Politik und Moral trennen. Wieso trennen Sie Politik und Moral? Wieso haben Sie nicht den Anstand, in der heutigen Debatte das Wort zu ergreifen? – Sie haben sich ausschließlich über die Presse geäußert, aber Sie haben nicht ein Mal heute in der Debatte vorgehabt, das Wort zu ergreifen, nehme ich an; ansonsten würden Sie wahrscheinlich hier als Nächstes stehen und sich erklären. Sie müssen sich erklären, und zwar deshalb, weil Sie eine Vorbildfunktion haben.
Ich möchte meine letzten 40 Sekunden darauf verwenden, aus einem Schreiben zu zitieren, das viele von Ihnen heute bekommen haben: Niemals zuvor hat unser Haus eine solch fachliche und leider auch menschlich überforderte Führungskraft erlebt, wie mit Frau Senatorin Günther es der Fall ist.
Viele Stellen – sogar wichtige Schlüsselstellen – kann Frau Senatorin nicht besetzen. Viele andere befinden sich – und das ist doch viel schlimmer als alles andere – längst in einer Art inneren Resignation. Mit Frau Senatorin Günther hat die Kultur des Mobbings in unserem Haus Einzug gehalten. – So das offene Schreiben, das heute viele Kollegen hier im Haus bekommen haben. Sie sind verdammt noch mal in der Verantwortung, etwas zu tun! Wenn Sie nicht in der Lage sind, etwas zu tun, dann müssen Sie heute auch die Verantwortung dafür übernehmen und zurücktreten, weil man das, was in Ihrem Haus vorgeht, nicht hinnehmen kann, und es wird am Ende auch nicht zu einer besseren Verkehrspolitik in unserer Stadt führen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Anwesende! Ja, wir haben in den vergangenen Tagen wahrlich eine genauso schmerzhafte wie grenzverletzende Debatte erlebt – eine Debatte, in der sich viele Vorurteile, die es gegenüber der Politik und den Politikerinnen und Politikern gibt, zu bestätigen scheinen, und eine Debatte, deren Härte nicht zuletzt daran abzulesen ist, dass hier ausgerechnet eine der privatesten Fragen überhaupt öffentlich verhandelt und zum Gegenstand von politischem Gezänk und Gezerre gemacht wurde. Das ist eine Frage, die eigentlich nur den Betroffenen und seine
Angehörigen etwas angehen dürfte, nämlich die nach dem Gesundheitszustand und den Heilungschancen eines schwer erkrankten Menschen. Hier wurden Grenzen überschritten, und darauf kann niemand stolz sein, am allerwenigsten diejenigen, in deren Verantwortung es gestanden hätte, diese Debatte gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Und das sind zuallererst wir als Grüne, Herr Melzer! – Dafür haben Vertreterinnen und Vertreter meiner Partei – inklusive Regine Günther – um Entschuldigung gebeten, und dieser Bitte will ich mich hier ausdrücklich anschließen.
Die Frage, die Sie, Herr Dregger, heute hätte beantworten müssen, ist folgende: Wem nützt es eigentlich, diese unwürdige Debatte nun auch noch fortzusetzen und damit verlängern zu wollen? Wenn Ihre Vorwürfe gegenüber Frau Günther und meiner Partei zutreffen, warum leisten dann ausgerechnet Sie dem Eindruck Vorschub, dass hier weiterhin auf dem Rücken des erkrankten Jens-Holger Kirchner Politik gemacht wird? – Würde es Ihnen tatsächlich um ihn als Menschen gehen, warum zerren Sie dann ihn und die gesamte Debatte um seine Situation ein weiteres Mal ins grelle Licht der Öffentlichkeit, in diesem Fall des Parlaments?
Warum kritisieren Sie dann ausgerechnet jene Lösung, die es von Anfang an hätte geben müssen und von der Herr Kirchner selbst sagt, dass sie eine einvernehmliche und für ihn tragfähige ist?
Im Namen meiner Fraktion bedanke ich mich bei all denjenigen, die diese Lösung möglich gemacht haben: bei unseren Koalitionspartnern, bei dem Regierenden Bürgermeister und natürlich bei Jens-Holger Kirchner selbst, dessen Kompetenz und Expertise dieser Stadt und dem Senat damit erhalten bleiben.
Ich kann Ihnen versichern, in meiner Partei ist niemand stolz auf das, was wir in den vergangenen Tagen erlebt haben. Im Krankheitsfall muss es auch bei einer öffentlichen Person einen privaten Schutzbereich geben. Arztbriefe und dergleichen gehören nicht in die Zeitung. Dergleichen Diskussion gehört sich generell nicht. Und ja, Herr Dregger, vielleicht bin ich da sogar konservativer und bürgerlicher als Sie.
Bei aller berechtigten Kritik an uns Grünen und einzelnen handelnden Personen: Auch hier sollte eine Grenze
gewahrt bleiben, die genau dort verläuft, wo der Bereich des Politischen aufhört und der menschliche Anstand beginnt. Wer zum wiederholten Male behauptet, dass der Entscheidung der Senatorin wissentlich und willentlich unlautere Motive zugrunde liegen, der will bewusst oder unbewusst die Tatsachen gar nicht zur Kenntnis nehmen.
Glauben Sie wirklich, Herr Dregger, dass Frau Günther, wie Sie es in Ihrem Antrag schreiben, Ihren Staatssekretär – Zitat – „ausschließlich aus Krankheitsgründen“ in den einstweiligen Ruhestand versetzt hat? Hand aufs Herz! Glauben Sie das wirklich?
Klar ist doch, es konnte in dieser Sache gar keine einwandfrei richtige Entscheidung geben, und gleichzeitig musste eine getroffen werden. Diese Entscheidung hat sich mit Sicherheit niemand leichtgemacht, schon gar nicht Regine Günther selbst, denn in ihrer Position und Rolle ist Verantwortung immer mehrdimensional, als Verantwortung gegenüber jedem einzelnen Mitarbeiter wie Herrn Kirchner, der Fürsorge gegenüber den vielen Hunderten anderen und der Verwaltung als Ganzem, aber natürlich auch der Verantwortung gegenüber der Stadt und den Berlinerinnen und Berlinern insgesamt.
Dazu gehört im Falle von Frau Günther bekanntlich auch die Verantwortung für das Gelingen der Berliner Mobilitätswende.
Hier wie seitens der Opposition einerseits zu kritisieren, dass angeblich zu wenig vorangeht, und andererseits ein von niemandem gewolltes und verschuldetes Vakanzproblem an der Verwaltungsspitze für sakrosankt zu erklären, ist mindestens inkonsequent, wenn nicht bigott.
Nein, vielen Dank! – Die eigentliche Wahrheit ist doch, dass es sich um ein klassisches Dilemma handelt für jeden, der politisch Verantwortung trägt und dabei Mensch bleiben will, gerade in einem System, in dem Menschen in politischen Spitzenämtern und als politische Beamte große Privilegien genießen, aber z. B. im Fall von Krankheit und Elternschaft faktisch weniger Rechte haben als fast alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land. Und ja, lassen Sie uns gerne darüber sprechen, wie wir das ändern!
Ich habe im letzten halben Jahr niemanden in meiner Partei und Fraktion einschließlich der Senatorin selbst erlebt, der sich nicht für eine Lösung zugunsten von Herrn Kirchner starkgemacht hätte, inklusive des Versuchs, seine Rückkehr in den politischen Beruf nach seiner Genesung auch wirklich sicherzustellen. Es dürfte wenig andere Fälle im politischen Geschäft geben, wo über einen so langen Zeitraum und so intensiv hinter den Kulissen nach einer genauso menschlichen wie politisch funktionalen Lösung gesucht wurde, für und mit JensHolger Kirchner. Dass das erst auf den letzten Metern und vor dem Hintergrund einer schmerzhaften öffentlichen Debatte gelungen ist, dafür müssen wir als Grüne die politische Verantwortung übernehmen.
Aber wer Frau Günther hier Vorsatz unterstellt und ihr damit jeglichen menschlichen Anstand abspricht, wird diesem Anspruch selber nicht gerecht. Herr Dregger! Auch deswegen wird meine Fraktion Ihren Antrag ablehnen. – Vielen Dank!
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU: Ist doch scheinheilig!]
Vielen Dank, Herr Präsident! – Sehr geehrter Kollege Wesener! Sie müssen der Opposition schon zugestehen, dass sie Opposition betreibt, auch wenn es Ihnen wehtut.
Ich möchte darauf hinweisen, dass diese Debatte nicht von uns begonnen wurde, und ich belege das mit einem Zitat des betroffenen ehemaligen Staatssekretärs JensHolger Kirchner, der sich in der „B. Z.“ wie folgt zitieren lässt – ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten wörtlich –:
Selbstverständlich haben wir die Pflicht, die fachlichen, aber auch die charakterlichen Eignungen von Senatoren kritisch zu beäugen. Und Sie werden es nicht erreichen, dass wir diese Aufgabe nicht erfüllen. Sie können davon ausgehen, dass uns das keinen Spaß macht, aber wir können es Ihnen auch nicht durchgehen lassen.
Zweiter Punkt: Frau Senatorin Günther hat bisher jedenfalls nicht die Gelegenheit genutzt, die ihr nach unserer Geschäftsordnung zusteht, sich hier an diesem Rednerpult zu erklären, aus welchen Gründen sie ihn denn entlassen hat, wenn die öffentliche Berichterstattung falsch sein sollte oder wenn die öffentlichen Stellungnahmen von Herrn Kirchner falsch sein sollten, die ich gerade zitiert habe.
Deswegen fordere ich Sie noch mal auf: Nutzen Sie die Möglichkeit, um hier Ihre Position zu beleuchten!