschierens hat durchaus seine Berechtigung, aber ausschließlich auf kommunaler Ebene und ausschließlich auf einer Ebene, die noch überschaubar ist. In einer Gemeinde wie HeideHolstein mit 25 000 Einwohnern, wo die einzelnen Bürgerinnen und Bürger die Chance haben, ihre Kandidatinnen und Kandidaten auch wirklich zu kennen, kann das sinnvoll sein. In einer Gemeinde von der Größenordnung Berlins kann es nicht funktionieren und wird nicht funktionieren, sondern wird im Gegenteil gefährlich sein. Es bewirkt eine Schwächung der Parteien. Sie werden schlechter als bisher in der Lage sein, ihrem Verfassungsauftrag, an der politischen Willensbildung mitzuwirken, nachzukommen. Ich weiß nicht, ob die FDP das wirklich will.
Ich kann nur eine Vermutung anstellen, warum die FDP so etwas für attraktiv halten könnte, denn die FDP als kleine Partei profitiert in der Regel von geringer Wahlbeteiligung. Da dieses Wahlrecht, das Sie vorschlagen, ein Instrument zur Abschreckung der Wählerinnen und Wähler ist, könnten Sie hoffen, indirekt davon zu profitieren.
Ich weiß nicht, ob dieses Kalkül tatsächlich eintreten würde. Ich bin mir jedenfalls sehr sicher, dass Sie dafür in diesem Hause keine Mehrheit finden werden. Nichtsdestotrotz werden wir Ihr Gesetz natürlich seriös im Ausschuss beraten
Danke schön, Herr Kollege Dr. Felgentreu! – Für die CDU-Fraktion hat nunmehr der Kollege Jotzo für eine Kurzintervention das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Dr. Felgentreu! Ich glaube, Sie haben sich mit Ihrer Einlassung hier keinen Dienst erwiesen,