Protokoll der Sitzung vom 02.03.2000

Der Senat hat bisher keine Bedarfsanalyse für Tagesförderplätze erstellt. Die Träger selbst führen Wartelisten, und auch die Sonderschulen melden, wie viele ihrer Schulabgänger und Schulabgängerinnen voraussichtlich einen Tagesförderplatz brauchen werden. Koordiniert und analysiert werden diese Zahlen von der BAGS bisher nicht. Dabei kann es doch nicht angehen, daß Eltern kurzfristig erfahren, daß ihr Kind kein weiteres Jahr in der Sonderschule bleiben kann wegen Kapazitätsengpässen, und diese Eltern dann nicht wissen, ob ihr Kind dafür dann in die Tagesförderung kann, sondern sie stehen vor dem Nichts. Es gibt wohl in Hamburg keine eigentlich verantwortliche Stelle für die Rehaplanung dieser schwerbehinderten jungen Menschen an der Schwelle zum Erwachsensein.

Allein nach dem, was wir gehört haben, fehlen in Hamburg derzeit mindestens 50 Plätze in Tagesfördereinrichtungen. Die Behörde erkennt diese Zahlen jedoch nicht an, aber sie liefert keine eigenen Analysen. Sie führt bisher nur eine unsägliche Diskussion über mögliche Doppelmeldungen und angebliche Fehlbelegungen, die konzeptionelle Unklarheiten deutlich machen.

Ich halte die Überlegungen der BAGS, Tagesförderplätze nur halbtags oder auch nur an einzelnen Wochentagen zu belegen, für falsch.

(Beifall bei Lutz Jobs REGENBOGEN – für eine neue Linke)

Tagesförderstellen sind keine Aufbewahrungsstelle für behinderte Menschen. Die Arbeit dort kann auch nicht anständig geleistet werden, wenn sie so behandelt werden. Das Behandeln von Tagesförderstellen in dieser Art ist meiner Meinung nach ein Sparen am falschen Punkt und kann auch zu eigentlich vermeidbaren Heimverlegungen führen.

Wir wollen den eingeschlagenen Weg der hamburgischen Behindertenpolitik weitergehen, und wir wollen erreichen, daß immer mehr behinderte Menschen, auch die am schwersten beeinträchtigten, ein möglichst normales Leben im Stadtteil führen können. Wir wollen also am Zwei

(Dr. Dorothee Freudenberg GAL)

Milieu-Prinzip festhalten, und das beinhaltet teilstationäre Angebote.

Mit unserem Antrag fordern wir den Senat auf, endlich eine ordentliche Bedarfsanalyse für Tagesförderstättenplätze zu erstellen. Wir wollen diese Analyse vor den nächsten Haushaltsberatungen haben.Deshalb haben wir als Termin den 31. Oktober genannt, und wir bitten dringlich um dessen Einhaltung.

Ganz wichtig ist uns die rasche Lösung von Härtefällen, mit der sofort begonnen werden muß. Diese Einzelfälle müssen jetzt erfaßt und individuelle Lösungen gefunden werden.Vielleicht kann mit manchen Trägern von Tagesförderstätten um eine kurzfristige Kapazitätserweiterung verhandelt werden, denn wir müssen diese Menschen versorgen können, auch um die überlasteten Familien zu unterstützen und ihre Trennung zu verhindern, die auch darin bestehen kann, daß sie ihre Kinder in abgelegene Heime geben müssen. – Danke.

(Beifall bei der GAL und bei REGENBOGEN – für eine neue Linke)

Das Wort erhält Herr Witte.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist sehr schwierig, wenn zwei Fraktionen eine Koalition bilden und gemeinsam einen Antrag stellen. Dann redet einer dafür, und der andere kann im Grunde genommen nur einen Teil dessen bestätigen, was schon vorher besprochen worden ist.

(Zuruf von Anja Hajduk GAL)

Ich bin aufgrund meines Alters damit einverstanden, wenn ich von der Altersteilzeit Gebrauch mache und nicht ganz so lange rede.

(Vereinzelter Beifall bei der GAL)

Der Antrag 16/3854, Tagesförderstätten für schwerbehinderte Menschen, wurde von SPD und GAL – Frau Freudenberg hat das schon gesagt – aufgrund eines Gesprächs entwickelt, an dem Eltern und Vertretern aller in der Bürgerschaft vertretenen Parteien teilgenommen haben. Wir waren uns wegen der eindrucksvollen Schilderungen sehr schnell einig, daß hier offensichtlich ein Handlungsbedarf vorliegt. Frau Freudenberg hat darauf hingewiesen – deshalb brauche ich das nicht zu wiederholen –, daß gerade das Segment der behinderten Menschen eine Anspruchsberechtigung hat.Sie hat ferner auf den Trend hingewiesen, der sich neuerdings entwickelt, daß viele Menschen – sei es von den Eltern oder von ihnen selbst – in einer Tagesförderstätte untergebracht sein möchten. Ich komme noch einmal darauf zurück, warum dieses so ist.

Wir haben in Hamburg – ich habe das im Gegensatz zu Ihnen, Frau Freudenberg, aus der Antwort auf Ihre Kleine Anfrage 16/3287 entnommen – 16 Tagesförderstätten mit 647 Vollzeitförderplätzen. Es gibt für diese Plätze bisher nur die Bedarfsmeldungen, die bei den Trägern eingehen. Auch darauf haben Sie hingewiesen. Eine zeitnahe Bedarfsermittlung bei der Behörde gibt es bislang nicht.Das ist wahrscheinlich die Problematik.

(Antje Blumenthal CDU: Nein, das ist schlimm, das ist keine Problematik!)

Der bisher angenommene Bedarf von 40 Plätzen scheint offensichtlich überholt zu sein.Wie uns berichtet wurde, gibt

es allein bei einem Träger 55 Anmeldungen. Für uns stellt sich die Frage, wie aktuell diese Liste ist und ob damit alle Bedarfe abgedeckt sind.Außerdem haben wir aufgrund der Ermittlungen bei den Sonderschulen erfahren, daß sich im Zeitraum 2000 bis 2003 voraussichtlich weitere 75 Schüler um einen Platz in einer Tagesförderstätte bemühen werden. Sie wollen das, was sie in der Schule gelernt haben – soweit wie möglich – erhalten, denn sonst gingen alles Wissen und alle dort erlernten Fähigkeiten sehr schnell wieder verloren, und das wäre sehr bedauerlich.Vielleicht wird es einigen gelingen, in eine Werkstatt für Behinderte zu kommen, aber andere werden es aufgrund der Schwere ihrer Behinderungen nicht schaffen, und die brauchen dann einen Tagesförderplatz.

Des weiteren wurde uns in dem Gespräch geschildert, daß Behinderte, die keine Chance auf einen Tagesförderplatz haben, kaum einen Wohngruppenplatz bekommen werden. Für mich war das im Moment nicht erklärlich, wurde uns aber mit dem Hinweis verdeutlicht, daß in Wohngruppenplätzen nicht gefördert wird.Die Bewohner – Frau Freudenberg hat darauf hingewiesen – gehen hier tagsüber entweder in einer Werkstatt für Behinderte oder bei der Arbeitsassistenz einer Beschäftigung nach. Um denjenigen aber, der beides wegen der Schwere seiner Behinderung nicht kann, reißen sich auch nicht die Wohngruppen.

Eine weitere Erschwernis für die Eltern ist die ins Haus stehende Reduzierung der Plätze für Zivildienstleistende. Auch dieses Thema wurde an uns herangetragen, denn für die Eltern sind die Zivildienstleistenden oft eine wichtige Hilfe gewesen, wenn ihnen die Belastung wirklich einmal zuviel wurde. Es wurden uns dramatische Beispiele geschildert. Für den, der sich nicht mit Behinderten befaßt, ist es nicht einfach, diese Schilderungen nachzuvollziehen.

Wir wollen – so fordern wir in unserem Antrag 16/3854 –, daß zeitnah eruiert wird, wie groß die Bedarfe wirklich sind. Hierbei sollen die Listen der Träger und die Abgangszahl der schwerbehinderten Sonderschüler mit herangezogen werden, um auch eventuelle Doppelanmeldungen auszuschließen. Wir hören immer wieder – auch von seiten der Behörde – von Doppelanmeldungen. Es ist nachvollziehbar, wenn Eltern ihr Kind zum Schulende in einer Tagesförderstätte, weil sie meinen, es habe vielleicht Anspruch auf einen Tagesförderplatz, und zusätzlich bei der Behörde anmelden.

(Vizepräsident Berndt Röder übernimmt den Vor- sitz)

Dann hat man zwei Anmeldungen, obwohl es sich nur um eine Person handelt. Da dies von seiten der Behörde nicht zeitnah und nicht klar eruiert worden ist, ist das eigentlich der Bestandteil unseres Antrags, und deshalb legen wir besonderen Wert darauf.

Wir möchten aber auch allgemeine Daten über die Belegungsstruktur haben, um darüber nachzudenken, ob es zum Beispiel richtig ist, daß es einen lebenslangen Anspruch auf Tagesförderung gibt, ob es zweitens andere adäquate Angebote für Menschen im Rentenalter gibt oder wie es in Zukunft für Schüler gehandhabt werden soll. Ich habe ein paar ablehnende Zurufe gehört, die sich sicherlich nicht mit dem einverstanden erklären, was ich vielleicht sagen möchte.Ich halte es für wichtig und interessant, über eine gewisse Flexibilisierung nachzudenken, indem man vielleicht vormittags und nachmittags oder an einzelnen Tagen unterschiedliche Gruppen betreuen sollte. Zu dieser Frage haben wir sicherlich einen großen Diskussions- und

(Dr. Dorothee Freudenberg GAL)

Informationsbedarf.Wir wollen an diesem Thema dranbleiben, aber das können wir nur, indem wir feste Zahlen vorliegen haben, von denen wir ausgehen können.

Ich bin sehr froh über Punkt 3 unseres Antrags, mit dem wir gewährleisten wollen, daß in Härtefällen – auch solche wurden uns geschildert – möglichst schnell individuelle Lösungen gefunden werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bitte um die Annahme dieses Antrags, damit wir so schnell wie möglich über die Bedarfe von Tagesförderstätten Klarheit haben, um gegebenenfalls möglichst schnell zu handeln, uns möglichst schnell zu informieren und unsere Schlüsse daraus zu ziehen. – Danke schön.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Das Wort bekommt der Abgeordnete Forst.

Herr Präsident, meine Damen, meine Herren! Frau Dr. Freudenberg, Sie haben eingangs Ihres Redebeitrags noch einmal eindrucksvoll die Situation der Behinderten selbst, aber auch die Situation der Tagesförderstätten dargestellt. Dies war sicherlich sinnvoll und richtig, denn wir müssen uns diese besondere Situation betroffener Menschen immer wieder sehr deutlich und viel öfter vor Augen führen.

Vermißt habe ich allerdings, daß der Ansatz der politischen Inhalte und Forderungen eher bescheiden und zögerlich ausgefallen ist.Wenn Sie im letzten Teil des Antrags davon sprechen, Hilfe muß schnell und individuell erfolgen, darf man allerdings keine Berichtsanträge schreiben. Wenn ich mir die Punkte Ihres Antrags anschaue, ist sehr auffallend, daß Sie dem Senat acht Monate Zeit lassen, eine Bedarfsanalyse zu erheben. Verehrte Frau Dr. Freudenberg, die Zahlen liegen vor! Es gibt ständige Datenübermittlungen an die Behörde, nicht nur an die BAGS, sondern gleichwohl natürlich auch an die BSJB. Auf Grundlage dieser verläßlichen Zahlen, die geliefert werden und vorhanden sind, die also greifbar sind, hat der Senat Möglichkeiten, zu handeln und Entscheidungen zu treffen.

Ich halte es für ein politisch völlig falsches Signal und viel zu zögerlich und zu zaghaft, wenn Sie sagen, wir müssen und wollen helfen, schnelle Hilfe tut not, aber dann Berichtsanträge stellen. So, meine Damen, meine Herren, kann man keine glaubwürdige Politik machen, Politik, die im Grunde genommen die Zielsetzung des Handelns hat. Die Zahlen gibt es; wir brauchen nicht lange zu analysieren, zu evaluieren und zu diskutieren, sondern wir müssen ergebnisorientiert handeln. Das kann Politik von uns verlangen.

Lassen Sie mich aber dennoch auf Punkt 2 Ihres Antrags eingehen.Wir kommen zur angekündigten Prüfung aus der Drucksache 16/3287. Es handelt sich bei dieser antragsbezogenen Zielgruppe – ich möchte mich sehr stark am Text Ihres Antrags orientieren – um jungerwachsene Schwerstbehinderte, die auch mit dem Besuch einer Sonderschule eine Ganztagsbetreuung brauchen. Die von Ihnen, verehrte Frau Senatorin, angebotene Teilung vorhandener Plätze – halbtägige Angebote sowie einzelne Wochentage – ersetzen nicht die zwingende Notwendigkeit einer zeitnahen Realisierung und Einrichtung neuer Gruppen. Sie bieten unbefriedigende Alternativen an. Sie wissen, was hier gebraucht wird. Wenn wir wirklich effizient handeln und helfen wollen – Helfen und Handeln ist in dieser Frage weitestgehend das gleiche –, dann brauchen wir

mehr Ganztagsgruppen. Auch stehen Ihrem Vorschlag fachlich nachvollziehbare Bedenken entgegen.Das hat der Kollege Witte eben sehr zaghaft noch einmal deutlich gemacht. Das kann man verstehen. Wenn man Koalitionsfraktion ist, mag man nicht so deutlich werden, aber richtig ist das schon.Diesen Vorschlägen und Ihren Überlegungen stehen fachlich nachvollziehbare Bedenken entgegen. Die anregende Assistenz, die Betreuung und Pflege auch im Hinblick auf die personelle Ausstattung der Einrichtungen wird sich nur begrenzt darstellen lassen.

In der Frage der Durchlässigkeit – das war auch ein Punkt Ihres Antrags – von Tagesförderstätten zu Behindertenwerkstätten ist aus fachlicher Sicht ebenfalls bekannt, daß es immer wieder nur wenige Ausnahmefälle sind, die im Rahmen einer rehabilitativen Entwicklung diesen Weg nehmen können. Meine Damen, meine Herren, Schwerstbehinderte haben nicht die Belastungsfähigkeit. Sie haben nicht die Leistungsfähigkeit, den Weg in ein Berufsförderungswerk zu gehen. Das funktioniert nicht. Nur in wenigen Ausnahmefällen ist das möglich.Wir freuen uns, wenn das so ist. Aber es paßt nicht zu fragen, welche Durchlässigkeit es geben wird.

Es wurde hier ebenfalls noch einmal deutlich, daß es eine behördenbekannte Warteliste – Frau Senatorin, Sie wissen davon – mit circa 40 Schwerbehinderten gibt – Herr Kollege Witte hatte sogar von nahezu 50 Schwerbehinderten gesprochen –, die schnellstens einen Betreuungsplatz auf niederschwelligem Niveau mit anregender Assistenz brauchen. Die Bereitschaft und das konkrete Angebot von Trägern, diese Plätze einzurichten, liegt vor.

Die Not, die Belastung der Eltern, das Anliegen der Betroffenen selbst macht unmittelbares Handeln notwendig. Angesichts dieser Tatsachen und der Tatsache, daß viele auch hier nochmals angesprochene Fakten bekannt sind, über die jetzt der Senat mit einer Acht-Monats-Frist berichten soll, ist der SPD/GAL-Antrag nichts anderes als eine Nebelkerze, die den Eindruck des kompetenten Handelns vermitteln soll, ohne daß drängende, vordringliche Problemstellungen einer Problemlösung zugeführt werden.

(Dr. Hans-Peter de Lorent GAL: Wer hier wohl den Nebel wirft!)

Fordern Sie mit Ihren Anträgen den Senat und die Senatorin auf, nicht zu gackern, sondern Eier zu legen. Senatsberichte alleine helfen nicht, Betroffene brauchen schnelle, wirkungsvolle Hilfe und Maßnahmen des problemlösenden Handelns. Darum sind Sie, Frau Senatorin, gefordert, und daran werden wir Sie sowie Ihre Freunde der Koalitionsfraktion immer wieder und aufs neue messen. – Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU – Dr. Hans-Peter de Lorent GAL: Echt stark!)

Das Wort bekommt der Abgeordnete Jobs.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Zu den Tagesförderstätten – Frau Freudenberg hat ihre Aufgabe, ihre Funktion ausführlich beschrieben – brauche ich nichts mehr hinzuzufügen. Deutlich geworden ist aber auch, daß hier nicht Aufgabe und Sinnhaftigkeit dieser Einrichtung Thema ist, sondern es hier und heute heißt:Reicht das Angebot in dieser Stadt aus, oder reicht es nicht aus? Herr Witte, wir waren zu viert bei dem Treffen mit den Interessierten und vor

(Willi Witte SPD)

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