Protokoll der Sitzung vom 01.10.2020

Berlin hat in den letzten 30 Jahren in seine Stärken investiert. Heute können wir sagen, dass sich das ausgezahlt hat. Wenn wir in unserer Geschichte noch etwas weiter zurückgehen, können wir sehen, dass sich auch schon früher genau dieser Mut, dieser Vorwärtsdrang bewährt hat.

In diesem Jahr, wir haben es vorhin in einem Festakt gewürdigt, schauen wir auch zurück auf ein Jubiläum, das, wenn auch unter anderen Voraussetzungen, dafür Pate stehen könnte: Genau heute vor 100 Jahren entstand Groß-Berlin. Auch damals entstand aus dem Veränderungsdruck der plötzlichen Metropolenbildung eine enorme Kreativität und Schaffenskraft.

Genau das macht die DNA unserer Stadt aus, immer wieder auf die Chancen, die im Wandel stecken, zu setzen, denn eines ist sicher, die Transformation geht immer weiter. Heute sind es Digitalisierung und Klimawandel, die neue Antworten fordern, morgen sind es vielleicht

(Regierender Bürgermeister Michael Müller)

andere Themen. Entscheidend ist, Berlin muss sich immer wieder neu auf die Zukunft ausrichten, muss Trendsetterin bleiben und die Fortschrittsfäden in der Hand halten. Wichtig ist und bleibt dabei, dass wir diesen Weg der Zukunft gemeinsam gehen.

Wenn wir am Tag der deutschen Einheit diese gemeinsame Zukunft ins Auge fassen, müssen wir auch darüber sprechen, was wir mit Einheit eigentlich verbinden. Das gilt es immer wieder neu auszuloten. Denn Einheit heißt nicht, die Unterschiede und Widersprüche in unserer Gesellschaft wegzuwischen, sondern sie auszuhalten und, wo möglich, eben auch einzubinden. Das heißt auch, sich immer wieder aufs Neue mit der Vielfalt unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen. Damit verbunden ist die Aufgabe, dass wir uns als Gesellschaft immer wieder miteinander verständigen müssen, wohin wir wollen und was wir dafür brauchen. In einer Demokratie ist gerade diese permanente Aushandlung ein Herkulesaufgabe. Sie endet eben nicht nur mit den Wahlen.

Gerade in diesen Zeiten der Coronapandemie spüren wir den enormen Spannungsbogen, der damit einhergeht, der Umgang mit Freiheit, Demokratie, Bürgerrechten und der Verantwortung des Staates für seine Bürgerinnen und Bürger. Auch hier sind wir darauf angewiesen, dass die Menschen die Entscheidung der Politik mittragen, dass sie bereit sind, Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte hinzunehmen, um die Gemeinschaft zu schützen. Gleichzeitig müssen sie sich darauf verlassen können, dass wir Ihre Sorgen ernst nehmen.

Wir erleben, dass in der Auseinandersetzung um diese Frage immer wieder Vergleiche zur Diktatur gezogen werden. Da ist von der Angst vor „Zwangsimpfungen“ die Rede. Die Maskenpflicht wird als unzumutbarer staatlicher, ja diktatorischer Freiheitsentzug gebrandmarkt. Auch wenn für solche Vergleich nur wenig Verständnis habe, wird doch eines deutlich. In – wenn auch kleinen – Teilen der Bevölkerung hat sich etwas verfestigt, ein Grundmisstrauen gegen die Eingriffe in ihre Freiheit entwickelt. Dieses Misstrauen

[Zuruf von der AfD]

sehr schön, dass genau Sie jetzt dazwischengerufen – wird von denen instrumentalisiert, die Hass und Spaltung mit ganz anderen Zielen schüren,

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN – Zurufe von der AfD]

nämlich von denjenigen, die die Freiheitsrechte unseres Landes nutzen, um die Freiheit abzuschaffen, wie Reichsbürger und extremer Rechte und – ich füge hinzu – wie die AfD.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN – Georg Pazderski (AfD): Glauben Sie überhaupt, was Sie sagen? Gucken Sie, da drüben ist ihre Mauermörderpartei!]

Das muss uns Sorgen machen. Es ist zugleich für uns Anlass, noch mehr auf den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu setzen, noch mehr das Miteinander zu stärken, noch mehr miteinander zu sprechen, noch stärker allerdings auch klare Kante zu zeigen, denn die große Mehrheit der Menschen packt auch in dieser wohl größten Krise, die das geeinte Deutschland derzeit erleben muss, an und hilft, und das, obwohl viele von ihnen Ängste und Sorgen haben und einige gar nicht wissen, wie es weitergehen soll. Die deutliche Mehrheit der Menschen versucht, ihren Beitrag zur Eindämmung der Pandemie zu leisten, indem sie ihren Familienalltag umkrempeln, den Nachbarn helfen, sich dabei an alle Hygienevorgaben halten.

[Marc Vallendar (AfD): Sie schüren doch nur Angst!]

Es ist eine ungeheure Solidarität der Menschen, die wir derzeit erleben dürfen, eine Solidarität, für die ich dankbar bin.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Sie zeigt, wir stehen zusammen, auch wenn es gerade für viele sehr schwer ist. Ich danke den Berlinerinnen und Berlinern, dass sie sich so engagiert einbringen. Sie sind die Mutmacherinnen und -macher in dieser Krise. Sie machen uns als Gesellschaft stark.

„WIR miteinander“ – dieses Motto zu den Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit in Potsdam erhält damit eine ganz besondere Schlagkraft. Es appelliert nicht nur ganz allgemein an den Solidaritätsgedanken unserer Gesellschaft, es ist in dieser konkreten Situation das zentrale Rezept, um die Krise zu meistern, denn nur wir miteinander können die Pandemie und andere Aufgaben bewältigen wie die Integration und Unterstützung von Geflüchteten oder den Umgang mit dem Klimawandel, nur wenn wir füreinander einstehen, wenn wir Rücksicht nehmen und aufeinander achten. Wir sind bei der Bewältigung dieser Herausforderungen aufeinander angewiesen, und wir brauchen dafür alle, ganz gleich, welchen Alters, welchen Geschlechts, woran wir glauben, woher wir kommen und mit wem wir leben und wen wir lieben. Fest steht, allein kann es nicht gelingen. Wir brauchen die geballte Vielfalt unserer Gesellschaft, um die Krise zu überwinden. Wir haben 1989 gesehen, welche Kräfte mobilisiert werden können, um gemeinsam ein Ziel zu erreichen.

Der Tag der deutschen Einheit erinnert uns daran, dass Demokratie und Freiheit nicht selbstverständlich sind, dass diese Grundfeste unserer Gesellschaft in unserer Geschichte mehrfach erkämpft, verloren und wieder neu errungen werden mussten. Damit erinnert uns dieser Tag auch an die Verantwortung, die sich mit diesem Erbe verbindet – und das nicht nur für Deutschland, sondern

(Regierender Bürgermeister Michael Müller)

für Europa. Unsere europäischen Grundrechte sind das Fundament unserer Gemeinschaft. Gerade wir in Deutschland haben eine besondere Verantwortung, uns dafür starkzumachen, für ein friedliches, freies und demokratisches Europa. Berlin übernimmt als Hauptstadt dabei eine besondere Rolle, und es ist auch über Europa hinaus über Netzwerke mit den Metropolregionen und Städten der Welt verbunden, um sich für Frieden, Freiheit und den Dialog einzusetzen. Der Radius von „WIR miteinander“ reicht in einer globalisierten Welt eben weiter. Es wird auf uns alle ankommen und das heute und morgen, in der Pandemie und weiteren Herausforderungen. Lassen Sie uns den Tag der deutschen Einheit auch zum Anlass nehmen, unsere Freiheit genau mit diesem Ziel zu feiern. – Schönen Dank!

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Meine Damen und Herren! Die Aktuelle Stunde hat damit ihre Erledigung gefunden. Ich komme nunmehr zu

lfd. Nr. 2:

Fragestunde

gemäß § 51 der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses von Berlin

Nun können mündliche Anfragen an den Senat gerichtet werden. Die Fragen müssen ohne Begründung, kurz gefasst und von allgemeinem Interesse sein sowie eine kurze Beantwortung ermöglichen; sie dürfen sich nicht in Unterfragen gliedern. Ansonsten werden die Fragen zurückgewiesen.

Zuerst erfolgen die Wortmeldungen in einer Runde nach Stärke der Fraktionen mit je einer Fragestellung. Nach der Beantwortung steht mindestens eine Zusatzfrage dem anfragenden Mitglied zu, eine weitere Zusatzfrage kann auch von einem anderen Mitglied des Hauses gestellt werden. Frage und Nachfragen werden von den Sitzplätzen aus gestellt. Frau Abgeordnete Radziwill, für die SPD-Fraktion, beginnt. – Bitte schön!

Vielen Dank, Herr Präsident! – Wir feiern 100 Jahre Groß-Berlin – ein soziales, solidarisches Berlin. Deshalb frage ich zur Kältehilfe: Ist der Start der Kältehilfe bedarfsdeckend gelungen, das heißt, die pandemiekonforme Unterbringung obdachloser Menschen in dieser Kältehilfesaison 2020/21 sicher gewährleistet?

[Maik Penn (CDU): Das haben wir doch schon besprochen!]

Frau Senatorin Breitenbach, bitte schön!

Vielen Dank! – Heute geht es los, und tatsächlich beginnen wir am heutigen Tag mit 577 Plätzen, darunter auch Plätze ausschließlich für Frauen. Wir hatten gestern auch noch einmal bei der Strategiekonferenz gehört, wie zentral wichtig diese sind. Darüber hinaus haben wir auch hier pandemiebedingt entzerrt, auch in den Kältehilfeeinrichtungen gelten die Abstands- und Hygieneregelungen. Das bedeutet, relativ einfach: In den einzelnen Unterkünften, die existieren, gibt es weniger Plätze. Deshalb mussten wir weitere Unterkünfte finden – und es ist uns gelungen. Wir haben jetzt insgesamt die 1 000 Plätze, die wir jedes Jahr vorhalten. Wir beginnen mit 500 Plätzen, auch wie jedes Jahr, und dann wird sukzessive hochgefahren.

Letzte Woche war noch die Aufregung: Was ist mit der Finanzierung? Ich kann nur sagen: Jedes Jahr das gleiche Spiel! Immer gibt es irgendwelche Irrungen und Wirrungen. Dieses Jahr ist klar, es gibt auch Mehrkosten.

[Unruhe]

Entschuldigung! Das stört.

Herr Kollege Trapp!

Ich gebe mir Mühe, lauter zu reden. – Es ist natürlich dieses Jahr teurer, weil wir pandemiebedingte Mehrkosten haben, also weil: geringere Belegung, dafür mehr Plätze. Es gibt mit der Finanzverwaltung die Absprache, dass diese bereit ist, diese Kosten zu tragen. Jetzt sage ich aber auch – weil sie heute früh gesprochen haben –, das beliebte Ping-Pong-Spiel: Jetzt sind die Bezirke am Zug. Wir als Senat haben gesagt, wir wollen die Kältehilfe wie jedes Jahr. Wir sind auch bereit, die Mehrkosten zu tragen. Jetzt müssen aber die Bezirke erstens einmal beziffern, wie viel Mehrkosten sie im Rahmen der Kältehilfe haben, und zweitens diese auch nachweisen. Das können wir ihnen nicht abnehmen. Ich gehe aber davon aus: Wir beginnen jetzt mit 500 Plätzen, und alles andere wird dann, auch wie jedes Jahr, genauso gut laufen und am Ende hat es wieder geklappt. Schön ist das allerdings nicht.

Frau Kollegin Radziwill! Sie wollen eine Nachfrage stellen? – Bitte schön! Dann haben Sie das Wort.

(Regierender Bürgermeister Michael Müller)

Ja, sehr gern, Herr Präsident! – Vielen Dank für die Antwort! Es freut mich, dass wir mit unseren Zielvorgaben starten können. Ich danke erst einmal allen, die sich ehrenamtlich engagieren, dass die Kältehilfe auch gelingt, und frage nach, ob die Angebote in den Bezirken, die am Tag angeboten werden wie Kältecafés usw., auch in ausreichender Menge vorhanden sind. Mich interessiert natürlich auch, ob das Angebot für obdachlose Frauen erweitert werden konnte.

Das interpretieren wir mal als eine Nachfrage.

[Ülker Radziwill (SPD): Vielen Dank, Herr Präsident!]

Frau Breitenbach! Sie haben das Wort.

Ich kann Ihnen das jetzt nicht aus dem Kopf sagen. Ich muss noch einmal nachschauen, ob das Angebot für die Frauen erweitert werden konnte, weil ich hier nur die Zahl der ersten Plätze vorliegen habe.

Was die Tageseinrichtungen angeht, würde mich übrigens die Antwort auf Ihre Frage auch interessieren. Auch hier, wissen Sie, stellen die Bezirke die Angebote zur Verfügung. Auch hier hat die Kältehilfekoordination noch einmal eine Abfrage gestellt, aber nicht alle Bezirke antworten gleich. Ich kann Ihnen diese Frage also nicht beantworten. Wir müssen aber davon ausgehen, dass es auch hier weitere Einschränkungen gibt. An dieser Stelle will ich noch einmal sagen, dass die Koordinierungsstelle der Kältehilfe enorm dazu beiträgt, dass wir immer die entsprechende Anzahl von Plätzen für die Kältehilfe haben. An dieser Stelle sind wir wirklich schon einen Schritt weiter. In der Zusammenarbeit zwischen den Akteurinnen und Akteuren, darunter eben auch Bezirke und Land, ist aber tatsächlich noch Luft nach oben.

Die zweite Nachfrage geht dann an Herrn Ziller von Bündnis 90/Die Grünen. – Bitte schön!

Vielen Dank! – Angesichts der von Ihnen beschriebenen Koordination für die Kältehilfe, die ja von der Senatsverwaltung finanziert wird, und Ihrer Gespräche mit der Finanzverwaltung für die Bezirke, dass das Geld dann auch zur Verfügung steht: Glauben Sie, dass es Zeit ist, die Verantwortlichkeit für die Kältehilfe bei der Senatsverwaltung für Arbeit und Integration anzusiedeln?

[Ülker Radziwill (SPD): Soziales! Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales!]

Bitte schön, Frau Senatorin Breitenbach!

Tja, Herr Ziller! Das entscheiden dann letztlich andere, also Sie zum Beispiel. Wenn Sie aber meine persönliche Position hören wollen: Ich finde, dass es jetzt ausgesprochen schwierig ist. Wenn wir sagen, wir möchten das zentral auf Landesebene steuern, wäre es tatsächlich einfacher, was die Plätze angeht, und möglicherweise auch einfacher, eine Lösung für die Finanzierung hinzubekommen. Das ist allerdings nichts, was man nebenbei macht. Wenn man das möchte, müssten die Bezirke das entsprechende Geld und auch das Personal abgeben.