Protokoll der Sitzung vom 21.01.2015

denkt. Sprüche wie „Lügenpresse auf die Fresse“ gibt es auch in Deutschland nicht erst seit dem 7. Januar 2015. Lokalzeitungsbüros in Ostdeutschland werden schon seit Jahren mit Naziparolen beschmiert, terrorisiert und bedroht. Im vergangenen Herbst hat in Berlin ein Innensenator die Zuschüsse für das Maxim Gorki Theater kürzen oder streichen wollen, weil ihm da eine künstlerische Aktion politisch nicht gefallen hat.

Dass jeder Meinungen jederzeit quasi von überall

auf der Welt nach überall in die Welt senden kann, das stellt uns jetzt vor große Herausforderungen. Dass Journalisten und Künstler ihre Arbeit machen, sich etwas trauen, sich Gehör verschaffen und uns aufmerksam machen, dafür müssen wir dankbar sein, nicht mehr und nicht weniger! Freie Medien, freie Kunst, auch freie Religion, das sind die Räume und der Rahmen, in denen wir Angst begegnen können, sie abbauen und sie erträglich machen können. Durch Wissen, durch Fragen, durch Fantasie, durch Wollen und, wer will und wer kann, auch durch einen Glau ben und seinen Glauben. Wir können Freiheit nicht fordern oder beanspruchen, wir können Freiheit nur täglich machen.

Ich habe während der Terroranschläge an mei

ne Kindheit auf dem Höhepunkt des RAF-Terrors denken müssen, als ich große irrationale Angst vor Terroristen hatte, schon vor den Fahndungsfotos, und hinter jedem Polizisten in einem Kaufhaus oder auf dem Bahnsteig eigentlich schon einen Terroristen vermutete. Die Beschwichtigungen meiner Eltern konnten mich damals nicht richtig beruhigen. Was mich dann beruhigt hat, war, dass ich mit neun oder zehn Jahren angefangen habe, die Tageszeitung zu lesen, und darauf bestanden habe, abends im Fern sehen politische Sendungen zu sehen. Der Zugang zu Medien, zur einordnenden Erklärung, auch zu den Texten der Terroristen selbst, die man damals im Schwarzdruck noch im linken Buchladen unter der Theke kaufen musste, weil die Publikationen sehr umstritten waren, diese Medien haben mir irgendwann die Distanz genommen, aus der Angst eigentlich besteht. Sie haben mich beruhigt, weil ich verstehen konnte, weil ich einschätzen konnte.

Jetzt stehen seit zwei Wochen vor den Redaktionen

in Deutschland und in Europa wieder Polizisten. Der Schriftsteller Michel Houellebecq, der auf dem Titel der Charlie-Hebdo-Ausgabe am Tage des Anschlags karikiert war, musste vorgestern bei einer Lesung in Köln von der Polizei beschützt werden. Wenn Journa listen hier in Bremen und überall am 8. Januar 2015 angerufen wurden, um ihre Themen der letzten Zeit und ihre Privatadressen bei der Polizei zu notieren, dann können wir nicht sagen, das interessiert uns alles nicht, und dann können wir, glaube ich, auch nicht sagen, das ist eben einfach so. Wenn in Dresden Demonstrationen verboten werden, dann beschränkt das schon jetzt die Freiheit, die wir alle beschwö ren, die wir alle haben und die wir alle verteidigen.

Wir können, glaube ich, alle nicht sagen, dass uns das nicht berührt, dass uns das keine Angst macht. Dagegen müssen wir uns wehren, und genau dazu brauchen wir die Freiheit der Worte und der Ge danken, freie Medien, freie Meinungen, freie Kunst, Glaubensfreiheit. Dazu brauchen wir auch ehrliche Sorge, dazu brauchen wir auch Angst.

Die individuelle Entscheidung für das, was sie wem

mit ihren Wörtern und Bildern zumuten und antun, treffen Journalisten und Künstler selbst. Das macht ihre Arbeit so wertvoll für die Demokratie, die sich immer wieder selbst Grenzen suchen und setzen muss. Heinrich Böll hat gesagt: „Die Kunst braucht keine Freiheit, sie ist Freiheit. Freiheit geben kann ihr keiner; kein Staat, keine Stadt, keine Gesellschaft kann sich etwas darauf einbilden, ihr das zu geben oder gegeben zu haben, was sie von Natur ist: frei!

Gegebene Freiheit ist für sie keine, nur die, die sie

hat, ist, oder sich nimmt. Wenn sie Grenzen über schreitet – nach wessen Meinung ist ganz und gar gleichgültig –, wenn sie zu weit geht, dann merkt sie’s schon: Es wird auf sie geschossen. Wie weit sie gehen darf oder hätte gehen dürfen, kann ihr ohnehin vorher niemand sagen, sie muss also zu weit gehen, um herauszufinden, wie weit sie gehen darf.“ Im Jahr 1966 hat er dies zur Eröffnung des Theaters in Wuppertal gesagt.

Man muss auch islamophobische Bücher schrei

ben dürfen, lästern, pöbeln und schimpfen dürfen. Jeder, der das macht, muss die Kritik daran und den Widerstand dagegen ertragen. Wir brauchen in der Kunst und im Journalismus das Laute, das Böse, das Fremde und die Neugier darauf. Wir könnten es uns sonst nicht einmal vorstellen, und es wäre wirklich fatal, wenn wir das Böse gar nicht sehen und erken nen könnten. Der katholische französisch-deutsche Philosoph Rémi Brague hat dazu gerade gesagt: „Kein Glaube verdient Respekt, auch meiner nicht. Überzeugungen sind Dinge, Respekt kann es nur für Menschen geben.“ – Vielen Dank!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Als nächster Redner hat das

Wort der Abgeordnete Dr. Korol.

Herr Präsident, meine Da

men und Herren! In Paris wurden vor zwei Wochen Mitglieder der Redaktion eines Satiremagazins aus politischen Gründen ermordet. In Paris wurden vor zwei Wochen Kunden und Verkäufer eines jüdischen Supermarktes und nebenbei Polizisten ermordet und auch das aus politischen und religiösen Gründen.

Kann es dafür politische und religiöse Gründe

geben? Nein! Wir haben scharf zwischen Gründen, Rechfertigungen und Ausreden zu unterscheiden. Das gilt auch für all solche Morde und Massenmorde in aller Welt, von denen meine Kolleginnen Frau Vogt und Frau Dr. Mohammadzadeh sprachen. Das alles

ist unfassbar. Ich reagiere in einem ersten Anlauf mit dem Hinweis auf das Ideal des Christentums: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, liebe deine Feinde.“ Das ist nie erreichbar, bleibt aber ein Ideal.

Ich reagiere mit den Worten von Heinrich Heine

darauf, er war Jude, Deutscher, Franzose, Weltbürger, Intellektueller, Demokrat und Flüchtling – Zitat –:

„Die alten, bösen Lieder, die Träume schlimm

und arg, die lasst uns jetzt begraben, holt einen großen Sarg. Hinein leg ich gar Manches, doch sag ich noch nicht was; der Sarg muß sein viel größer wies Heidelberger Faß. Und holt eine Totenbahre, von Brettern fest und dick: auch muß sie sein noch länger als wie zu Mainz die Brück. Und holt mir auch zwölf Riesen, die müssen noch stärker sein als wie der heilige Christoph im Dom zu Köln am Rhein.

Die sollen den Sarg forttragen und senken ins

Meer hinab, denn solchem großen Sarge gebührt ein großes Grab. Wißt ihr, warum der Sarg wohl so groß und schwer mag sein? Ich legt auch meine Liebe und meinen Schmerz hinein.“ – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

(Beifall bei der BIW)

Als nächste Rednerin hat das

Wort die Abgeordnete Frau Vogt.

Herr Präsident,

liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich noch einmal gemeldet, weil mich die Worte der Kollegin Frau Dr. Mohammadzadeh sehr berührt haben und weil sie wichtige Aspekte genannt hat. Vieles von dem, was ich jetzt noch sage, wird Ihnen hier im Saal nicht neu sein, aber diese Debatten hören auch die Menschen draußen, und das hören auch die Men schen, die für die einfachen Versprechungen und den unverhohlenen Hass und das Unverständnis anfällig sind, sodass die die Rechtspopulisten in Deutschland wieder mehr Zulauf erhalten. Ich möchte deshalb doch noch einmal auf einige der Ursachen eingehen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, wenn wir die von mir vorhin angesprochene Polarisierung in dieser Gesellschaft verhindern wollen.

Einige der Kolleginnen und Kollegen, haben sich

in den letzten Monaten intensiv mit den Ursachen, Wirkungen und Auswirkungen von Armut in unse rem Land auseinandergesetzt. Es ist nicht wegzu diskutieren, dass Armut auch bei uns überwiegend Frauen, Migrantinnen und Migranten sowie ihre Kinder trifft. Wir wissen, dass wir eine Aufenthalts politik hatten, die jahrzehntelang Ausbildungs- und Beschäftigungschancen von Migranten – zumindest denen ohne einen deutschen Pass und mit einem unsicheren Aufenthalt – stark eingeschränkt hat. Seit dem Jahr 2009 kommt es zu Veränderungen, aber immer noch sehr zögerlich. Natürlich haben die vergangenen Jahrzehnte das Klima hier geprägt, denn hier leben zumindest zwei Generationen, über

wiegend muslimischer Migranten, die die Erfahrung machen mussten, dass sie in unserem Land nicht richtig willkommen waren und denen man große Steine im Bereich der Integration und Teilhabe in den Weg gelegt hat.

Ich möchte daran erinnern, dass wir nicht vergessen

dürfen, dass die Generation der eigentlich bereits hier angekommenen und integrierten sogenannten türkischen Gastarbeiterfamilien diejenige war, die unbestreitbar in der politischen und gesellschaft lichen Auseinandersetzung zu den Verlierern der Wendeprozesse gehört hat. Dies allein erklärt die Faszination, die religiöser Fanatismus auf meistens junge Menschen ausübt, sicher nicht. Mit Sicherheit tragen auch bestimmte Rollen und Identitätsfin dungsprozesse, unterschiedliche Kulturen, die in unterschiedlichen Generationen unterschiedlich aufeinandertreffen, dazu bei.

Europa hat Jahrhunderte Erfahrungen mit Ein

wanderungswellen. Unproblematisch verlief das nie, ich erinnere hier nur an die polnischen Industriear beiterinnen, die es um das zwanzigste Jahrhundert herum gab oder an die Integration der Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg. Man muss aber einmal ehrlich zu sich selbst sein und festhalten, dass Europa sich mit der Teilhabe von muslimischen Migranten schwergetan hat und auch noch tut.

Wir werden hier andere Antworten finden müssen

als bisher. Es ist bezeichnend, dass diejenigen, die nach Syrien in den Dschihad ziehen, angeben, dass die klaren Verhältnisse ausschlaggebend sind. Es gibt Versorgung, ein bisschen Wohlstand, vor einiger Zeit konnte man sehen, dass es dort DVDs gibt, Sicherheit in einer klaren Gruppenhierarchie mit Überordnungen und Unterordnungen und tradierte Geschlechterrol len vorhanden. Auf die dahinterstehende Haltung hat Frau Dr. Mohammadzadeh hingewiesen. Es ist interessant, dass dies scheinbar auch deutsche Ju gendliche anzieht, denn die Anzahl der Konvertiten, die nach Syrien geht, ist nicht gerade gering. Es gibt natürlich auch andere Ursachen, auf die wir heute in der Debatte nicht abschließend eingehen können. Ich möchte nicht die Situation der Verwerfungen diskutieren, die es in vielen muslimischen Ländern gibt, das würde den Rahmen sprengen.

Ich habe vorhin die Toten in Nigeria erwähnt,

Frau Dr. Mohammadzadeh die unzähligen anderen Toten. Die meisten Opfer des islamistischen Terrors sind Muslime. In den muslimischen Ländern üben diese Gruppen trotzdem eine Faszination auf junge Menschen aus, und viele schließen sich den Terror gruppen an. Unabhängig von Kriegen, ökonomi schen und sozialen Eruptionen in diesen Ländern, muss man auch festhalten, dass eine reaktionäre und restriktive Auslegung des Islams Zulauf erhält. Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist historisch betrachtet bemerkenswert.

Der Islam galt im ausgehenden Mittelalter und in

der Neuzeit als die liberalere, die progressivere und

die wissenschaftlich und kulturell fingerzeigende Religion, und noch in den Sechzigerjahren des ver gangenen Jahrhunderts sind viele freiwillig konver tiert, ich nenne an dieser Stelle nur Muhammad Ali.

Wir müssen auch feststellen, dass die reaktionären

Kräfte im Islam oder in den muslimischen Ländern in den vergangenen Jahrzehnten oft von Ländern, aber auch von Regionalregierungen unterstützt worden sind, die dort ihre eigenen Interessen haben. Es ist schon bemerkenswert, Sie können in der aktuellen Ausgabe der „Le Monde dimplomatique“ einen ganz interessanten Artikel über die Paschtunen im Hindukusch und deren jeweilige Instrumentalisie rung durch diverse internationale und nationale Interessenlagen finden und welche Auswirkungen das gehabt hat und immer noch hat, nämlich das Entstehen und das Erstarken der Taliban. Diese in ternationalen Fragen können wir hier vor Ort nicht lösen, aber die Verhältnisse hier gehen uns etwas an und müssen uns etwas angehen.

(Glocke)

Gerade angesichts der Anschläge von Paris müssen