Protokoll der Sitzung vom 20.08.2020

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Thema Nationalsozialistischer Untergrund und rechtsextremistischer Terror beschreibt die Geschichte einer jahrelangen Unterschätzung einer Gefahr. Das ging praktisch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs los. Wir haben das in den alten Bundesländern in den Sieb

(Marcel Luthe)

ziger- und Achtzigerjahren erlebt, die Wehrsportgruppen, der Anschlag auf das Oktoberfest, Anfang der Neunzigerjahre die Situation in den neuen Bundesländern. Als dann die Terrortaten des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes stattfanden, sind sie unterschätzt worden. Sie konnten gar nicht möglich sein, weil die Ermittler sich nicht vorstellen konnten, dass Taten gegen Menschen allein wegen ihrer Herkunft begangen werden und Menschen allein wegen ihrer Herkunft Ziel des Hasses wurden. Als dann die Ermittlungen gezeigt haben, dass es tatsächlich so war, ist uns das Problem des rechtsextremistischen Terrors schmerzlich ins Bewusstsein gerückt worden. Aber auch danach ging es weiter, und wer glaubte, der NSU-Terror sei nur eine temporäre Erscheinung gewesen, der irrte sich. Die Täter wechseln, der rechte Terror bleibt.

Und er wächst sogar an. Leider hat es bis in die jüngste Vergangenheit zahlreiche weitere rechtsextremistische Anschläge, Morde, Mordversuche gegeben. Ich denke an Hanau, an Halle, an die Politikerinnen und Politiker, die im Zuge ihres Einsatzes für eine humane Flüchtlingspolitik zum Ziel rechtsextremistischen Terrors wurden. Hier ist vor allem der ermordete Regierungspräsident von Kassel, Walter Lübcke, zu nennen, aber auch die Oberbürgermeisterin von Köln, Henriette Reker, die von einem Rechtsextremisten mit dem Messer verletzt wurde und die weiterhin Morddrohungen erhält. Dieser Terror von rechts ist eine Bedrohung für unser friedliches und zivilisiertes Leben, und er ist eine Herausforderung für uns alle, denen Demokratie, Vielfalt, Freiheit und Toleranz am Herzen liegen. Er ist insbesondere eine Herausforderung für den Staat, der für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger sorgen muss.

Wie Sie wissen, wurde nach dem Bekanntwerden der Mordserie des NSU bundesweit festgestellt, dass es Versäumnisse und Defizite gegeben hatte, insbesondere bei den Verfassungsschutzbehörden, aber auch bei den Sicherheitsbehörden. Von den Unterschätzungen habe ich hier schon gesprochen. Das alles hat zu wichtigen Veränderungen geführt, auch in Berlin, von denen ich Ihnen hier nur einige wenige darstellen möchte.

Zunächst wurde auf Bundesebene das Gemeinsame Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum eingerichtet, das dem Informationsaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden des Bundes und denen der Länder dient. Hier gab es enormen Verbesserungsbedarf. Daher war die Gründung dieses Zentrums wichtig und auch richtig. Nach seinem Vorbild kommen seit April 2019 auch in Berlin die Polizei und der Verfassungsschutz in einem gemeinsamen Informations- und Bewertungszentrum Rechtsextremismus regelmäßig zur Erörterung staatsschutzrelevanter Themen zusammen. Dieses Gremium wurde vor allem vor dem Hintergrund der rechtsextremistischen Straftaten in Neukölln eingerichtet, auf die ich gleich noch zu sprechen komme. Darüber hinaus wurden

in beiden Behörden organisatorische Anpassungen vorgenommen und die jeweiligen Fachbereiche über die Jahre hinweg personell massiv aufgestockt.

Rechtsextremismus entsteht nicht im luftleeren Raum. Zur zentralen Plattform für die Verbreitung antisemitischer Propaganda hat sich das Internet entwickelt, wo in zahlreichen Foren, Chats und Plattformen zunehmend enthemmter gegen Jüdinnen und Juden und gegen den Staat Israel gehetzt wird. Das alles muss uns täglich alarmieren. Deshalb begrüße ich es außerordentlich, dass die Polizei Berlin im August 2019 einen Antisemitismusbeauftragten benannt hat als zentrale Ansprechperson sowohl für die Polizistinnen und Polizisten als auch für externe Partnerinnen und Partner. Darüber hinaus wurde aus meinem Haus heraus der Runde Tisch gegen antisemitische Gewalt ins Leben gerufen. Seit September 2019 treffen sich hier regelmäßig die Vertreterinnen und Vertreter von Verwaltung und Polizei mit denen mehrerer jüdischer Organisationen, um gemeinsam über Lösungsansätze zur Verhinderung antisemitischer Gewalt zu reden. Wie Ihnen sicher auch bekannt ist, habe ich in der vorletzten Woche gemeinsam mit der Polizeipräsidentin ein Konzept zur Vorbeugung und Bekämpfung möglicher extremistischer Tendenzen vorgestellt. Das Konzept beginnt mit elf Maßnahmen, darunter im Schwerpunkt Aus- und Fortbildung. Beratungsangebote sind Thema, aber vor allem auch die intensivere Überprüfung von Bewerberinnen und Bewerbern am Anfang der Karriere bei der Polizei.

Wir haben vor, einen Extremismusbeauftragten bei der Polizei einzurichten, um uns dieser Thematik fortlaufend zu widmen, weil es ein Thema ist, was uns über Jahre und Jahrzehnte beschäftigen wird. Aber ich möchte an der Stelle noch einmal ganz deutlich betonen – Frank Zimmermann hat es hier auch schon gesagt –: Der ganz überwiegende Teil der Polizistinnen und Polizisten steht mit beiden Beinen auf dem Boden unserer Demokratie. Es gibt keine Anhaltspunkte für rechtsextremistische Strukturen innerhalb der Polizei Berlin, aber dennoch reicht das Handeln Einzelner aus, den ganzen Berufsstand in Misskredit zu bringen, und das müssen wir vermeiden.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Die Polizei muss über jeden Zweifel an ihrer Verfassungstreue erhaben sein, und das gilt übrigens auch für andere Bereiche. So werde ich innerhalb meines Ressorts das Konzept auch auf den Verfassungsschutz und die Feuerwehr ausdehnen.

Eine wesentliche Rolle spielt auch der mitfühlende Umgang mit den Opfern rechtsextremer Gewalt und mit Menschen, die davon bedroht sind. Nach dem fürchterlichen Anschlag in Hanau bin ich mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Gruppen hier in Berlin zusammengekommen, die von rechtsextremer Gewalt bedroht sind oder es sein könnten. Wir haben gemeinsam nach

(Senator Andreas Geisel)

Lösungen gesucht, wie man sie bestmöglich schützen und ihr eigenes Sicherheitsgefühl stärken kann. Die bei diesem Treffen gesammelten Ideen wurden in meinem Haus vorangetrieben, sodass nun Maßnahmen im Bereich des Opferschutzes, der Opferhilfe und der Opferperspektive vorgesehen sind. Beispiele für die Möglichkeiten sind die Umsetzung baulicher Schutzmaßnahmen oder Soforthilfen für Betroffene. Zur Finanzierung wurde vorher vom Abgeordnetenhaus ein Fonds aus einem Etat von 9 Millionen Euro für die Jahre 2020 und 2021 eingerichtet. Das war eine gute Entscheidung. Wir werden dieses Geld sinnvoll einsetzen.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Der Fonds steht nicht nur Personen zur Verfügung, die durch Rassismus oder andere Formen der Diskriminierung Bedrohungen ausgesetzt sind. Auch Personen, die sich aufgrund ihres politischen Engagements für demokratische Grundsätze Anfeindungen oder sogar Übergriffen ausgesetzt sehen, können hier Unterstützung beantragen.

Neben der materiellen Unterstützung ist es aber vor allem wichtig, Solidarität mit den Opfern zu zeigen. Die Täter versuchen, die Opfer zu vereinzeln. Sie versuchen, ihnen Verzweiflung zu vermitteln. Sie versuchen, ihnen Hilflosigkeit einzureden. Was Opfer brauchen, ist Solidarität.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Ich will das an einem Beispiel erläutern. Mirjam Blumenthal, die Bezirksverordnete aus Neukölln, ist immer wieder Opfer solcher Angriffe. Wir reden regelmäßig miteinander, und natürlich sehen die Opfer, dass die Polizei aktiv ist. Sie sehen ja die ganzen Maßnahmen, die wir ergreifen. Trotzdem sind wir der Täter noch nicht habhaft geworden. Sie glaubt mir auch, dass mich das zutiefst nervt, und sie sagt mir dann: Ja, du bist genervt, aber ich habe Angst. – Und das begreife ich als Auftrag. Wir dürfen die Opfer nicht alleine lassen. Wir müssen zueinanderstehen. Die Vereinzelung darf nicht zugelassen werden.

[Beifall bei der SPD, der CDU, der LINKEN, den GRÜNEN und der FDP]

Das bringt mich jetzt zum Thema Neukölln, das vielen von Ihnen bestimmt so wie mir auf der Seele brennt. Seit Jahren kommt es dort zu zahlreichen und teilweise schwersten Straftaten, die sich gegen Menschen richten, die sich für den Kampf gegen Rechtsextremismus einsetzen und die für unsere Zivilgesellschaft einstehen. Es gibt auch klare Vermutungen, wer die Verantwortlichen für diese Taten sind. Obwohl die Polizei nun mit mehreren Sonderermittlungsgruppen umfangreiche Ermittlungen unter hohem Personalaufwand über viele Jahre hinweg durchgeführt hat, lässt sich die Täterschaft bislang noch nicht gerichtsfest belegen. Hier gab es sicherlich auch Versäumnisse, die wir erkannt und an denen wir gearbei

tet haben. Zur Arbeit der Polizei in diesem Ermittlungskomplex wird es Ende August einen Bericht geben, der dann dem Innenausschuss vorgelegt wird, aber darüber hinaus möchte ich den Komplex noch mal mit externem Blick betrachten lassen. Zu diesem Zweck – ich habe es schon öffentlich gesagt, ich wiederhole das hier – werde ich eine Sonderermittlerkommission einsetzen, die aus Mitgliedern mit umfangreicher Erfahrung im Kampf gegen Rechtsextremismus bestehen wird. In wenigen Wochen werde ich dann hier die Namen bekanntgeben. Ich kann Ihnen sagen, dass das Personen sind, die sich bundesweit beim Kampf gegen Rechtsextremismus einen Namen gemacht haben, und die sollen jedes Detail der Ermittlungen noch einmal von außen, extern beleuchten.

Wir dürfen nicht den Hauch eines Zweifels stehenlassen, dass wir es ernst meinen mit der Verfolgung, der Bestrafung von Rechtsextremisten, die andere Menschen terrorisieren.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Alle rechtsextremistischen Ideologien haben eins gemeinsam: die Ablehnung des verfassungsgemäßen Prinzips der Gleichheit. Rechtsextremisten kategorisieren und diskriminieren Menschen auf der Grundlage von ethnischen, kulturellen, geistigen, körperlichen, politischen Eigenschaften oder Einstellungen. Aus dieser Abwertung von Menschen erwächst in letzter Konsequenz die Rechtfertigung von Gewalt und Terror gegen all jene, die von der rechtsextremistischen Ideologie als fremd oder anders oder minderwertig diffamiert werden.

Dieser Abwertung der vermeintlich anderen müssen wir uns täglich entgegenstellen. Das ist Aufgabe der Sicherheitsbehörden, aber vor allem ist es die Aufgabe einer mutigen, aufrechten und demokratischen Zivilgesellschaft. Die Extremisten haben nur eine Chance, wenn die Mitte der Gesellschaft ihre Taten geschehen lässt. Die Extremisten haben nur dann eine Chance, wenn wir im politischen Raum zulassen, dass eine Entgrenzung des politischen Diskurses stattfindet, dass Tabus plötzlich unter dem Motto „Man wir doch noch mal sagen dürfen …“ in die Mitte der politischen Debatte geraten. Und das passiert nur, wenn wir es zulassen.

Mir ist klar, dass wir bei konsequenter Abgrenzung das Denken in den Köpfen dieser Menschen vielleicht nicht verändern. Aber der Staat muss Orientierung geben, der Staat muss deutlich machen: Was ist richtig, was ist falsch? – Und wir müssen es öffentlich deutlich machen, damit an dieser Stelle Orientierung für die Mitte der Gesellschaft besteht, die unsere Demokratie schützt.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Und uns muss klar sein: Das geht nicht von alleine weg. Auch da eine persönliche Beobachtung: Bevor ich Se

(Senator Andreas Geisel)

nator wurde, war ich Bezirksbürgermeister in Lichtenberg. Wir hatten damals – heute immer noch – ein rechtsextremistisches Problem im Viertel um die Weitlingstraße am Bahnhof Lichtenberg. Immer wieder kam es dort zu rechtsextremistischen Gewalttaten, zu rechtsextremistischen Demonstrationen. Ich habe mir natürlich die Frage gestellt: Betreiben wir jetzt auch noch Werbung für Rechtsextremisten, betreiben wir Werbung für die Nazis, wenn wir zu Gegendemonstrationen aufrufen? – Denn erst, wenn unsere Gegendemonstrationen öffentlich wahrgenommen werden, werden ja auch die Demonstrationen der Nazis wahrgenommen.

Was ich über die Jahre gelernt habe, ist aber: Es geht nicht von alleine weg. Und wenn wir uns in Deutschland umschauen, in Pirna, in Vorpommern – überall wurde der Gedanke gelebt: Das geht irgendwann von alleine weg, wir müssen uns nicht direkt wehren. – Es wird aber immer schlimmer. Wenn wir den Nazis nicht Grenzen aufzeigen, werden sie stärker. Und deshalb hat es auch in der Weitlingstraße in Lichtenberg erst eine Veränderung gegeben, als die Gewerbetreibenden gesagt haben: Wir machen nicht mehr einfach bloß unsere Jalousien runter und schauen weg, sondern wir setzen uns auf die Straße und verhindern diese rechtsextremistischen Demonstrationen. – Es hat erst die Veränderung gegeben, als die Zivilgesellschaft aufgestanden ist und deutlich gemacht hat: Wir wollen das nicht mehr.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Die Lehre daraus ist: Wir Demokraten müssen zur Demokratie stehen. Wir müssen uns laut zur Demokratie bekennen, für unsere offene Gesellschaft und für unsere Freiheit. – Ich danke Ihnen herzlich!

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Die Aktuelle Stunde hat damit ihre Erledigung gefunden.

Ich komme nun zu

lfd. Nr. 2:

Fragestunde

gemäß § 51 der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses von Berlin

Nun können mündliche Anfragen an den Senat gerichtet werden. Die Fragen müssen, wie bekannt, ohne Begründung, kurz gefasst und von allgemeinem Interesse sein sowie eine kurze Beantwortung ermöglichen; sie dürfen nicht in Unterfragen gegliedert sein. Ansonsten müssten wir die Fragen zurückweisen.

Zuerst erfolgen die Wortmeldungen in einer Runde nach Stärke der Fraktionen mit je einer Fragestellung. Nach der Beantwortung steht mindestens eine Zusatzfrage dem anfragenden Mitglied zu, eine weitere Zusatzfrage kann auch von einem anderen Mitglied des Hauses gestellt werden. Frage und Nachfragen werden von den Sitzplätzen aus gestellt. – Es beginnt Herr Kollege Kohlmeier für die SPD-Fraktion.

[Unruhe – Zurufe]

Herr Kollege Kohlmeier ist nicht da? –

[Zuruf: Nein!]

Dann machen wir rotierendes Verfahren. Für die CDUFraktion hat Herr Kollege Grasse das Wort. – Bitte schön!

Vielen Dank, Herr Präsident! – Ich frage den Senat zum Verfahren zur Überprüfung der Doktorarbeit von Franziska Giffey. Nachdem der Wissenschaftliche Dienst des Abgeordnetenhauses nun gutachterlich festgestellt hat, dass es für die Erteilung einer Rüge keine Rechtsgrundlage gibt – vor dem Hintergrund, dass die Erstgutachterin diejenigen Personen mit ausgewählt hat, die ihre eigene Bewertung überprüfen sollten. Wann endlich macht der Senat von seiner Rechtsaufsicht Gebrauch, rollt das gesamte Verfahren neu auf und setzt eine unabhängige Kommission zur Prüfung der Doktorarbeit ein?

[Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Es antwortet der Regierende Bürgermeister. – Bitte schön!

Herr Präsident! Herr Abgeordneter Grasse! Wir werden das Gutachten des WPD natürlich auch noch einmal genau überprüfen und auswerten, wir sehen zurzeit aber keine Grundlage, als Rechtsaufsicht einzugreifen, da wir keine Beanstandung an dem Verfahren haben. Die FU ist ja in zwei Teilen zu einem Ergebnis gekommen: zum einen, den Doktortitel aufgrund ihrer Prüfung nicht zu entziehen, und zum anderen, eine Rüge zu erteilen.

Den Doktortitel nicht zu entziehen, ist nach meinem Kenntnisstand und einer ersten kurzen Auswertung des Gutachtens auch nicht etwas, was in dem Gutachten irgendwie beanstandet oder kritisiert wird, weder vom Verfahren noch vom Ergebnis her. Eine kritische Stellungnahme gibt es zu dem Teil der Rüge,