Protokoll der Sitzung vom 25.10.2012

Ist eine Volksabstimmung bei jeder Verfassungsänderung sinnvoll? – Lassen Sie uns einen Blick auf die elf Änderungen werfen, die wir in diesem Haus seit 1995 durchgeführt haben, und stellen wir die Frage, ob das jeweils sinnvoll ist, dafür eine Volksabstimmung durchzuführen! Zunächst ging es los mit der Abschaffung der Freifahrten der Abgeordneten bei der BVG. Kaum ein volksabstimmungsgeeignetes Thema! 1998 folgte die Verkleinerung des Abgeordnetenhauses und die Bezirkszusammenlegung. Durchaus volksabstimmungstauglich! Weiter ging es mit der Schaffung der Abwahlmöglichkeit des Parlamentspräsidenten. Kaum volksabstimmungsgeeignet! Die 2004 aufgenommenen richterrechtlichen Regelungen zur

Schaffung gemeinsamer Obergerichte dürften nun wirklich nur wahre Verfassungsenthusiasten begeistern. 2005 wurden dann Bürgerentscheide auf Bezirksebene eingeführt.

[Christopher Lauer (PIRATEN) meldet sich zu einer Zwischenfrage.]

Herr Kollege! Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lauer?

Gerne!

Bitte, Herr Kollege!

Herr Behrendt! Habe ich Sie jetzt richtig verstanden, dass die Grünen seit 30 Jahren mehr Mitbestimmung bei Bürgerinnen und Bürgern fordern, weil sie das für total sinnvoll halten, aber diejenigen sein wollen, die am Ende darüber bestimmen, worüber das Volk, also der Souverän, abstimmen soll oder nicht? Sie rasseln hier gerade herunter, was abstimmungswürdig ist oder nicht. Wer soll es dann entscheiden?

Sie kennen doch aus dem Liquid-Feedback Ihrer Partei das Problem, dass sich nur sehr wenige beteiligen, wenn Sie viel ermöglichen, beispielsweise indem Sie die gesamte Tagesordnung des Abgeordnetenhauses einstellen. Man muss immer auch die Frage stellen, ob es gewünscht und überhaupt sinnvoll ist, für die eine oder andere Frage ein Referendum herbeizuführen. Sie haben gesagt, es solle in jedem Fall ein Referendum herbeigeführt werden. Wir sind der Meinung, dass dies durchaus diskussionswürdig ist. Wenn das Volk heute der Meinung ist, sie wollen unsere Verfassung ändern, können sie eine entsprechende Volksinitiative starten. Deswegen bin nicht ich derjenige, der das entscheidet, sondern die möglichen Initiatoren eines Volksbegehrens. – Ich sehe schon die nächste Frage, würde aber gern erst einmal weitermachen.

Herr Reinhardt hat auch noch eine Frage. Lassen Sie noch Fragen zu?

Na gut. Herrn Reinhardt nehme ich noch.

Bitte schön, Herr Reinhardt!

Herr Kollege Behrendt! Sie sagten gerade, es würde irgendwann zu viel. Dem stimme ich zu. Allerdings sagten Sie gerade, es hätte elf Änderungen innerhalb von 17 Jahren gegeben. Das ist noch überschaubar. Ich frage mich, ob man die Zahl reduzieren kann, indem das gebündelt wird und vielleicht einmal pro Jahr oder alle zwei Jahre eine Abstimmung stattfindet. Es muss nicht alle paar Monate eine Abstimmung erfolgen. Es gibt doch genug Möglichkeiten, damit sinnvoll umzugehen. Die Ausgestaltung liegt ohnehin im Rahmen des Senats. Darüber müssen wir uns nicht den Kopf zerbrechen.

Das müssten wir uns sicherlich im Ausführungsgesetz überlegen. Ich würde das nicht dem Senat überantworten. Es ist auch gar keine Frage, die man dem Senat überantworten kann, wie unsere hier beschlossene Verfassungsänderung tatsächlich ins Gesetzblatt kommt. An der Stelle bin ich noch nicht überzeugt. Lassen Sie uns das in den Ausschüssen noch einmal vertiefen und auch über solche Verfahrensfragen reden. Ich hatte schon angedeutet, dass über die notwendige Mehrheit auch zu reden sein wird. Insbesondere da sind wir, was die Volksinitiative für Verfassungsänderungen angeht, gesprächsbereit.

Ich möchte mit der Sichtung der hier durchgeführten Änderungen der Berliner Verfassung seit 1995 und der Frage, ob das jeweils volksabstimmungstauglich gewesen wäre, fortfahren. Ich war bei der Einführung von Bürgerentscheiden auf Bezirkseben und der Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre stehen geblieben. Das ist sicherlich ein Thema, bei dem man über eine Volksabstimmung nachdenken könnte. Auch 2006 gab es eine entsprechende Änderung. Es ging um die breit eingeführte Erweiterung und Ausweitung direkter Demokratie. Eine andere Änderung aus 2006, die weitergehenden Rechte für den Petitionsausschusses dieses Hauses, halte ich nicht für volksabstimmungstauglich. Auch die gesondert geänderte Erweiterung der Rechte von Enquetekommissionen ist eher eine hausinterne Angelegenheit, auch wenn es in der Verfassung steht. Ich glaube kaum, dass wir jemanden motivieren könnten, an die Wahlurne zu gehen.

2009 erfolgte die Festschreibung des Proporzbezirksamtes. Das wäre unter Umständen abstimmungstauglich gewesen. Auch die letzte hier beschlossene Änderung, die Stärkung von Kinderrechten in der Verfassung, hätte eventuell einer Volksabstimmung zugeführt werden können. Bei dieser groben Sichtung kommen wir daher zu folgendem Ergebnis: Von den elf Änderungen sind zwei uneingeschränkt tauglich für Volksabstimmungen, fünf sind untauglich, vier sind bedingt tauglich.

Sie müssten zum Ende kommen.

Ein dringend zu beseitigendes Demokratiedefizit vermag ich jedenfalls aufgrund dieser Sichtung nicht zu erkennen. Wir sind aber über die Ausgestaltung und Einführung dieser Regelung in den Ausschüssen gesprächsbereit. Ich freue mich auf die Diskussion. – Danke schön!

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Behrendt! – Für die Fraktion der CDU hat die Kollegin Seibeld das Wort. – Bitte sehr!

Sehr geehrte Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Dr. Behrendt hat mich fast überzeugt. Wenn weniger an der Verfassung herumgedoktert wird, ist es vielleicht eine ganz gute Idee. Wenn der Kollege Reinhardt nun vorschlägt, nur noch alle zehn Jahre abzustimmen, weil man alles zusammenfassen kann, ist es vielleicht sehr effektiv. Spaß beiseite!

[Lachen von Christopher Lauer (PIRATEN)]

Ich habe mir den einen Satz, den Sie als Änderungsantrag zustande gebracht haben, interessiert angeschaut. Erstens ist es kein Deutsch und passt nicht einmal grammatikalisch. Zweitens ist das, was hier alle hineingelesen haben, dort nicht einmal aufgeführt. Dort steht nicht: die erfolgreiche Durchführung einer Volksabstimmung, sondern vielmehr: Es ist eine Volksabstimmung durchzuführen. Vielleicht können Sie Ihre Änderungsanträge, wenn Sie schon an der Verfassung herumdoktern wollen, wenigstens so formulieren, dass wir alle das auch lesen, was Sie vermutlich gemeint haben, dass nämlich eine erfolgreiche Volksabstimmung durchzuführen ist.

Zur Frage der Mehrheiten und Quoren hat der Kollege Dr. Behrendt bereits vollumfänglich ausgeführt. Auch die Frage, ob die Volksabstimmung eigentlich vor der Parlamentsentscheidung oder danach erfolgen soll – das ist für beide Abstimmungen nicht ganz unerheblich –, kommt vorsichtshalber in der Begründung des Antrags nicht vor.

Frau Kollegin! Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Delius?

Danke! – Die Frage, ob die Bürgerinnen und Bürger von Berlin den Wunsch hegen, über Verfassungsänderungen im Wege der Volksabstimmung abzustimmen, stelle ich einmal dahin. Ich bin mir nicht sicher, ob das so ist. Der

Kollege Behrendt hat bereits die unterschiedlichen Thematiken, die es in den letzten Jahren gegeben hat, dargestellt. Ich glaube, dass das Interesse eher gering ist.

Rückschauend auch auf den in der letzten Sitzung von den Linken zu einer vergleichbaren Thematik vorgelegten und diskutierten Antrag würde ich einfach einmal bitten, die Fraktionen in diesem Haus, die daran ein gesondertes Interesse haben, einen entsprechenden Antrag zu formulieren, dies auch entsprechend zu benennen und vorzulegen, wenn Sie die repräsentative Demokratie zugunsten einer direkten Demokratie abschaffen wollen. Wir könnten dann im Rechtsausschuss dazu gern einmal darüber reden. Dann wären die Karten auf den Tisch gelegt; alle wüssten, worüber gesprochen wird. Wir würden eine staatstheoretische Diskussion darüber führen und könnten am Ende schauen, wer die besseren Argumente hat. Was ich aber auf Dauer ärgerlich finde, ist der Umstand, sich hinter irgendwelchen Anträgen, die jeweils tagesaktuell irgendwie interessant sein mögen, zu verstecken statt zu sagen, was man eigentlich möchte. – Vielen Dank!

[Beifall bei der CDU und der SPD]

Danke schön, Frau Kollegin Seibeld! – Der Kollege Dr. Weiß hat eine Kurzintervention beantragt.

Sie werfen uns vor, es sei kein richtiges Deutsch. Das finde ich jetzt wirklich bemerkenswert. In Artikel 100 der Verfassung besteht die Stelle, die geändert werden soll, aus einem Satz. Dort steht nur ein Satz. Es sind zwei Änderungen der Verfassung vorgesehen:

Änderungen der Verfassung erfordern vorbehaltlich der Regelungen in den Artikeln 62 und 63 eine Mehrheit von zwei Dritteln der gewählten Mitglieder des Abgeordnetenhauses.

Das steht im Moment in der Berliner Verfassung. Das ist, darauf können wir uns einigen, ein korrekter deutscher Satz. Ich glaube, es ist auch einer, der auch im Kontext zu den anderen Bestimmungen der anderen Bestimmungen der Verfassung und Gesetze in Bezug auf die Durchführung dieser Abstimmung klar ist.

Der von uns gestellte Antrag lautet, an diesen eben vorgetragenen Satz anzuhängen: und zusätzlich eine Volksabstimmung. Das ist die gleiche Formulierung.

[Cornelia Seibeld (CDU): Da steht, einer Volksabstimmung!]

Stopp, da steht – –

[Zurufe]

Ich bitte, diese Zwiegespräche zu unterlassen.

Ach so. Wenn dort ein R steht, so ist das ein Tippfehler. Ich hatte nicht gedacht, dass Sie auf diesem Niveau argumentieren.

[Beifall bei den PIRATEN – Zuruf von Christopher Lauer (PIRATEN)]

Das gibt es nicht bei Kurzinterventionen, lieber Herr Kollege Lauer.

Dass Sie uns vorwerfen, dass wir gegenüber Ihnen abweichende politische Vorstellungen allgemeiner Natur haben und wir unsere Vertretung im Parlament dazu nutzen, zu aktuellen politischen Fragen Anträge zu formulieren, die sich aus diesen ableiten und die dann möglicherweise so formuliert sind, dass sie auch eventuell von anderen aufgegriffen werden könnten und nicht nur denjenigen, die unsere politischen Vorstellungen genau teilen, finde ich einen bemerkenswerten Vorwurf. Ich dachte, es wäre genau das, was wir hier tun sollen. Es kann aber auch sein, dass ich mich irre.

[Beifall bei den PIRATEN]

Vielen Dank! – Möchten Sie erwidern, Frau Kollegin Seibeld? – Das ist nicht der Fall. – Für die Fraktion Die Linke hat jetzt Herr Dr. Lederer das Wort. – Bitte sehr!

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir befinden uns heute erst in der ersten Lesung. Wir müssen heute noch über gar nichts abstimmen, können uns ganz entspannt zurücklehnen und sagen, dass das heute nur erste Gedanken sind, die hier auf den Tresen kommen. Im Ausschuss haben wir dann Zeit, Für und Wider zu wägen. Vielleicht kommen wir dann kollektiv auch zu vernünftigen Ergebnissen. Das wird sich zeigen.

Prinzipiell haben wir uns als Linke hier in Berlin tatsächlich in der ersten Legislaturperiode von Rot-Rot für eine deutliche Vereinfachung der Verfahren direkter Demokratie ausgesprochen, sowohl auf Bezirksebene als auch auf Landesebene. Über die Verfassungsänderung, die die Volksbegehren zum Volksentscheidsmöglichkeiten auf Landesebene erleichtert haben, hat dann auch ein entsprechender Volksentscheid stattgefunden, gleichzeitig mit den Wahlen im Jahr 2006. Die Berlinerinnen und

Berliner haben sich da in großer Mehrheit für erweiterte Möglichkeiten direkter Demokratie ausgesprochen.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lux?

Ja, bitte!

Vielen Dank, Herr Kollege Lederer! Sie haben gerade ausgeführt, dass die rot-rote Koalition durch eine Reihe von Entscheidungen zu einer Erleichterung von Volksbegehren und Bürgerentscheiden geführt hat. Beziehen Sie damit auch die Entscheidung ein, das Proporzbezirksamt beizubehalten?

[Heiterkeit bei den PIRATEN]

Mein Vorschlag wäre, dass wir die Frage des Proporzbezirksamts unter dem Gesichtspunkt des Proporzbezirksamts diskutieren, nicht dem direkter Demokratie. Man kann der Ansicht sein, dass Mehrheitsbezirksämter als politische Bezirksämter eine stärkere bürgerschaftliche Mitwirkung beinhalten. Man kann auch der Ansicht sein, dass das Proporzbezirksamt garantiert, dass bürgerschaftliche Entscheidungen im großen Konsens getroffen werden. Da spricht das eine dafür, das andere dagegen. Ich persönlich bin eher ein Freund des politischen Bezirksamts, daraus habe ich nie einen Hehl gemacht. Aber das ist ein anderes Thema, das sollten wir auskoppeln, sonst sind wir in der Situation, dass wir alles auf einem Haufen diskutieren.

Ich bleibe jetzt mal bei der direkten Demokratie und will mich auf den Antrag der Piraten beziehen. Wir sind bei der direkten Demokratie als Hauptstadt Berlin auf alle Fälle nicht das Schlusslicht, sondern ziemlich weit oben. Das heißt aber noch lange nicht, dass man nicht noch mehr machen kann. Vor nicht allzu langer Zeit haben wir – das wurde hier mehrfach erwähnt – eine Referendumspflicht bei der beabsichtigten Übertragung zentraler öffentlicher Aufgaben an Private vorgeschlagen. Das dient alles – wie auch direkte Demokratie an sich, Frau Kollegin Seibeld – nicht dem Zweck, die repräsentative Demokratie abzuschaffen, sondern es dient dem Zweck, die repräsentative Demokratie durch demokratische Möglichkeiten zu ergänzen und den direkten Einfluss der Bürgerinnen und Bürger zu stärken. Dagegen hatte hier im Haus immer mal wieder jemand etwas, aber ich habe gehofft, dass wir uns inzwischen über eine Frage einig sind: dass die direkte Demokratie Berlin bereichert hat und dass über diverse politische Fragen hier in der Stadt