Protokoll der Sitzung vom 14.11.2002

Gestatten Sie noch die Zwischenfrage der Frau Kollegin Vossschulte?

Bitte, Frau Abg. Vossschulte.

Ist Ihnen bekannt, Frau Kollegin Rastätter, dass man bereits jetzt in der Klassenkonferenz entscheiden kann, ob dem Widerspruch abgeholfen wird, und dass es sich hier nur um eine Formalie handelt, die völlig überflüssig ist und nur Zeitaufwand kostet?

Das heißt aber trotzdem, dass die Eltern vor Gericht natürlich sofort beantragen können, dass die aufschiebende Wirkung wieder hergestellt wird.

(Abg. Christa Vossschulte CDU: Das können sie jetzt schon!)

Das Wort erteile ich Frau Ministerin Dr. Schavan.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! In allen Reden ist gesagt worden, dass unsere Schulen in einem sehr intensiven Prozess stehen, der Schülerinnen und Schüler, Elternschaft und auch Kollegien einbezieht bei der Beantwortung der Fragen: Wie stärken wir Erziehung? Wie sorgen wir dafür, dass in unseren Schulen die Frage einer Ordnung des Zusammenarbeitens und der Spielregeln besser angegangen wird? Es gibt viele gute Beispiele.

Zweitens ist über das Stichwort Prävention gesprochen worden. Auch dazu wurde das Konzept vorgestellt. Was wir heute besprechen, steht nicht in Konkurrenz dazu,

(Abg. Christa Vossschulte CDU: So ist es!)

sondern bezieht sich auf sehr ernsthafte Situationen, in denen Prävention und das, was an gemeinsamer Ordnung erarbeitet worden ist, einfach nicht mehr reichen.

Die vorgeschlagene Novellierung von § 90 des Schulgesetzes wird in den ganz ernsten Situationen die Arbeit an den Schulen erleichtern. Deshalb begrüße ich diesen Gesetzentwurf der Fraktion der CDU und der Fraktion der FDP/DVP. Ich begrüße ihn auch deshalb, weil ich aus vielen, vielen Veranstaltungen weiß, dass an der Basis, also in unseren Schulen,

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: So ist es!)

immer wieder der Wunsch formuliert wird, zu Vereinfachungen und zu mehr Klarheit in den Verfahren zu kommen. Ich finde, der Entwurf ist eine gelungene Synthese zwischen ei

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

ner Rechtsvereinfachung einerseits und einer Pädagogisierung rechtlicher Regelungen andererseits.

(Abg. Schmid SPD: Also könnte er von Ihnen stam- men!)

Er berücksichtigt sechs Grundsätze, die bei allen rechtlichen Rahmenregelungen für unser Schulwesen wichtig sind.

Erster Grundsatz: Bei allem, was wir rechtlich tun, müssen wir bedenken, dass Lehrerinnen und Lehrer, Schulleiterinnen und Schulleiter Pädagogen und keine ausgefuchsten Verfahrenstechniker sind. Schulrechtliche Regelungen müssen also handhabbar sein; sie dürfen nicht zu Fallen für Verfahrensfehler werden. Wir wissen es aus der Praxis: Wenn Widerspruchsbehörden und Verwaltungsgerichte beschäftigt sind, treten in den allermeisten Fällen Verfahrensfehler zutage. Das, was an pädagogischen Maßnahmen, an Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen ergriffen worden ist, wird dann wieder infrage gestellt. Also auch dort, wo eine Maßnahme pädagogisch gut begründet ist, kann irgendein Verfahrensfehler das Ganze wieder rückgängig machen. Man muss einfach sehen, dass ein solcher Vorgang Autorität in der Schule massiv zerstört. Deshalb ist es richtig, einen Schritt zur Vereinfachung vorzunehmen.

Zu den Gremien muss ich Ihnen aufgrund vieler Gespräche sagen: Schulleiterinnen und Schulleiter, die souverän sind, wissen sehr wohl, dass sie in der Schule nicht alleine herrschen und sprechen. Denn die Disziplinarmaßnahme oder Ordnungsmaßnahme wird doch nicht in einer Situation mit dem Schulleiter oder der Schulleiterin ergriffen, sondern natürlich in einer Klasse oder in einer Gruppe, die dann auch zu beteiligen ist.

Aber ich halte es für richtig, dass wir bei der Frage, welche Voten für eine Entscheidung eingeholt werden müssen, pragmatische Wege gehen, weil es pädagogisch nicht verantwortbar ist – das ist letztlich ein Stück Pädagogisierung –, dass es durch eine ganz formalistische Abfrage zu Verzögerungen kommt.

Zweiter Grundsatz: Rechtliche Regelungen müssen immer dem pädagogischen Auftrag der Schule gerecht werden. Das berücksichtigt der Vorschlag sehr klar. Es liegt im Interesse der Schüler und Schülerinnen, dass die Schule bei Fehlverhalten schnell reagiert und nicht wochen- oder monatelang das Damoklesschwert einer Bestrafung oder einer Erziehungs- und Ordnungsmaßnahme über dem Betroffenen hängt.

Der Entwurf spricht – auch das liegt im Interesse der Schüler und Schülerinnen – die in der Praxis bewährten Zielvereinbarungen an, bei denen in einem Gespräch zwischen Schulleitung, Eltern und Schülern und Schülerinnen Verhaltensverbesserungen formuliert werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Sie haben ja die Beispiele genannt. Da geht es eigentlich nicht mehr darum, einfach nur zu überlegen, welche Strafe angemessen ist. Natürlich geht es bei jeder Ordnungsmaßnahme darum, dass sie auch eine Erziehungsmaßnahme sein muss, und deshalb sind Gespräche und Zielvereinbarungen wichtig.

Dritter Grundsatz: Gesetze im Schulbereich haben eine dienende Funktion. Sie sollen für die Betroffenen eine Hilfe

sein und Schutz bieten. Sie sind also eben nicht, wie das manchmal in Karikaturen dargestellt wird, Herrschaftsinstrumente, die den vor Ort Verantwortlichen das Leben durch die Auferlegung inhaltsleerer juristischer Pflichtübungen schwer machen.

Die bisherige Regelung hat diesen Grundsatz, wie uns die Praxis an vielen Beispielen gezeigt hat, nicht uneingeschränkt beachtet. Das ist, so denke ich, in der Rede von Frau Vossschulte am Beispiel der Abfolge von Konferenzen aufgezeigt worden. Bis zu fünf Konferenzen sind bisher notwendig, auch wenn man nur über einen zweitägigen Unterrichtsausschluss nachdenkt. Wenn vier bis fünf Konferenzen einberufen werden, ist das nicht nur pädagogischer Unsinn, sondern führt das auch zu einer Beschäftigungstherapie, die eigentlich niemandem in der Schule nützt.

Vierter Grundsatz: Was immer wir im Blick auf rechtliche Rahmenbedingungen tun, wir müssen mit der Zeit der Lehrerinnen und Lehrer verantwortungsvoll umgehen. Zeit, die sie zur Abwicklung eines aufwendigen Verfahrens brauchen, fehlt ihnen für die didaktische und pädagogische Arbeit.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP/ DVP)

Fünfter Grundsatz: Schulrechtliche Rahmenregelungen müssen Raum für die Wahrnehmung persönlicher Verantwortung lassen.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Sehr gut!)

Das, meine Damen und Herren, ist ja ein Grundsatz, den wir bei der Schulentwicklung jetzt überall wollen. Es geht nicht um das Abarbeiten von Vorschriften, sondern um Möglichkeiten und Raum für persönliche Gestaltung. Das gilt auch für Ordnungs- und Erziehungsmaßnahmen. Sie haben gesagt, die Lehrer und Lehrerinnen würden mit dem, was wir den Schulleiterinnen und Schulleitern jetzt ermöglichen, abgewertet.

(Abg. Wacker CDU: Daran glaubt der Arbeitskreis der Grünen nicht!)

Ich sehe, vor allem auch nach vielen Gesprächen mit Schulleiterinnen und Schulleitern: Die Position derer, die in Deutschland eine Schule leiten, ist im Blick auf das, was wir ihnen an Möglichkeiten zur Entscheidung tatsächlich geben, schon hoch problematisch. So kann man kein Unternehmen und kaum eine Gruppe führen. Ich habe das in anderem Zusammenhang auch schon öfter gesagt. Deshalb halte ich es für notwendig und richtig – wir werden das in einem anderen Zusammenhang auch noch erleben –, dass Schulleiterinnen und Schulleiter auch persönlich Verantwortung übernehmen können und nicht in jeder Frage auf Voten anderer angewiesen sind.

(Zuruf des Abg. Boris Palmer GRÜNE)

Damit wird deutlich: Der, dem ich die Aufgabe gebe, eine Schule zu leiten, muss auch entsprechende Führungsmöglichkeiten haben.

Sechster Grundsatz: Generell muss all das, was wir an rechtlichen Rahmenvorgaben machen, bei Wahrung der Rechts

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

staatlichkeit zur Vereinfachung von Verfahren führen. Das gilt natürlich ganz besonders bei harten Entscheidungen. Die Frage des Schulausschlusses ist eine solche harte Entscheidung. Deshalb ist es richtig, denke ich, dass hierzu das Votum der Klassenkonferenz eingeholt wird. Daran wird sich auch nichts ändern.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Oder der Jahrgangs- stufenkonferenz!)

Aber auch da muss man sagen: In der Realität ist es nun einmal so, dass, bevor überhaupt über eine Erziehungs- und Ordnungsmaßnahme entschieden wird,

(Abg. Christa Vossschulte CDU: So ist es!)

dem doch keine Schweigeexerzitien des Schulleiters vorangehen,

(Beifall der Abg. Christa Vossschulte CDU und Kleinmann FDP/DVP – Abg. Kleinmann FDP/DVP: So ist es!)

sondern mit denen, die diese Situation erlebt haben, Gespräche geführt werden, die zu einer entsprechenden Maßnahme führen.

Schließlich betont der vorgelegte Entwurf mit dem Hinweis auf Zielvereinbarungen noch stärker als das bisherige Gesetz den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Beachtung dieses Grundsatzes muss der Schulleiter gegenüber der Schulaufsicht und auch gegenüber den Verwaltungsgerichten begründen können. Das heißt – das ist ein ganz deutlicher Hinweis in der Novellierung –, der Schulleiter oder die Schulleiterin bleiben in einem Beziehungsgeflecht, das dafür sorgt, dass die Schulen bei Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen mit Maß und Ziel vorgehen. Deshalb bin ich der Meinung und der Überzeugung, dass dieser Entwurf zur Änderung von § 90 des Schulgesetzes in einem ganz schwierigen Bereich, der in der Tat Gott sei Dank nicht alltäglich ist – –

(Abg. Renate Rastätter GRÜNE: So ist es!)

Je mehr es gelingt, das weite Spektrum der Prävention und der Stärkung von Erziehung in unseren Schulen zu entwickeln, desto weniger wichtig wird das ja werden.

(Abg. Renate Rastätter GRÜNE: So ist es!)

Aber genau in den entscheidenden Situationen ist es wichtig, Verfahren und Gestaltungsräume zu haben, bei denen erstens klar ist, dass das, was getan wird, pädagogisch verantwortet wird, bei denen zweitens klar ist, dass das, was getan wird, der Autorität von Schule nicht durch Inkonsequenz und Verschleppung über lange Zeiten schadet, und bei denen drittens das, was getan wird, mit einer Perspektive für Schülerinnen und Schüler einerseits und ihre Schule andererseits verbunden wird, wie das Verhalten verändert und verbessert werden kann.

Deshalb ist das letztlich eine Novellierung, die eine Pädagogisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen bedeutet und damit im Interesse der Schülerinnen und Schüler ist.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Kleinmann FDP/ DVP)