Protokoll der Sitzung vom 22.09.2015

destlohn in Albanien ca. 150 €. Der Durchschnittslohn – das ist das gesamte verfügbare Einkommen, von dem der gesamte Lebensunterhalt einer Familie bestritten werden muss – beträgt ca. 300 € monatlich.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Ich weiß nicht, auf was er geantwortet hat, aber es hat mit der Frage nichts zu tun! – Janine Wissler (DIE LINKE): Das hat mit der Frage doch gar nichts zu tun!)

Ich rufe dann Frage 363 auf. Herr Abg. Warnecke.

Ich darf die Landesregierung fragen:

Wie sieht die landesweite Notfallplanung für die Unterbringung von Flüchtlingen und Asylsuchenden aus?

Herr Innenminister Beuth.

Herr Abgeordneter, im Falle von Engpässen in der Erstaufnahmeeinrichtung und den dazugehörigen Außenstellen sieht die Notfallplanung eine vorübergehende Unterbringung in vorgeplanten Notfallstationen wie z. B. Turnhallen oder Mehrzweckhallen durch Einheiten des Katastrophenschutzes im Wege der Amtshilfe sowie gegebenenfalls die Ausrufung des Katastrophenfalls vor.

Herr Abg. Warnecke stellt eine Zusatzfrage.

Herr Staatsminister Beuth, habe ich Sie richtig verstanden, dass diese Notfallplanung des Landes zentral in Absprache mit den Landkreisen und den kreisfreien Städten vorgenommen wird? Ist das richtig?

Herr Staatsminister Beuth.

Wir haben im Moment Notfallunterkünfte schon entsprechend in Wiesbaden, Hanau, Frankfurt, Darmstadt und Offenbach organisiert. Diese Notfallunterkünfte wurden durch die Katastrophenschutzbehörden, also durch den Oberbürgermeister oder durch den Landrat, in Auftragsverwaltung und entsprechender Amtshilfe für das Land errichtet. So würde das weitergehen.

Frage 376 wurde zurückgezogen.

Damit kann ich Frage 377 des Herrn Abg. Dr. Spies aufrufen. Wer übernimmt? – Frau Dr. Sommer, bitte schön.

Ich frage die Landesregierung:

Warum wird die medizinische Versorgung von Flüchtlingen in den Zelt- und Notaufnahmelagern durch niedergelassene Ärzte vor Ort im Lager nicht gestattet?

Herr Staatsminister Grüttner.

Frau Abgeordnete, in etlichen Unterkünften der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge sind niedergelassene Ärzte als Honorarkräfte tätig.

Meine Damen und Herren, damit wurden die Fragen, die in die Regierungserklärung einbezogen wurden, beantwortet. Wir können damit zu Tagesordnungspunkt 2 kommen. Das ist die Regierungserklärung des Herrn Ministerpräsidenten zum Thema „Hessen handelt“.

Die vereinbarte Redezeit beträgt 30 Minuten. Das gilt für die Fraktionen und ist Ihre Orientierung.

Das Wort hat Herr Ministerpräsident Bouffier. Bitte schön.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen, meine Herren! Täglich sehen die Menschen die Fernsehbilder der Flüchtlinge, die nach Europa und vorzugsweise nach Deutschland und auch zu uns nach Hessen kommen. Nichts beschäftigt unsere Mitbürger zurzeit so intensiv wie dieses Thema.

Unsere Bürgerinnen und Bürger wollen helfen, und zugleich machen sie sich Sorgen, ob wir diese Herausforderung bestehen können. Ihnen allen möchte ich zurufen: Wir stehen vor einer Herausforderung von historischer Dimension. Sie wird uns viele Jahre begleiten, und sie wird unser Land verändern.

Aber wir können und werden diese Herausforderung meistern. Diese Aufgabe wird uns ganz außerordentlich fordern. Aber wenn wir es vor Ort klug machen, wir in Hessen, in Deutschland und vor allem auch in Europa, wird es uns nicht überfordern. Dabei werden wir auch sehr darauf zu achten haben, dass eine gemeinsame Zukunft der Menschen, derer, die schon lange hier leben oder schon immer hier gelebt haben, und der Menschen, die neu zu uns kommen, nur dann erfolgreich und friedlich gelingen kann, wenn die tragenden Werte unserer Gesellschaft, wie sie in unserer Verfassung zum Ausdruck kommen, auch unsere gemeinsame Zukunft bestimmen.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir erleben zurzeit ein Flüchtlingselend von rund 60 Millionen Menschen. Das sind so viele wie seit dem Zweiten

Weltkrieg nicht mehr. Die Auswirkungen von Diktaturen, Kriegen, Not, Elend und Perspektivlosigkeit erreichen unser Land in einer bis dahin nie gekannten Dimension.

Mittlerweile geht auch der Bund davon aus, dass wir in diesem Jahr etwa 800.000 Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen werden. Ich habe schon vor Wochen darauf hingewiesen, dass ich die Zahl 1 Million für realistisch halte.

Ein Blick auf die Entwicklung der letzten Jahre in Hessen macht die Dimension der Herausforderung deutlich. Im Jahr 2012 hatten wir im ganzen Jahr 5.000 Asylbewerber. Im Jahr 2013 waren es 8.700. In diesem Jahr erwarten wir nur in Hessen 60.000 Asylbewerber.

Meine Damen und Herren, wir nehmen mehr Flüchtlinge in unserem Land auf, als Kinder in diesem Land geboren werden. Das zeigt zum einen die Dimension der Aufgabe, aber auch die herausragende Aufnahmeleistung unseres Landes.

Hessen hat gehandelt: Mittlerweile haben wir über 18.000 Menschen in der Erstaufnahme des Landes Hessen. Allein in den letzten zwei Wochen haben wir 15.000 Menschen aufgenommen. Das ist die gesamte Bevölkerung einer hessischen Klein- oder kleinen Mittelstadt. Nahezu täglich nehmen wir Außenstellen der zentralen Erstaufnahmestelle in Gießen in Betrieb. Neben den beiden dortigen Liegenschaften nehmen wir mittlerweile in 24 Außenstellen und fünf Notunterkünften die Menschen auf, die zu uns kommen, und versorgen sie.

Meine Damen und Herren, auch das will ich einmal erwähnen: Wir haben es in Hessen geschafft, alle Flüchtlinge – sowohl die, die uns aus anderen Ländern geschickt werden, als auch die, die direkt zu uns kommen – aufzunehmen. Dabei nehmen wir zurzeit weit mehr Menschen auf, als uns nach dem Verteilungsschlüssel der Länder eigentlich als Pflicht auferlegt ist. Aber wir schicken die Flüchtlinge nicht weg. Niemand muss bei uns auf der Straße schlafen, alle erhalten ein Obdach, Versorgung und medizinische Hilfe.

Meine Damen und Herren, wenn Sie sich noch einmal in Erinnerung rufen: so viele Tausend Menschen in kürzester Zeit. Jedem eine Hilfe angedeihen zu lassen, das ist eine großartige Leistung, die unser aller Dank und Anerkennung verdient und zeigt, dass hier in Hessen Willkommenskultur wirklich gelebt wird.

(Beifall bei der CDU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Diese Aufnahme ist nicht nur eine große Leistung, sie ist auch eine große Anstrengung. Aber für uns muss gelten: Jeder, der kommt, muss anständig behandelt werden – auch wenn nicht jeder, der kommt, im Lande bleiben kann. Das Grundrecht auf Asyl ist nicht beliebig einschränkbar, je nachdem, wie viele da nun gerade kommen. Das macht unsere Herausforderung in Deutschland so einzigartig, auch im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn. Aber für uns gilt: Wer in Not ist, der muss Hilfe erhalten. Zuallererst ist jeder Flüchtling ein Mensch und muss menschenwürdig behandelt werden.

(Allgemeiner Beifall)

Meine Damen und Herren, das müssen wir immer wieder auch gerade denjenigen klarmachen, die glauben, sie könnten jetzt gegen Flüchtlinge Stimmung machen. Jedem, der

glaubt, sich so verhalten zu können, müssen wir zurufen: In Hessen ist kein Platz für Rassismus, für Häme, für Hetze und schon gar nicht für Gewalt.

(Lebhafter allgemeiner Beifall)

Das muss gelten, ganz gleich, ob es offen geschieht oder häufig anonym, z. B. in den sozialen Netzwerken. Mit allen Mitteln des Rechtsstaates müssen wir dagegen antreten. Aber was wir vor allen Dingen tun müssen, ist, eine gesamtgesellschaftliche Antwort zu geben, wir alle. Die Antwort muss doch klar sein: Wir wollen ein solches Verhalten nicht hinnehmen, und wir sind auch nicht bereit, gleichgültig einem solchen Treiben zuzuschauen.

Meine Damen und Herren, eine menschenwürdige Unterbringung sicherzustellen ist eine große Herausforderung. Sie müssen sich einmal konkret vorstellen, was es bedeutet, wenn in einer einzigen Woche 7.000 oder 8.000 Menschen kommen: binnen weniger Stunden Zelte aufbauen, Betten aufstellen, sanitäre Einrichtungen, Wasser- und Stromleitungen, Essensversorgung, Erstausstattung, medizinische Versorgung und vieles, vieles mehr. Es ist gerade so, als würden Sie in kürzester Zeit eine Stadt erbauen.

Wer angesichts dieser Umstände meint, er müsse im Hinblick auf die Unterbringung dieses oder jenes kritisieren, weil es vielleicht nicht in allen Punkten dem entspricht, was man sich wünschen möchte, dem sage ich: Was unsere Haupt- und Ehrenamtlichen in den letzten Wochen in diesem Land für die Flüchtlinge geleistet haben, das verdient unseren allergrößten Respekt und unsere höchste Anerkennung.

(Allgemeiner Beifall)

Ich habe nahezu alle Einrichtungen in diesem Land besucht. Ich konnte mir ein persönliches Bild von den Verhältnissen vor Ort machen. Ich habe auch Hinweise auf Unzulänglichkeiten aufgenommen. Ich weiß aber, wie es den Menschen vor Ort geht, und ich möchte Ihnen sagen, gerade den Damen und Herren des Hessischen Landtags, aber auch der Öffentlichkeit: Ich habe auch noch etwas anderes erfahren, was ich mitteilen möchte. Sehr häufig ist mir widerfahren, dass Menschen auf mich zukamen und gesagt haben: „Danke, Deutschland. Wir wissen, was ihr für uns tut.“ Auch das gehört zu dieser Debatte und darf nicht untergehen.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Der Einsatz, den ich dort erlebt habe und erlebe, ist großartig. Die Mitarbeiterinnern und Mitarbeiter in den Unterkünften, der Katastrophenschutz, die Polizei, die Hilfs- und Rettungsdienste, die Feuerwehr, die Bundeswehr, die Regierungspräsidien – ich denke, man muss es einmal besonders erwähnen –, insbesondere das Regierungspräsidium Mittelhessen, sie alle leisten Herausragendes, und dafür danke ich ihnen sehr.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Meine Damen und Herren, die Landesregierung hat einen Aufruf in der Landesverwaltung gestartet mit dem Inhalt: Wer wäre bereit, seine angestammte Tätigkeit jetzt einmal nicht weiter auszuüben und im Wege der Abordnung vor Ort zu helfen? – Wir alle können sehr froh und dankbar

sein, dass dieser Aufruf eine große Resonanz gefunden hat. Ich bedanke mich dafür, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier beispielhaft vorangehen. Das gilt für nahezu alle Bereiche. Meine besondere Anerkennung möchte ich auch den pensionierten Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, den pensionierten Lehrerinnen und Lehrern ausdrücken, die sich hier sofort gemeldet haben und helfen. Das ist gelebte Willkommenskultur und gibt allen Anlass, dass wir heute dafür Danke sagen.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Wir erleben in unserer Gesellschaft vor Ort und überall eine Welle der Hilfsbereitschaft von Ehrenamtlichen, von spontanen Initiativen, von Vereinen, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden, der Ärzteschaft und vieler anderer mehr. Deshalb möchte ich all denen unseren Dank und unsere Anerkennung aussprechen, die – egal, ob haupt- oder ehrenamtlich, aber vor allem den Ehrenamtlichen – sich in der Unterbringung, der Versorgung und der Betreuung der Flüchtlinge eingebracht haben. Sie sind die stillen Helden dieser Tage, und sie tragen entscheidend dazu bei, dass wir mit Fug und Recht von Willkommenskultur in Hessen sprechen können. Herzlichen Dank. Lassen Sie nicht nach. Wir wissen, was Sie tun.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)