Protokoll der Sitzung vom 01.10.2020

finde, das ist ein positives Beispiel für eine demokratische parlamentarische Kultur – gerne mehr davon!

[Vereinzelter Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN – Sven Kohlmeier (SPD): Genau!]

Ich hoffe, es ist nicht zu schlimm für Sie – CDUFaktion –, mit dem Linksblock bei einer Sachfrage mal zusammenzuarbeiten. Ich kann Ihnen versichern: Es bleiben noch genügend Fragen, die uns trennen.

Zur Sache selbst, das ist mehr als übersichtlich: Wir senken das Wahlalter für Bürgerdeputierte auf 16 Jahre. Es sind schon sehr gute Argumente, vor allen Dingen von Kollege Lux und Kollege Dörstelmann, vorgetragen worden, das will ich gar nicht wiederholen. Ich will stattdessen das Bundesverfassungsgericht ins Spiel bringen, das im Grunde nicht diejenigen in der Begründungspflicht sieht, die das Wahlrecht erweitern, sondern diejenigen, die eine Erweiterung ablehnen. Es gibt einen Betroffenheitsgrundsatz, dass diejenigen, die von politischen Entscheidungen betroffen sind, das Recht haben, an ihnen mitzuwirken. Das steht tatsächlich – natürlich etwas juristischer ausformuliert – in mehreren Urteilen des Bundesverfassungsgerichts.

Ich habe sowohl heute als auch in den Ausschussberatungen keine guten Gegenargumente gehört. Um gleich einen Punkt aufzugreifen – den Dauerbrenner Volljährigkeit, der immer wieder kommt: Die Volljährigkeit, an die angeblich alles anknüpfen würde, ist es ganz sicher nicht, denn jetzt schon gibt es eine ganze Reihe von Rechten, die von der Volljährigkeit abgekoppelt sind. Ich will nur einige nennen: die uneingeschränkte Religionsmündigkeit ab 14 Jahren, die eingeschränkte, aber immerhin bestehende Strafmündigkeit ab 14 Jahren, die Heiratsfähigkeit, das Recht, eine Ausbildung zu beginnen oder seinen Namen zu ändern. All dies und viel mehr knüpft bereits vor dem 18. Lebensjahr an; das mit der Volljährigkeit ist längst eine Mär und kein Argument gegen eine Senkung des passiven Wahlalters für Bürgerdeputierte.

Warum Vertreterinnen und Vertreter der AfD und leider auch der FDP – zumindest bei den bisherigen Beratungen; ich bin gespannt, was gleich kommt – 16- und 17Jährigen die Sachkenntnis für die Arbeit in den BVVAusschüssen pauschal absprechen – das wurde von Ihnen, Herr Bronson, gerade wieder gemacht –, erschließt sich mir nicht. Das ist auch völlig weltfremd. Ich glaube nicht, dass irgendeine BVV-Fraktion einen jungen Menschen zum Bürgerdeputierten wählt, der keinerlei Ahnung von der Thematik des betreffenden Ausschusses hat. Das ist völlig irreal, das würde sich jede BVV-Fraktion gut überlegen und jemanden benennen, der sich mit der Thematik schon einigermaßen beschäftigt hat. Wenn nicht, dann wird man sich halt einarbeiten. Auch bei mir war es so – und ich nehme an, dass es bei dem einen oder anderen, der neu in dieses Parlament gewählt worden ist, auch so war –, dass man sich einarbeiten musste. Warum

(Dr. Hugh Bronson)

sprechen Sie jungen Menschen diese Möglichkeit pauschal ab? – Ich verstehe das nicht.

[Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

So weit, so gut.

Angesprochen wurde es schon von Herrn Lux: Auch wir wollen weitergehen und fordern als Linke schon sehr lange die Senkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre, auch für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus. Ich sage es ganz deutlich: Mir ist es völlig egal, welche Wahlergebnisse dabei herauskommen. Es ist eine grundsätzliche, prinzipielle Frage, und es geht nicht darum – mir jedenfalls nicht –, Wählerinnen und Wähler zu erhaschen. Ein solches instrumentelles Verhältnis zum Wahlrecht ist gefährlich.

Ich finde aber, liebe CDU-Faktion, liebe Frau Demirbüken-Wegner: Wenn wir es 16- und 17-Jährigen zutrauen, durchaus komplexe Fragen der Kommunalpolitik in BVV-Ausschüssen zu bewerten, sie mitzugestalten und sogar stimmberechtigt zu sein, dann müssen wir Ihnen doch auch zutrauen, eine einfache Entscheidung für eine politische Partei oder einen Kandidaten zu treffen. Das ist doch ein Widerspruch zu sagen: Auf der BVV-Ebene dürft ihr mitarbeiten, dürft in den Ausschüssen dabei sein und sogar abstimmen, aber bei der Landesebene, wo ihr nur ein Kreuz für eine Partei machen könnt, sollt ihr das nicht dürfen. – Diesen Widerspruch werden Sie auf Dauer nicht aufrechterhalten können.

[Zuruf von Heiko Melzer (CDU)]

Deswegen: Denken Sie über das Thema noch mal nach, und machen Sie mit uns zusammen den Weg frei für eine entsprechende Änderung der Verfassung von Berlin!

Wo ich Ihnen aber völlig recht gebe: Begleitet werden sollte das von einer Offensive der politischen Bildungsarbeit in Schulen. Ich denke, da kann und sollte noch mehr passieren, denn natürlich macht es Sinn, dass sich die politischen Parteien, aber durchaus auch ein breites, aber demokratisches Spektrum von Vereinen und Initiativen in den Schulen präsentieren können, dass man mit den Schülerinnen und Schülern über Politik diskutiert.

[Florian Kluckert (FDP): Auch über die Bundeswehr?]

Ich glaube, dann wird es interessant, dann wird es spannend. Das regt die jungen Menschen dann auch zur Wahlteilnahme an. Das könnte man durchaus miteinander verbinden. Die Chance, dass sich mehr Menschen für die Res publica, also für die öffentlichen Angelegenheiten, interessieren, sollten wir nicht verspielen. Ich hoffe, wir schaffen das noch, wir kriegen das noch hin. Das nützt der gesamten Demokratie, es wäre ein schönes Zeichen; daran sollten wir alle gemeinsam ein Interesse haben. – Vielen Dank!

[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN]

Für eine Zwischenbemerkung hat zuerst der Abgeordnete Woldeit von der AfD-Fraktion das Wort.

Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine hochverehrten Kolleginnen und Kollegen! – Herr Dr. Efler! Ich glaube, Sie haben sich gerade vertan, indem Sie sagten, auf Landesebene hätte man nur eine Stimme für eine Partei. – Das ist falsch. Auf Landesebene kann man den Wahlkreiskandidaten wählen und natürlich die Landesliste respektive Bezirksliste der Partei und auf kommunaler Ebene nur die Partei. Das zur Richtigstellung.

Herr Dr. Efler! Sie haben uns gerade vorgeworfen, wir würden die politische Teilhabe von Menschen unter 18 Jahren nicht wahrhaben beziehungsweise sogar verhindern wollen. Das ist schlichtweg falsch. Mein Kollege Bronson hat es vorhin angesprochen: Worum es uns geht, ist der Grundgedanke einer Deputation und die recht gängige Praxis, die das Ganze ein Stück weit ad absurdum führt. Es ist so – wir hatten ja heute auch die Feierstunde zu 100 Jahre Groß-Berlin –, dass sich die Gründerväter im Rahmen einer Bezirksverwaltungsreform Gedanken gemacht haben: Wie kann man politische Teilhabe außerhalb der Politik durch sachkundige Bürger verbessern und möglich machen? – Der Grundgedanke war, dass man in den jeweiligen Fachausschüssen sachkundige Bürger einsetzt, die Erfahrung haben in Wirtschaftsbereichen, die Erfahrung haben in Verkehrsbereichen, die Erfahrung haben in Verwaltungsbereichen.

Erfahrung bedingt in der Regel auch ein Stück weit Lebenserfahrung. Es kann durchaus sein, dass ein junger Mensch im Rahmen einer Mitgliedschaft im Sportverein oder anderer Jugendaktivitäten bereits im Jugendhilfeausschuss seine Expertise zum Tragen bringen kann – außer Frage. Aber für verschiedene Bereiche, in denen man eine Berufsausbildung und Berufserfahrung haben muss, in denen man in Wirtschaftsfragen kompetent sein muss, in denen man in Verkehrsfragen kompetent sein muss, wird ein 16-Jähriger, der noch nicht Auto fahren kann, das nicht bringen können – als Beispiel.

[Lachen von Katrin Seidel (LINKE)]

Als Beispiel. Darüber müssen Sie mal nachdenken.

[Beifall von Frank-Christian Hansel (AfD) und Dr. Dieter Neuendorf (AfD) – Katrin Seidel (LINKE): Ich kann auch nicht Auto fahren! – Zuruf von der LINKEN: Was reden Sie da?]

Sie sehen ja auch die gängige Praxis. Wie ist denn die gängige Praxis? Reden wir wirklich noch von sachkundigen Bürgern innerhalb der Bezirksverordnetenversammlung? – Ich war doch selber lange Jahre Bürgerdeputierter. Die gängige Praxis sieht wie folgt aus: Wir nehmen

(Dr. Michael Efler)

Nachrücker von der BVV-Liste, machen sie zu Bürgerdeputierten – übrigens in allen Parteien –, damit sie parlamentarische Erfahrungen sammeln, um sie dementsprechend mit einem gewissen Rüstzeug dann in die parlamentarische Arbeit zu bekommen. Das ist ein Fehler. Der Grundgedanke der Deputation war, Fachkenntnis und Expertise mit in die kommunalen Parlamente zu bringen.

[Vereinzelter Beifall bei der AfD]

Das ist der Grundgedanke, den wir aufrechterhalten sollten, und deswegen ist Ihr Ansatz grundfalsch und ein Fehler. – Ich danke Ihnen!

[Beifall bei der AfD – Frank-Christian Hansel (AfD): Richtig!]

Herr Efler, Sie haben die Möglichkeit der Erwiderung. – Bitte schön!

Herr Woldeit! Ich finde nicht, dass man Auto fahren gelernt haben muss, um über in einer Bürgerdeputation nötige Kompetenzen zu verfügen.

[Frank-Christian Hansel (AfD): Das war ein Beispiel!]

Das ist, glaube ich, ein sehr unglückliches Beispiel, aber vielleicht ein typisches Beispiel, was Sie als Kompetenzen so voraussetzen.

[Anne Helm (LINKE): Haben Sie überhaupt gedient?]

Zunächst mal: Mir ist sehr wohl bekannt, dass das Wahlrecht hier in Berlin ein bisschen komplexer ist auf Landesebene, als nur ein Kreuz zu haben. Ich meine, ich habe das auch gesagt, aber das weiß ich nicht mehr genau; darüber müssen wir uns nicht streiten.

Ich glaube, der Streitpunkt ist schlicht und ergreifend, dass Sie sagen, die Bürgerdeputation hat das Konzept von Sachkenntnis, Fachkunde. – Ich sage: Ja, das stimmt. Aber 16- und 17-Jährige können diese Sachkenntnis, Fachkunde haben. Warum denn eigentlich nicht?

[Vereinzelter Beifall bei der LINKEN]

Das haben Sie nicht begründet. Natürlich können 16- und 17-Jährige auch Erfahrungen einbringen, aus der Schule, aus der Ausbildung. Ich selbst habe mit 16 Jahren eine Ausbildung begonnen. Natürlich haben viele junge Menschen auch schon politische Erfahrungen.

[Karsten Woldeit (AfD): Wirtschaftserfahrung! Verwaltungserfahrung!]

Denken Sie – das ist für Sie natürlich ein schlechtes Beispiel, aber für mich ein gutes – an Fridays for Future und andere Initiativen, die zumindest Erfahrungen sammeln. Warum fangen wir auch in der Schule nicht früher mit politischem Unterricht an? – Wir können dort doch viel früher anfangen. Das den Menschen pauschal abzuspre

chen, nur weil sie noch nicht 18 Jahre alt sind, ist wirklich quatsch.

Im Übrigen ist das Ganze auch dynamisch. Altersgrenzen sind immer dynamisch gewesen. Das Volljährigkeitsalter war mal bei 21 Jahren, das ist jetzt auch bei 18 Jahren. Vielleicht ist es in 10, 20 Jahren bei 16 Jahren. Das wissen wir heute noch nicht. Das kann sich alles verändern, aber jetzt zu sagen: 16- und 17-Jährige können nicht sachkundige Bürger sein, zeigt ein sehr fragwürdiges Menschenbild von Ihrer Seite in Bezug auf junge Menschen. Das finde ich falsch.

[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN – Frank-Christian Hansel (AfD): Es geht um Erfahrung!]

Für die Fraktion der FDP hat das Wort Herr Abgeordneter Fresdorf.

Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Liebe Kolleginnen und Kollegen! 1993 bin ich mit 16 Jahren Mitglied der Freien Demokratischen Partei geworden – damals hießen wir noch F.D.P. Die Liberalen, ich glaube, da waren sogar noch Punkte dabei – und bin gleich in diesem Jahr Mitglied des Ortsvorstandes des Ortsverbandes Spandau Nord, den es damals noch gab, geworden.

[Bravo! und Beifall bei der FDP]

Herr Bronson! Sie haben gesagt, 16-Jährige können sich nicht einmal in einem Ehrenamt politisch beteiligen, das sollten sie nicht machen. – Genau das war es aber: ein Ehrenamt. Ein Ehrenamt, in dem ich gelernt habe, wie Politik funktioniert, wie man sich auch als junger Mensch gegenüber Älteren durchsetzen kann. Das war eine sehr wertvolle Erfahrung. Ich habe nicht den Umweg über die Jungen Liberalen gemacht, wie das viele tun. Ich habe gesagt: Ich gehe gleich in die Mutterpartei und schaue mir das an, denn ich bin mit 16 Jahren genauso gut wie die Großen. – Das war für mich eine sehr wichtige und wertvolle Zeit und ein wichtiger Prozess des Erwachsenwerdens, und es war auch das erste Mal eine Verantwortungsübernahme und Übernahme von Mandaten damit verbunden, was, glaube ich, sehr wertvoll für einen jungen Menschen sein kann.

Ich weiß, dass Sie alle ganz aufgeregt und konzentriert unseren Bundesparteitag verfolgt haben. Da werden Sie sicherlich die Botschaften vernommen haben, die wir von dort aus in dieses Land gesendet haben. Uns geht es natürlich darum, Deutschland wieder zu entfesseln, uns geht es darum, das Aufstiegsversprechen der Bundesrepublik Deutschland zu erneuern, und wir haben auch beschlossen, das Wahlalter ab 16 Jahren einzuführen. Das war ein Beschluss, der ziemlich am Ende des Parteitages kam, den wir aber als Partei alle mittragen.

(Karsten Woldeit)