Protokoll der Sitzung vom 10.11.2011

Die Bürgerschaft (Landtag) nimmt von der Mitteilung des Vorstands mit dem Abschlussbericht über die Kommunikationskampagne zur Bürgerschaftswahl 2011, Drucksache 18/94, Kenntnis.

Radikalenerlass in Bremen aufheben!

Antrag der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und der SPD vom 2. November 2011 (Drucksache 18/97)

Dazu als Vertreter des Senats Herr Staatsrat Lühr und Herr Staatsrat Strehl.

Die Beratung ist eröffnet.

Als erster Redner hat das Wort der Abgeordnete Dr. Kuhn.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und der SPD fordern mit diesem Antrag den Senat auf, die formal immer noch geltenden rechtlichen Grundlagen des Radikalenerlasses in Bremen aufzuheben und auf diese Weise dieses in meinen Augen dunkle Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte politisch endgültig abzuschließen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Ich möchte eine Vorbemerkung machen! Ich war zwar zweimal persönlich direkt betroffen, einmal in Bremen, einmal in Niedersachsen,

(Abg. D r. v o m B r u c h [CDU]: Hört, hört!)

aber ich bin nicht befangen, denn wenn wir in unserem Antrag sagen, der Radikalenerlass war ein po

litischer Fehler, dann geht es heute nicht um materielle oder finanzielle Fragen, und es geht auch nicht, das möchte ich deutlich sagen, darum, im Nachhinein Recht gehabt zu haben, das ist nicht der Punkt. Ich kann jetzt natürlich nur für mich selbst sprechen. Ich weiß sehr gut, welche politischen Flausen, vorsichtig gesagt, genauer gesagt, welche politischen Irrtümer ich persönlich damals im Kopf gehabt habe, neben vielen berechtigten Kritiken und Ideen. Das gilt aber auch umgekehrt für die andere Seite, dass Sie mich nicht missverstehen, das ist jetzt auch kein Erlass für die andere Seite. Entscheidend für mich ist, dass der Radikalenerlass, oft ja auch zugespitzt und zu Recht Berufsverbot genannt, ein falsches und ein nicht legitimes Mittel gewesen ist, sich mit diesen Ideen auseinanderzusetzen. Deutschland war damit damals ja auch in ganz Europa isoliert.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Am 28. Januar des kommenden Jahres wird es 40 Jahre her sein, dass Bundeskanzler und Ministerpräsidenten sich auf die Grundsätze verständigt haben, die dort genannt sind. Aus diesem Anlass werden auch in Bremen Dokumentationen, Erinnerungen vorbereitet und veröffentlicht werden, in denen man dann im Detail nachlesen kann, welche persönlichen Schicksale die Folge waren. Deswegen will ich hier auch kein persönliches Schicksal erwähnen oder hervorheben.

Ich will das Entscheidende sagen: In keinem einzigen Fall wurde den damals ja in der Regel jungen Menschen schlechte Arbeit vorgeworfen oder gar Indoktrination, im Unterricht etwa, oder Fehlentscheidungen im Amt, darum ging es nie. Es ging immer nur um die Überprüfung von Gesinnung, in der Regel auf Grundlage von Vermutungen, die sich aus reiner Organisationszugehörigkeit ergaben. Es ging auf dieser Grundlage um Verdächtigungen, um Kontrolle, um Gesinnungsschnüffelei, und leider hat sich das dann auch in vielen Fällen auf die Gewerkschaften ausgedehnt, eine besonders dunkle Seite. Oft war der Gewerkschaftsausschluss der erste Schritt, der dann das spätere Berufsverbot nach sich gezogen hat und umgekehrt.

Der Punkt ist, dass sich die staatliche Verwaltung damals angemaßt hat, die Entscheidung über das erlaubte Maß an Kritik und Meinungsvielfalt zu treffen. Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst und diejenigen, die sich dafür bewarben, wurden aufgrund von Organisationszugehörigkeit und Gesinnung beurteilt und nicht aufgrund dessen, was sie getan, was sie gedacht und gesagt haben. So dachte man, sich die politische Auseinandersetzung ersparen zu können, und hat dadurch das Gegenteil erreicht. Auch in dieser Hinsicht, meine Damen und Herren, war der Radikalenerlass ein schwerer politischer Fehler.

Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion dafür, dass wir diesen abschlie

ßenden Schritt gemeinsam machen, nachdem sich die Staatspraxis ja längst davon entfernt hatte. Die Wenigsten haben gewusst, dass diese Sache noch in Geltung gewesen ist beziehungsweise immer noch ist. Dass wir das heute gemeinsam machen, ist, wie die früheren Äußerungen von Willy Brandt, von Helmut Schmidt oder auch Hans Koschnick, eine praktische Selbstkritik einer, wie wir wissen, langjährigen Regierungspartei hier in Bremen, vor der wir Respekt haben.

Wir bitten den Senat, mit den Betroffenen des Radikalenerlasses in Bremen einen ideellen Abschluss zu finden, wie wir sagen. Die Allermeisten sind ja schon am Ende ihres Berufslebens angekommen oder haben solch einen Ausweg wie ich hier gefunden, noch ein bisschen weitermachen zu können.

(Heiterkeit)

Ich glaube, dieser ideelle Abschluss wird vor allen Dingen eine geeignete Geste sein müssen, aber diese Geste ist wichtig für die Betroffenen, aber auch und vielleicht vor allem für den öffentlichen Dienst in Bremen. Wir sagen allen damit ganz klar und deutlich: Ja, wir erwarten loyale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber mit den gleichen Grundrechten und Pflichten wie wir alle! Sie müssen für das geradestehen, was sie sagen und was sie tun, aber dafür und nicht für etwas anderes.

Der öffentliche Dienst ist nach unserer Verfassung ein Raum des Rechts und ein Raum der Demokratie. Das unterstreichen wir mit unserem heutigen Antrag, deswegen hoffe ich auf eine breite Unterstützung. – Ich bedanke mich!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Liess.

(Abg. R ö w e k a m p [CDU]: Er war doch gar nicht betroffen!)

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich war in der Tat nicht betroffen. Insofern haben wir jemanden, der davon betroffen ist, aber auch jemanden hier stehen, der das auch sehr bewusst miterlebt hat. Es ist ja nicht so, dass man einen Bekanntenkreis hatte, in dem es nur Menschen gab, die davon nicht erfasst waren. So war es ja nicht.

Ich will noch einmal bestärken, was Herr Dr. Kuhn soeben ausgeführt hat! Es ging tatsächlich darum, die Gesinnung zu beurteilen. Es ging nicht darum, Fakten zu beurteilen, das spielte keine Rolle. Der Verdacht reichte aus, jemanden aus dem öffentlichen ––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.

Dienst auszuschließen. Das bedeutete für viele, auch das lässt sich nicht leugnen, dass die persönliche Lebensplanung und die persönliche Karriere zerstört wurden, dass die Menschen sich völlig neu orientieren mussten, und das alles nur, weil man einen Verdacht hatte. Das ist eines Rechtsstaats unwürdig, das ist auch nicht hinnehmbar!

Dabei möchte ich eines allerdings auch noch sagen, man muss vielleicht einmal in Erwägung ziehen, in welcher Zeit dieser Radikalenerlass – als Berufsverbot ist er ja in der Tat besser bekannt – tatsächlich erlassen wurde. Ich bin jetzt weit davon entfernt, die Sozialdemokratie für diesen politischen Fehler zu entschuldigen, ich möchte aber nur darauf hinweisen, dass wir Anfang der Siebzigerjahre ein Klima in dieser Republik hatten, bei der der SPD als mindeste Beschimpfung die Vaterlandslosigkeit unterstellt wurde. Die SPD befand sich in einem gewissen Zugzwang, und sie hat falsch reagiert, das will ich deutlich sagen, und das lässt sich auch nicht im Nachhinein in irgendeiner Weise rechtfertigen. Wir haben hier die Neutralität des Staates verletzt, wir haben die Unschuldsvermutung nicht gelten lassen, und wir haben damals das Vertrauen in die Unabhängigkeit des Staates zerstört.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Es ist richtig, dass wir dies jetzt ändern und diesen formal immer noch in Kraft befindlichen Radikalenerlass außer Kraft setzen. Es bedarf einer geeigneten Geste den Betroffenen gegenüber. Es geht nicht – Herr Dr. Kuhn hat das auch ausgeführt – um die Schaffung eines Rechtsanspruchs, darum geht es gar nicht, sondern es geht um das offizielle Anerkenntnis den Betroffenen gegenüber, einen politischen, die Betroffenen auch schwer getroffenen Fehler gemacht zu haben. Darum bitten wir Sie um Ihre Unterstützung, den Radikalenerlass nun endlich aufzuheben und einen Schlussstrich unter dieses Kapitel zu ziehen! – Danke!

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Erlanson.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren! Ich glaube, uns allen ist relativ klar, meine Vorredner haben das in aller Deutlichkeit gesagt, und Willy Brandt hat das ja auch einmal so schön von sich selbst gesagt, dass es ein großer Fehler seiner Regierung gewesen ist, diesen Radikalenerlass einzuführen. Ich finde, da er nach einer so langen Zeit in Bremen immer ––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.

noch besteht, ist es in der Tat höchste Zeit, dass er von diesem Parlament heute auch zurückgenommen wird. Deshalb werden wir das als DIE LINKE natürlich unterstützen!

Ich sage es einmal so, was damals richtig war, gilt auch heute noch nach wie vor. Wir haben eine gute Verfassung, und mit dieser Verfassung ist selbst das, was wir als DIE LINKE heute anstreben, was wir demokratischen Sozialismus nennen, ohne Weiteres möglich. Darin steht etwas über Vergesellschaftung und über die soziale Bindung von Eigentum. Mehr brauchen wir als DIE LINKE nicht, deshalb stehen wir auf dem Boden dieser Verfassung, und deshalb sind wir auch für die Abschaffung dieses Radikalenerlasses! – Danke!

(Beifall bei der LINKEN)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Hinners.

(Abg. Frau H i l l e r [SPD]: Herr Hinners macht heute eine One-Man-Show!)

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie hätten mich auch gern, oder?

(Heiterkeit – Abg. Frau B ö s c h e n [SPD]: Dann hätten die anderen ja gar keine Chance mehr!)

Der im Januar 1972 auf Bundesebene beschlossene – es ist, glaube ich, von Herrn Dr. Kuhn schon gesagt worden – und in Bremen 1977 per Erlass verkündete sogenannte Radikalenerlass sollte auch nach Ansicht der CDU-Fraktion aufgehoben werden.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Wie bekannt, hat dieser Erlass in Bremen in den Siebziger- und Achtzigerjahren dazu geführt, dass in circa 70 Fällen Bewerber, die als Mitglied einer verfassungsfeindlich eingestuften Organisation galten, nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt werden durften. Entscheidend war in diesem Zusammenhang nicht das konkrete Handeln dieser Person, sondern allein die Mitgliedschaft zu einer als verfassungsfeindlich eingestuften Partei wurde herangezogen. Diese damalige Praxis ist aus heutiger Sicht nicht rechtskonform. Es wurde von Herrn Liess schon gesagt, die Unschuldsvermutung wurde an der Stelle aus heutiger Sicht zumindest mit Füßen getreten. Ob diese ––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.

damalige Praxis allerdings in allen Fällen unberechtigt war, kann heute wahrscheinlich keiner mehr so richtig beurteilen, denn die entscheidende Prüfung, nämlich ob die Personen auch in ihrem Handeln gegen die Verfassung verstoßen haben, ist ja gar nicht angestellt worden. Das ist sicherlich das, was unserer heutigen Rechtsauffassung entsprechen würde.

Wenn wir uns jetzt vorstellen, morgen würde sich ein bekennender und aktiver Nazi als Lehrer in einer Schule, möglicherweise noch in einer Grundschule, bewerben oder genauso ein aktiver und sehr extrem auftretender Linker, dann hätten wir, glaube ich, alle ein Problem damit. Dafür haben wir aber das Verwaltungsrecht, um in solch einem Fall die Möglichkeit der Einstellung zu verhindern. Das ist auch gut so! Wir werden also dem Antrag zustimmen, das kann ich hier sagen!

Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir allerdings zum Abschluss eine persönliche Bemerkung! Kollege Dr. Kuhn, so wie ich Sie hier in der Bremischen Bürgerschaft und bei verschiedenen Gesprächen – Sie kennen meinen Hintergrund, und ich kenne Ihren Hintergrund, zumindest aus den Gesprächen –, und zwar auch zu den politischen Gesprächen, kennen gelernt habe, glaube ich, dass Ihnen mit diesem Erlass persönlich Unrecht angetan wurde. – Vielen Dank!

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Als nächster Redner hat das Wort Herr Staatsrat Lühr.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will die Stellungnahme des Senats noch kurz vortragen! Der Senat begrüßt den Entschluss der Bürgerschaft und wird die Bremer Regelung nunmehr kurzfristig auch formal außer Kraft setzen. Dazu bedarf es einer Senatsentscheidung, die wir jetzt auf den Weg bringen werden.

Zu Ihrer Information möchte ich noch einmal sagen: In den letzten 20 Jahren ist der Radikalenerlass nicht mehr praktiziert worden, das ist ja auch hier schon in der Debatte ausgeführt worden. Der Senat wird auch den ideellen Ausgleich für die Betroffenen herbeiführen. Das haben wir in Einzelfällen in den letzten Jahren auch immer wieder gemacht, wenn der Anlass dafür gegeben war, insbesondere bei Jubiläen oder bei Anrechnungen von Dienstzeiten im Angestelltenrecht und vielen anderen Einzelfällen. – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!