Protokoll der Sitzung vom 24.11.2011

Aber diese Unterstellung, die Kolleginnen und Kollegen von der CDU behandeln das Thema wie Gewalt gegen Autos – oder das ist ihnen noch wichtiger –, ist eine bos

hafte Unterstellung, die ich hier auch für die Kolleginnen und Kollegen zurückweisen möchte.

[Beifall bei der SPD und der CDU]

Es ist zum Glück in Deutschland schon viel geschehen, um Gewalt, auch häusliche Gewalt, einzudämmen. Ich will nur beispielhaft das Gewaltschutzgesetz nennen.

Der Antrag, den Sie heute vorgelegt haben, gehört auch in das Themenfeld – ohne jeden Zweifel. Allerdings erscheint es mir etwas zu kurz gegriffen zu sagen, Zwangsehen sind ausschließlich ein Problem von Frauen. Wenn man sich dem Phänomen nähert, glaube ich, kommt man nicht umhin, über die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern zu reden, denn es sind leider auch häufig männliche Kinder, Jungen, die von ihren Eltern zwangsverheiratet werden.

[Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Ich will hier nichts relativieren. Nach allen Informationen, die wir haben, sind in der Regel die Frauen in Zwangsehen deutlich schlechter gestellt, ich will es mal ganz vorsichtig formulieren, als die Männer. Aber das Problem ist im mangelnden Respekt von Eltern gegenüber ihren Kindern, vor dem Selbstbestimmungsrecht ihrer Kinder zu suchen. Das muss man in dem Zusammenhang mit angehen.

[Beifall bei der SPD und der CDU]

Mir erscheint es insofern richtig, dass die Fraktion der Piraten mit ihrem Änderungsantrag darauf hinweist – so habe ich ihn jedenfalls verstanden; auch diese jüngere Studie zeigt es –, dass es auch ein Problem von Männern ist. Ich betone hier das „auch“ – ich will nichts relativieren. Ich denke, dass wir das, wenn es beraten wird, gemeinsam in dem zuständigen Ausschuss berücksichtigen sollten, um dann zu adäquaten Formulierungen zu kommen.

Ein letzter Punkt: Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass man die Hilfe noch verbessern, noch ausbauen muss. Ob jetzt wirklich Beauftragte in jedem Sozialraum die Lösung sind, da habe ich meine Zweifel, aber das muss man sorgfältig diskutieren. Ich habe bei den Beauftragten manchmal die Sorge, dass einfach in jedem Sozialraum oder in einer Behörde im Bezirksamt noch jemand als Beauftragter benannt wird, der das nebenher machen soll. Das würde wahrscheinlich wenig bringen. Aber das muss dann gemeinsam diskutiert werden. Wichtig ist, dass die Betroffenen tatsächlich Hilfe erhalten.

[Beifall bei der SPD und der CDU – Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN]

Vielen Dank! – Für die Fraktion der Linken hat die Abgeordnete Frau Sommer das Wort. – Bitte!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frauenrechte sind Menschenrechte – man kann dies nicht oft genug sagen. Der 25. November ist der internationale Gedenktag „Nein zu Gewalt gegen Frauen“. – In diesem Jahr wird zum zweiten Mal die Fahne „Frei leben – ohne Gewalt“ vor dem Abgeordnetenhaus gehisst. Dies geht auf eine Initiative der Fraktion Die Linke und der Überparteilichen Fraueninitiative zurück. Dieser internationale Gedenktag soll uns Anlass geben, der Opfer zu gedenken, aber auch darüber nachzudenken, wie wir Frauen besser vor Gewalt schützen und ihnen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen können.

Immer noch unterliegen viele Mädchen und Frauen patriarchalen Gesellschafts- und Familienverhältnissen und werden zu Opfern von häuslicher Gewalt und Zwangsehen. Gewalt gegen Frauen geht uns alle etwas an. Es ist ein Problem, das alle Schichten der Gesellschaft durchzieht. Die aktuelle Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren und Frauen zum Thema Zwangsverheiratung in Deutschland – sie wurde bereits erwähnt – zeigt, dass häusliche Gewalt gegen Mädchen und Frauen wieder zunimmt. Das bedeutet, dass wir uns stärker für die Opfer von Gewalt einsetzen müssen.

[Anja Kofbinger (GRÜNE): Nein! Wir müssen die Gewalt verhindern!]

Ja, verhindern, auch dafür einsetzen, dass sie keine Gewalt erfahren. Sie brauchen unsere Soforthilfe. Sie brauchen aber auch – das ist genauso wichtig – eine sichere Perspektive in unserem Land.

[Anja Kofbinger (GRÜNE): Wir machen beides. Das ist in Ordnung!]

Alle Mädchen und Frauen, die von Gewalt betroffen sind, haben einen Anspruch auf Schutz und Hilfe. Doch bei Frauen, die nur eingeschränkte Ansprüche auf Sozialleistungen und keinen gesicherten Aufenthaltsstatus haben, ist dies nur schwer möglich. Was nützt es der arbeitslosen Ehefrau, wenn der gewalttätige Mann aus der Wohnung verwiesen wird und sie allein bleibt, aber die Miete nicht bezahlen kann? Was soll die Migrantin machen, die sich drei Jahre nach Eheschließung nicht scheiden lassen kann, ohne Gefahr zu laufen, ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren? Die heutigen Reden der beiden Vorredner haben gezeigt, dass es eine gewisse Sensibilisierung für das Thema gibt, jedoch werden die Wurzeln des Problems oft nicht angegangen.

Sie wissen, dass die Bundesregierung im März dieses Jahres eine willkürliche Erhöhung der Ehebestandszeit von zwei auf drei Jahren beschlossen hat. Damit wurde die Situation der zwangsverheirateten Frauen erheblich verschlechtert. Das tat die Bundesregierung ausgerechnet mit einem Gesetz, das sie zur Bekämpfung von Zwangsverheiratungen verabschiedet hat. Statt den Opfern zu

helfen, werden sie länger an ihre gewalttätigen Ehemänner gekettet. Das ist meines Erachtens blanker Zynismus.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Dies ist von vielen NGOs und von uns, der Fraktion Die Linke, immer wieder massiv kritisiert worden. Opfer von Zwangsheirat und Frauen, die Gewalt erfahren, brauchen Schutz vor Diskriminierung und Gewalt. Deswegen muss ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für Frauen, die Opfer von Gewalt in der Ehe, von Zwangsheirat und Menschenhandel sind, eingeführt werden. Die rot-rote Koalition in Berlin hatte im vergangenen Jahr eine entsprechende Bundesratsinitiative gestartet, die jedoch keine Mehrheit fand. Ich sehe die jetzige Landesregierung auch in der Pflicht, sich hier weiter zu engagieren und eine erneute Bundesratsinitiative zu starten.

Seit Jahren existiert in Berlin ein funktionierendes System von Einrichtungen, das Opfer von Zwangsehen und häuslicher Gewalt betreut und Schutz bietet. Es konnte in den letzten Jahren zunächst stabilisiert werden. Durch Etaterhöhung und zweijährige Verträge wurde Planungssicherheit geschaffen. Jedoch reicht das System heute nicht mehr aus. Gestern hatte ich ein Fachgespräch mit Vertreterinnen des interkulturellen Frauenhauses, die mich darauf aufmerksam gemacht haben, dass viele Frauenhäuser in Berlin mittlerweile überfüllt sind. Es werden sogar Frauen in Obdachlosenheimen untergebracht. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Die SPD-CDUKoalition ist nun in der Verantwortung, den bisherigen Kurs in Berlin fortzusetzen und das Netz zum Schutz der von Gewalt betroffenen Frauen nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern es dem aktuellen Bedarf entsprechend auszubauen. Den Worten müssen selbstverständlich auch Taten folgen.

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Abgeordnete!

Ich komme zum Schuss. – Der hier eingereichte Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Piratenfraktion geht uns nicht weit genug. Deshalb werden wir im Ausschuss, wenn es auf der Tagesordnung steht, einen eigenen Antrag einbringen. Dann werden wir auch ausführlich darüber reden, ob Migranten – Jungen – Gewalt erfahren oder nicht, zwangsverheiratet werden oder nicht. Ich selbst komme aus der Community und habe dazu eine eigene Meinung, die ich dem Ausschuss erklären werde.

[Beifall bei der LINKEN – Beifall von Anja Kofbinger (GRÜNE) und Martin Delius (PIRATEN)]

Danke schön! – Für die Fraktion der CDU hat die Abgeordnete Frau Vogel das Wort. – Bitte!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwangsverheiratung ist ein Verbrechen. Dieses Verbrechen geschieht mitten in unserer aufgeklärten und modernen Gesellschaft und nicht nur in Einzelfällen. Das ist unfassbar und für viele von uns nicht vorstellbar. Aber Zwangsverheiratung ist nach wie vor Realität, auch hier in Deutschland und direkt vor unseren Augen. Ganz aktuell wird das durch die bereits erwähnte Studie, die von Familienministerin Schröder in Auftrag gegeben wurde und deren Veröffentlichung erst wenige Tage zurückliegt, eindrucksvoll belegt. Es ist die erste Studie, die bundesweit zu diesem Thema erstellt wurde.

Im Ergebnis kommt diese Studie unter anderem zu dem Schluss, dass vorwiegend Menschen mit Migrationshintergrund im Alter zwischen 18 und 21 Jahren davon betroffen sind, auch Menschen deutscher Staatsbürgerschaft. Die Eltern kommen in den meisten Fällen aus der Türkei, deutlich weniger aus Serbien, dem Kosovo, Montenegro, Irak und Afghanistan. Zwangsverheiratung geht oft mit familiärer Gewalt einher, und es sind nicht ausschließlich junge Frauen betroffen, sondern auch junge Männer. Trotz Aufklärungsarbeit und Beratung ist der steigende Trend bei der Anzahl der Zwangsverheiratungen ungebrochen.

Die CDU-Fraktion begrüßt deshalb ausdrücklich das im März dieses Jahres von der Bundesregierung verabschiedete Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat.

[Beifall bei der CDU]

Mit diesem Gesetz wurde erstmalig Zwangsheirat als eigener Straftatbestand im Strafgesetzbuch verankert.

[Zuruf von den PIRATEN: Das ist doch reine Kosmetik!]

Dies ist ein wichtiger Fortschritt für alle junge Menschen, die gegen ihren Willen und unter Androhung und Ausübung von Gewalt verheiratet werden sollen. Ich denke, wir sind uns hier alle einig, dass weiterhin Anstrengungen unternommen werden müssen, um wirkungsvolle Präventionsmaßnahmen zu ergreifen und um den Opfern unbürokratisch und schnell zu helfen. Die Frage ist dabei aber, wie wir es umsetzen wollen.

Der vorliegende Antrag bietet nach unserer Auffassung dazu nichts wirklich Neues, sondern er greift lediglich den eigenen Antrag der Grünen aus dem Jahr 2008 auf. Dieser stand unter dem Titel „Berlin wirbt präventiv gegen Zwangsheirat“. Von den dort aufgeführten sieben Forderungen bleiben jetzt nur zwei in deutlich ab

gespeckter Form übrig. Das sind Beratungs- und Betreuungsangebote durch Berliner Behörden sowie eine mehrsprachige Aufklärungskampagne. Das ist eine deutliche Reduzierung; zumal wieder darauf verzichtet wird, junge Männer einzubeziehen, die ebenfalls von Zwangsheirat bedroht sein können. Hier geht der Änderungsantrag der Fraktion der Piraten in die richtige Richtung.

Der vorliegende Antrag ist mit einer so schnellen Nadel gestrickt, dass es notwendig ist, ihn in den zuständigen Ausschuss zu überweisen. Dort sollten wir gründlich prüfen, wie sich die Beratung und Betreuung betroffener Menschen im Land Berlin seit dem Jahr 2008 verändert bzw. verbessert hat. Darauf aufbauend sollte gemeinsam darüber nachgedacht werden, wo noch immer Lücken im System sind, die gegebenenfalls geschlossen werden müssen. Die CDU in Berlin ist bereit, dazu ihren Beitrag zu leisten. – Vielen Dank!

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Vielen Dank! – Der Abgeordnete Kowalewski hat für die Piratenfraktion das Wort. – Bitte sehr!

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen beliebigen Geschlechts! Ich benutze das generische Femininum, das hier schon ein paar Mal die Runde gemacht hat. Im Antrag ist auch von die Rede von einer Beauftragten. Ich hoffe, dass damit auch eine männliche Beauftragte gemeint sein kann.

Liebe Kollegin Kofbinger! Wir finden Ihren Antrag sehr gut und unterstützenswert und bringen trotzdem einen Änderungsantrag ein. Wir finden ihn gut, weil auch wir der Meinung sind, dass die Zwangsverheiratung den krassest vorstellbaren Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung darstellt; einerseits, weil er potenziell die Betroffenen ihr ganzes Leben lang beeinträchtigt und sie in ihrem grundlegendsten Menschenrecht, nämlich der Erfüllung der eigenen Wünsche in einer selbstgewählten, liebevollen Partnerschaft, beraubt und die Zwangsverheirateten somit jeden Tag erneut mit schwierigen bis ausweglosen Fragen konfrontiert. Andererseits wird die Zwangsehe gesellschaftlich weniger geächtet als die körperliche Vergewaltigung, sodass Menschen, die Opfer solcher Untaten geworden sind, schnell das Gefühl erhalten, allein mit ihrem Problem dazustehen und keine Unterstützung finden zu können. Welchen Einfluss diese auf Zwang aufgebaute Familie auf die Kinder hat, die in ihr aufwachsen, brauche ich wahrscheinlich nicht näher auszuführen. Das kann sich vermutlich jedes Mitglied dieses Hauses selbst ausmalen.

Allerdings irren Sie in Ihrer Auffassung, das Problem beträfe nur Frauen und Mädchen. Auch Jungen und Männer sind von Zwangsehen betroffen. Sie kommen statistisch zwar nur auf sechs Prozent der erfassten Fälle, aufgrund der gesellschaftlich verordneten Männerrollen und der Tatsache, dass heute existierende Hilfs- und Beratungsangebote sich vor allem an Frauen richten, wird der tatsächliche Männeranteil aber wesentlich höher liegen.

Auch wenn sich zwei Drittel der erfassten Fälle in religiösen Migrantenfamilien ereignen – womit übrigens auch Jesiden und Christen gemeint sind, die in ebenfalls nennenswerter Anzahl in der Studie des BMFSFJ erwähnt sind –, ist die Zwangsehe kein rein migrantisches Problem. Eheanbahnungen über sozialen und finanziellen Druck sind in jeder Kultur verbreitet. Der Graubereich zwischen einer freiwilligen Ehe und der Verschleppung zwecks Verheiratung ist riesig. Das muss man Leuten, die eine Kufiya mit einem Handtuch verwechseln, auch einmal sagen.

[Beifall bei den PIRATEN]

Es ist zudem zutiefst menschenverachtend, dass die neueste Änderung des Aufenthaltsgesetzes – durch die seit heute hier mitregierende CDU und einer heute hier nicht mehr vertretenen Partei – die Zwangsverheirateten, die zum Zweck des Erwerbs des Bleiberechts vermählt worden sind, jetzt drei statt zwei Jahre dieser Folter aussetzt. Das macht auch die strafrechtliche Kosmetik, wonach man jetzt neben der Nötigung auch noch einen extra Paragrafen hat, keinen Deut besser. Deswegen wollen wir Sie aufrufen, für einen Schutz aller Betroffenen zu votieren, und zwar unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft und unabhängig davon, auf welche Art und Weise der Zwang zur Ehe ausgeübt wurde.

Zum Schluss wollte ich noch darauf hinweisen, dass dieser Änderungsantrag in einem Schnellverfahren in unserem Antragssystem LiquidFeedback erstellt wurde und dort von der Parteibasis mit 82 Ja-Stimmen einstimmig auf den ersten Rang gewählt wurde. Das können Sie auch nachschauen. Es ist das Thema 600. Außerdem sehen wir uns alle morgen früh um 9 Uhr, wenn die Fahne von Terre des Femmes vor diesem Haus gehisst wird. – Vielen Dank!

[Beifall bei den PIRATEN]

Vielen Dank! – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. es wird die Überweisung des Antrags und des Änderungsantrags an den künftig für Frauen zuständigen Ausschuss vorgeschlagen. – Hierzu höre ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.

Ich komme zur

(Vizepräsidentin Anja Schillhaneck)

lfd. Nr. 10: