Protokoll der Sitzung vom 05.11.2020

Damit komme ich zum zweiten Aspekt dieses Antrages: § 28 des Infektionsschutzgesetzes setzt voraus, dass wir wissen, wo Infektionen entstehen und Infektionsketten nachverfolgen können. Notwendige Maßnahmen – und genau das sagt § 28 Infektionsschutzgesetz, nicht etwa

nützliche oder vielleicht nützliche Maßnahmen – setzen voraus, dass wir nachweisen können oder jedenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit wissen: Wo kommen die Coronainfektionen in Berlin eigentlich her? – Dass die Gerichte diesen Schwachpunkt der Verordnungen erkannt haben, das müssen Sie doch, meine Damen und Herren von Rot-Rot-Grün, festgestellt haben, als Ihnen die Verwaltungsgerichte Ihre Sperrstunde um die Ohren gehauen haben, und zwar nicht, weil die Sperrstunde nicht sinnvoll sein kann, sondern weil Sie nicht begründen können, warum Sie Einschränkungen in dieser Stadt vornehmen, weil Sie gar nicht wissen, woher die Infektionen in dieser Stadt kommen.

[Beifall bei der CDU und der FDP – Beifall von Dr. Kristin Brinker (AfD)]

Ich prognostiziere – und ich wünschte, dass es anders wäre –, dass Ihnen das auch mit Ihrer letzten Verordnung passieren wird, weil Sie im Trüben fischen, weil Sie nicht wissen, auf welcher Grundlage Sie irgendwelche Maßnahmen derzeit verordnen in dieser Stadt. Deswegen rate ich Ihnen ganz dringend: Versetzen Sie die Gesundheitsämter in den Bezirken in einen Zustand, dass sie Infektionsketten wieder nachverfolgen können, dass sie in der Lage sind zu erkennen, wo Infektionen herkommen, und machen Sie dann vernünftige rechtssichere und gerichtsfeste Verordnungen, mit denen wir dieser Pandemie in Berlin Herr werden können, und bemühen Sie sich wenigstens, die Grundsätze dafür zu schaffen.

[Beifall bei der CDU]

Wir haben zu diesem Antrag direkt Abstimmung beantragt. Die Koalition hätte gern die Überweisung in die Ausschüsse. Ich prognostiziere Ihnen auch an dieser Stelle: Wenn Sie es in den Ausschüssen beraten haben, wird die Zeit Sie wieder einmal überholt haben, und wir werden ganz andere Probleme haben. – Vielen Dank!

[Beifall bei der CDU]

Für die SPD-Fraktion hat das Wort Herr Abgeordneter Isenberg. – Sie haben das Wort! Bitte!

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau Seibeld! Was plustern Sie sich eigentlich hier auf? Sie stellen sich hier hin, werfen der Berliner Koalition Versagen vor, was die Rückverfolgbarkeit betrifft, tun so, als ob das eine koalitionsspezifische Sache in Berlin wäre und sagen, deswegen sind die Gerichte nur in der Lage so zu urteilen, wie sie sind.

Schauen Sie doch mal nach Nordrhein-Westfalen; schauen Sie doch mal beispielsweise, was Laschet dort macht mit seiner Bildungssenatorin. Solingen wollte gestern, um eine höhere Sicherheit zu haben, um die Empfehlung vom

(Cornelia Seibeld)

RKI umzusetzen, schon zu einem Schichtenmodell in den Schulen kommen, und Laschet holt das zurück über seine Bildungstruppe in Nordrhein-Westfalen.

[Zuruf von Stefan Förster (FDP)]

Gucken Sie zu Herrn Söder, gucken Sie in andere CDULänder hinein – wir haben überall das gleiche Problem: dass wir nämlich überfallen worden sind, überrollt worden sind von einer epidemiologischen Last, die leider dazu beigetragen hat, dass selbst die bestausgestatteten Gesundheitsämter in Deutschland insgesamt seit Wochen und insbesondere in den letzten Wochen beim Anstiegt wieder total überlastet sind.

[Zuruf von Kurt Wansner (CDU)]

Bitte tun Sie nicht so, als ob Sie als CDU hier das Patent gepachtet hätten. Im Gegenteil: Melden Sie sich bei Herrn Spahn, schauen Sie, dass den Ländern beim RKI endlich mehr Containment Scouts zur Verfügung gestellt werden. Wir bekommen doch überhaupt keine Hilfe, die wir bräuchten, vom Bund in dem Maße, wie es fachlich notwendig wäre. Schauen Sie beim RKI in die Berichte hinein, und Sie sehen ganz klar: Von allen Bundesländern sind die Meldungen defizitär bezüglich der Detailmerkmale, die man haben könnte; da ist Berlin nicht schlechter und nicht besser als andere Bundesländer, ganz gleich, von welcher Partei.

[Beifall bei der SPD und den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN]

Wo wir aber relativ besser sind, ist, im Rahmen unserer Möglichkeiten Ressourcen zu mobilisieren. Sie wissen doch genau – das sehen Sie in den Anfragen von Ihrem Kollegen Herrn Zeelen, der offensichtlich heute hier nicht reden darf, weil Sie hier Agitation betreiben wollen –, wie hier regelmäßig aufgestockt worden ist in den letzten Monaten. Wir haben inzwischen über 700 Leute zusätzlich mobilisiert – auch die Bundeswehr. Ich sage es an dieser Stelle ganz klar: Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, wenn einzelne BVVen, beispielsweise in Mitte – seitens der Linkspartei, wenn ich richtig informiert bin – oder in anderen Bezirken, sagen, die Menschen, die Staatsbürger in Uniform, müssen ihre Arbeit verrichten, aber sollten die Uniformen ausziehen. Das ist nicht hinnehmbar. Wir müssen dankbar für jede staatliche Institution sein, die wir mobilisieren können, um hier Amtshilfe zu leisten.

[Beifall bei der AfD, der CDU und der FDP – Beifall von Daniel Buchholz (SPD)]

Herzlichen Dank an die Gesundheitsverwaltung, dass sie hier tätig geworden ist.

Natürlich können wir noch mehr gebrauchen. Ich bin froh, dass wir sehen, dass der Senat und die Bezirke hier einen Impuls gesetzt haben, um in anderen Ämtern, in denen ebenfalls öffentliche Daseinsvorsorge als Dienstleistung für die Bürger verrichtet wird, Personal zu redu

zieren, auch auf Kosten der Servicequalität der öffentlichen Verwaltung, und diese in den prioritär benötigten Bereich der Kontaktverfolgung hineinzusetzen. Dort sind inzwischen über 111 externe Stellen mobilisiert worden. Das ist sukzessive wachsend, und die Gesundheitsämter tun alles, um der Lage Herr zu werden. Einen ganz herzlichen Dank an alle Gesundheitsstadträte, an alle Amtsärztinnen und Amtsärzte, an alle Beschäftigten der Gesundheitsämter, die wirklich an vorderster Front kämpfen. Die nicht nur kämpfen, sondern auch den Kollateralschaden und das Chaos, das bundesweit durch unkoordiniertes Handeln, teilweise auch durch politische Akteure, angerichtet wird, aufräumen. Das will ich an dieser Stelle ganz klar sagen.

[Beifall bei der SPD und den GRÜNEN]

Ich bin mir sicher, dass der Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz, wesentliche Handlungsfelder erst einmal außen vor zu lassen und nicht das Maximale zu tun, um die epidemiologische Last möglichst schnell zu reduzieren – – Nein, wir haben auf der Bundesebene der MPK ganz bewusst entschieden, dass es Handlungsfelder gibt, bei denen man erst einmal schaut, was in den nächsten zwei Wochen passiert und ob man unter Umständen nachjustiert – schauen Sie sich den ÖPNV-Bereich an, schauen Sie sich andere Lebenswelten in einigen gesellschaftlichen Bereichen an, wo die Menschen noch hemmungslos Kontakt haben. Wir alle sind gefordert – politisch, aber auch persönlich –, unsere Kontakte zu reduzieren. Tragen Sie einen Mund-Nasen-Schutz! Nutzen Sie die App!

Herr Spahn: Sorgen Sie auf Bundesebene endlich dafür, dass diese App funktionaler wird! Es kann doch nicht sein, dass ich auf meiner App vier Kontakte sehe – egal, ob im grünen Bereich –, die ich unter Umständen in den letzten Wochen, genauer gesagt in den letzten vierzehn Tagen, hatte und ich mir kein Bild formen kann, wo ich denn in Kontakt gekommen sein könnte. Wir haben nicht bis Februar Zeit, Herr Spahn und CDU! Teilen Sie Ihren Kollegen auf der Bundesebene bitte mit, die App, die teuer programmiert worden ist, nachzubessern. Das brauchen wir jetzt, und zwar morgen, unverzüglich!

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

An die Öffentlichkeit gerichtet möchte ich sagen: Es ist vorbildlich, wie sich Einzelne von uns hier verhalten haben. An dieser Stelle die besten Genesungswünsche an unsere Kollegin von den Grünen. Sie haben im „Tagesspiegel“ die Berichterstattung über die Kollegin alle gelesen. Glückauf bei der persönlichen Bewältigung der Last, aber auch herzlichen Dank, dass Sie die App genutzt haben, weil die App hier Leute gewarnt hat. Leider ist es so, dass derzeit über 60 Prozent der Meldungen meiner Kenntnis nach, also fast die Hälfte der Meldungen, nicht in die App eingestellt wurden, weil Bürgerinnen und Bürger, obwohl sie die haben, die nicht nutzen oder die

Dateninfrastruktur nicht vernünftig funktioniert. Also Frau Seibeld: argumentieren Sie nicht so einseitig kurz gesprungen, wie Sie versucht haben, es zu tun.

[Heiko Melzer (CDU): Was heißt hier „einseitig“?]

Der Antrag ist in den Fachberatungen gut aufgehoben, dort werden wir uns weiter damit befassen. Heute werden wir dem sicherlich nicht zustimmen. – Danke vielmals!

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Für die AfD-Fraktion hat der Abgeordnete Mohr das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen Abgeordnete! Liebe Berliner! Die CDU bringt heute einen Dringlichkeitsantrag ein – noch dazu als ihre Priorität –, mit dem sie die Berliner Gesundheitsämter künftig personell besser aufstellen will. Sie sollen wieder in die Lage versetzt werden, eine hinreichende Kontaktnachverfolgung zu gewährleisten.

Werte Kollegen der CDU! Ihr postuliertes Ziel mag durchaus erstrebenswert sein, aber ich verstehe Ihre plötzliche Eilbedürftigkeit nicht so richtig. Ihr Antrag hätte genauso gut schon im Frühjahr oder in den letzten Wochen eingebracht werden können. Dennoch ist Ihr Befund grundsätzlich richtig. Der öffentliche Gesundheitsdienst arbeitet derzeit weit über der Belastungsgrenze. Deshalb möchte ich an dieser Stelle die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, um mich im Namen der AfDFraktion bei allen Mitarbeitern der Gesundheitsämter für die geleistete Arbeit herzlich zu bedanken.

[Beifall bei der AfD]

Seit Jahren beklagen sich die Ämter darüber, dass ihnen in allen Bereichen der Nachwuchs fehlt, dass Amtsarztstellen gar nicht richtig nachbesetzt werden können. Da brauchen wir uns wahrlich nicht wundern, wenn der ÖGD in einer Krisensituation wie dieser erst recht an seine Grenzen kommt. Die Frage lautet also vielmehr: Wo genau soll das Personal eigentlich herkommen – und zwar unterschieden zwischen dem regulären Aufwuchs und einer kurzfristigen Überbrückung wie jetzt im Rahmen der Krisenhilfe beispielsweise durch die Bundeswehr? Selbst der Bund hat das Problem inzwischen erkannt und deshalb Ende September gemeinsam mit den Ländern einen sogenannten Pakt für den ÖGD vereinbart. Deutschlandweit sollen nun Milliarden fließen und Tausende neue Stellen geschaffen werden.

Für unsere Hauptstadt ändert das bei der Coronanachverfolgung kurzfristig aber rein gar nichts. Noch einmal zur Verdeutlichung: Das RKI hat vor Monaten eine Kennzahl

definiert, bis zu der eine zielgerichtete Kontaktnachverfolgung seitens der Gesundheitsämter noch möglich ist. Die Zahl liegt bei 35, maximal 50, Fällen auf 100 000 Einwohner pro Woche. Berlin hat zurzeit eine SiebenTages-Inzidenz von über 180 – ich wiederhole: von 180. Wie angesichts dieser Zahl eine generelle Nachverfolgung nur mit mehr Personal wieder möglich gemacht werden soll, weiß wahrlich nur die CDU.

Ich fasse zusammen: Die Union will die Gesundheitsämter wieder zur Kontaktnachverfolgung befähigen und das offensichtlich völlig unabhängig von der Inzidenz. Ihre utopische Hoffnung besteht auch darin, dass der Staat dann endlich wird beweisen können, wo konkret die Risiken liegen und wo sich die Bürger mit dem Coronavirus infiziert haben. All das, damit die Gerichte in einem weiteren Schritt nicht erneut einzelne Punkte der geltenden Infektionsschutzverordnung als unverhältnismäßig kippen können. Wer hat diesen Antrag bei Ihnen eigentlich geschrieben – so können eigentlich nur Juristen denken? – Ach ja, Frau Seibeld hat gerade gesprochen.

Merken Sie eigentlich noch, wie unausgegoren Ihr Plan ist? Der wird schlicht und ergreifend nicht aufgehen, das kann ich Ihnen heute schon sagen. Im Übrigen noch eins zum Schluss: Viel wichtiger als die im Antrag erwähnte Software SORMAS, die schon von vielen Bezirken in Berlin eingesetzt wird, ist die schnelle, bundesweite Implementierung des Programms DEMIS, wie es der Pakt für den ÖGD vorsieht. Die weiteren Detailfragen dazu lassen Sie uns aber bitte besser im Gesundheitsfachausschuss diskutieren, da wo der Antrag hingehört. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

[Beifall bei der AfD]

Für die Fraktion Die Linke hat Herr Abgeordnete Dr. Albers das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Das Identifizieren von Kontaktpersonen und die Kontaktnachverfolgung sind das A und O bei der Bekämpfung von ansteckenden Erkrankungen und sind nach dem Infektionsschutzgesetz elementare und originäre Aufgaben der öffentlichen Gesundheitsdienste. Selbstverständlich müssen diese auch in die Lage versetzt werden, ihre Aufgaben zu erfüllen.

[Florian Kluckert (FDP): Lauter!]

Ich muss hier nicht mit anderen Worten und weniger aufgeregt das wiederholen, was der Kollege Isenberg dazu gesagt hat. Ich will deshalb die Gelegenheit nutzen, einmal kritisch daran zu erinnern, wie wir über viele Jahre mit unseren öffentlichen Gesundheitsdiensten umgegangen sind. Nicht nur in von SPD, Linken und

(Thomas Isenberg)

Grünen besetzten Bezirksämtern, sondern auch in denen, in denen die CDU das Sagen hatte, Frau Seibeld.

Ich kann mich noch sehr gut an die Debatten zum Beispiel in der 16. Legislaturperiode erinnern, als 2007 und 2008 in diesem Haus ernsthaft darüber diskutiert wurde, große Teile der Aufgaben des öffentlichen Gesundheitsdienstes in die Gewährleistung zu geben, also zu privatisieren. Die damalige Diskussion war nicht von der Frage geprägt, welche Aufgaben der öffentliche Gesundheitsdienst eigentlich hat, sondern sie stand vielmehr unter der Fragestellung, welche Aufgaben wir uns noch leisten können. Statt diese Aufgaben offensiv zu definieren und den ÖGD als wesentliche, dritte Säule der Gesundheitsversorgung auszurichten, ging es um Einsparpotenziale. In der Gesetzesvorlage zum Gesundheitsdienstreformgesetz von 2006 hieß es klar und unmissverständlich:

Gegenüber dem Ergebnis der Kosten- und Leistungsrechnung von 2004, wonach in diesem Jahr Gesamtkosten von 139,2 Mio. Euro entstanden sind, werden für den öffentlichen Gesundheitsdienst der Bezirke dauerhafte Einsparungen in erheblichem Umfang erwartet …

Das war die Prämisse. Eine weitergehende Auslagerung der öffentlichen Gesundheitsvorsorge konnte damals zum Glück politisch verhindert werden. Aber dennoch ist es uns nicht gelungen – das müssen wir auch selbstkritisch sagen –, den ÖGD seiner Bedeutung für die öffentliche Gesundheitsversorgung entsprechend personell und finanziell perspektivisch adäquat auszustatten. Die Fehlbestände an Personal sind bekannt und werden mehr oder weniger regelmäßig in Schriftlichen Anfragen abgefragt. Bereits 2010 hieß es dazu im Schlussbericht des Projekts zur Umsetzung des Gesundheitsdienstgesetzes:

Während der gesamten Projektlaufzeit war der Abbau der Stellen für den gesamten ÖGD nicht aufzuhalten. … Mit einem derart reduzierten Personalbestand wird die Freisetzung von Potentialen für Modernisierungsprozesse und die Erfüllung neuer Aufgaben verhindert. Die zurzeit gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben sind nicht mehr in vollem Umfang und mit der erforderlichen Qualität in allen Bezirken zu erfüllen.