Protokoll der Sitzung vom 22.06.2000

Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich lasse über den Antrag abstimmen. Wer möchte demselben seine Zustimmung geben? – Gegenstimmen? – Stimmenthaltungen? – Der Antrag ist mehrheitlich abgelehnt.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 59 auf: Drucksache 16/4342: Gemeinsamer Antrag der SPD und der GAL zur Kindertagesbetreuung.

[Antrag der Fraktionen der SPD und der GAL: Kindertagesbetreuung – Drucksache 16/4342 –]

Wer wünscht das Wort? – Die Abgeordnete Steffen hat es.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Außergewöhnliche Situationen, wie wir sie in diesem Bereich der Kindertagesbetreuung haben, erfordern unkonventionelle Maßnahmen und kreative Ideen. Mit dem Antrag, den SPD und GAL heute zum Bereich Kindertagesbetreuung und Einsetzung von Fachkräften des Landesbetriebs Erziehung und Berufsbildung in den bezirklichen Bereichen der Kindertagesbetreuungsabteilung stellen, gehen wir diesen Weg.

Worum geht es? Wir sind dabei, ein sehr schwieriges und kompliziertes Reformprojekt zur Kinderbetreuung in die Wege zu leiten und von der Angebotsorientierung auf die Nachfrageorientierung umzustellen. Wir haben bereits für ein gerechteres Preis-Leistungs-Verhältnis im Bereich der Kindertagesbetreuung gesorgt und werden das Betreuungsschecksystem einführen. Wir wollen, daß die von uns in die Wege geleitete Reform zügig und möglichst problemlos umgesetzt wird. Wenn wir feststellen, daß es Schwierigkeiten gibt – beispielsweise bei der Berechnung oder der Frage des Personalschlüssels in den Bezirken –, sind wir bereit, diese anzugehen. Insbesondere gibt es die Chance einer Verknüpfung. Wir haben in den Haushaltsdebatten mehrmals die Frage von Nachtragshaushalten zum Landesbetrieb Erziehung und Berufsbildung diskutiert. Jetzt haben wir die Chance, das Vernünftige, das sich anbietet, mit dem Vernünftigen, das notwendig ist, zu verknüpfen. Darum haben wir uns entschlossen, diesen Antrag zu stellen. Wir sind guten Mutes, daß er so umgesetzt wird. Es gibt bereits Meldungen, daß sich Beschäftigte des Landesbetriebs dieser Idee nicht verschließen und sich für die Arbeit, die in den Bezirken zur Einführung des Betreuungsschecksystems notwendig werden wird, gerne zur Verfügung stellen werden. Dieses alles läuft – das möchte ich noch einmal betonen – auf freiwilliger Basis.

Die Reform insgesamt ist wie ein Rohdiamant. Wir werden dafür Sorge tragen, daß wir den gesamten Einsetzungsund Umsetzungsprozeß so begleiten werden, wie man es von einem Feinschliff, der auch bei Rohdiamanten notwendig ist, erwarten kann.Wir werden uns genau ansehen, inwieweit vielleicht noch Verbesserungen und Nachsteuerungen möglich sein werden, damit dieser Umsetzungsprozeß möglichst reibungslos läuft. Wir wollen nicht, daß möglicherweise Kinder und Eltern in Schwierigkeiten geraten, weil im Behördenapparat vielleicht Umsetzungsdefizite bestehen.

(Hans-Detlef Roock CDU)

Solange ich diesem Parlament angehöre, ist es das erste Mal, daß eine solche Maßnahme getroffen wird, Kräfte auszuleihen, die dann bei anderen städtischen Abteilungen und Einrichtungen eingesetzt werden. Ungewöhnliche Situationen verlangen unkonventionelle Maßnahmen. SPD und GAL haben den Mut, dieses anzugehen. Wir handeln.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Das Wort bekommt der Abgeordnete Böwer.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Vorrednerin hat das so schön gesagt, dem muß man nicht viel hinzufügen.

(Michael Waldhelm CDU: Dann setz dich doch wie- der hin!)

Das schaffe ich nicht, haste recht.

Nur wer auf Ballhöhe ist, Frau Sudmann, kann auch Flanken schlagen. Sie haben uns in einer Pressekonferenz vorgeworfen, wir würden Tingeltouren mit einem sogenannten Traumpaar „Deuter-Böwer“ machen, nur um zu werben. Nein, das machen wir nicht, sondern wir hören genau zu. Wir haben im Rahmen von Gesprächen sowohl mit Einrichtungen als auch mit Eltern festgestellt, daß es in den Kindertagesbetreuungsbereichen in den Bezirken ein Problem gibt. Dem muß man eine Lösung zuführen. Man muß im Bereich der Jugendhilfe genauso auf Ballhöhe sein, wenn es um die Diskussion Hilfen zur Erziehung geht, als wenn es um die Situation des LEB geht. Da sind wir sehr unkonventionell und unbürokratisch vorgegangen. Zum Mut gehört auch die notwendige parlamentarische Demut; es ist ein Ersuchen an den Senat, in dem wir bitten, es entsprechend zeitnah umzusetzen. Bisher haben wir in vielen Bereichen versucht, ein Problem apart von dem anderen zu lösen.Hier haben wir aber zwei Probleme und führen diese zu einer gemeinschaftlichen Lösung.Bisher haben dadurch alle gewonnen.Wir erwarten eine zeitnahe Umsetzung dieses Bereiches, damit Eltern nicht monatelang auf ihre Bewilligungsbescheide zu warten haben und in den KTBSachbereichen qualifiziert beraten werden können.

(Präsidentin Dr. Dorothee Stapelfeldt übernimmt den Vorsitz.)

Wenn wir über ein Reformvorhaben reden, das in Richtung 2002 projektiert ist, gehört weiterhin dazu, daß wir die Probleme auch lösen, wenn sie heute auf dem Tisch liegen. Das ist der Gegenstand des Antrags von GAL und SPD. – Danke.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Das Wort hat Frau Pawlowski.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich fand es gut, Herr Böwer, daß Sie noch die Kurve bekommen haben, weil es natürlich auch etwas mit Problemen zu tun hat; insofern bin ich auch ganz friedlich.

Wir dürfen aber nicht vergessen, daß vor einem halben Jahr die 7,5 Stellen eingerichtet wurden, die nicht ausreichend sind, weil ab August ein deutlich höherer Aufwand auf die Verwaltung zukommen wird.Nun wurde festgestellt, daß etwas fehlt, und man hat die Idee, dem entgegenzuwirken.

Wie aus der Drucksache 16/4050 bekannt ist, gibt es einen Personalüberhang im Bereich der hauswirtschaftlichen Fachkräfte; so steht es darin. Benötigt werden aber Fachkräfte, die auf der Grundlage der Einkommensnachweise die Beitragsberechnungen durchführen können. Hier gibt es eine Diskrepanz. Wir stimmen diesem Antrag zu und warten ab, was daraus wird.Bedauerlicherweise haben Sie kein Zeitlimit genannt, in dem die Senatorin gebeten wird, die Angelegenheit so schnell wie möglich in Angriff zu nehmen, denn es ist bald August. – Danke.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort hat Frau Sudmann.

Lieber Herr Böwer! Es mag sein, daß Sie genau zuhören, es scheint nur sehr lange zu dauern, bis Sie es umsetzen, denn im November 1999 habe ich an diesem Platz schon darauf hingewiesen, daß damals schon die KTB-Sachgebiete ohne die neue Beitragsregelung völlig überlastet waren und daß es Wartezeiten von drei bis vier Monaten gab. Wenn es jetzt einen Antrag gibt, bin ich sehr froh, und wir werden ihm auch zustimmen. Trotzdem bleiben Fragen offen.

Frau Pawlowski lag eben mit dem Zeitablauf etwas falsch. Die 7,5 Stellen, die in den Haushaltsberatungen vom Dezember 1999 bewilligt wurden, sollten ab 1. Juli 2000 eingerichtet werden, das heißt, sie kommen erst noch.

Wenn jetzt schon klar ist, daß diese Stellen nicht reichen, frage ich mich, warum das dem Senat damals nicht klar war, daß man mehr als 7,5 Stellen braucht. Warum gibt es jetzt, kurz vor der Einrichtung der 7,5 Stellen, einen Nachtrag? Es scheint so, daß man damals bereits hätte feststellen müssen, daß wesentlich mehr Stellen gebraucht werden.Wir sind aber froh, wenn sich überhaupt etwas tut, und deswegen stimmen wir diesem Antrag zu und hoffen, daß Sie nicht immer so lange brauchen, um Dinge umzusetzen, die Sie von uns gehört haben.

(Beifall bei REGENBOGEN – für eine neue Linke und bei Mahmut Erdem GAL)

Weitere Wortmeldungen sehe ich nicht. Dann kommen wir zur Abstimmung. Wer den Antrag annehmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Gegenprobe. – Enthaltungen? – Dann ist der Antrag einstimmig angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 56 auf, Drucksache 16/4327, Antrag der Gruppe REGENBOGEN über zumutbare Arbeit für Sozialhilfeempfängerinnen.

[Antrag der Gruppe REGENBOGEN – für eine neue Linke: Zumutbare Arbeit für Sozialhilfeempfängerinnen – Drucksache 16/4327 –]

Wer wünscht das Wort? – Frau Uhl hat das Wort.

„Einstellungsbescheid. Sehr geehrte Frau K. Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz ab Mai 2000 wird nicht gewährt. Begründung: Im persönlichen Beratungsgespräch vom 30. März 2000 wurden Sie ausdrücklich auf die Verpflichtung zur Arbeitsaufnahme hingewiesen. Sie selbst erklärten sich für unein

(Sabine Steffen GAL)

geschränkt arbeitsfähig. Bis zum 30. April 2000 haben Sie genügend Zeit, Arbeit aufzunehmen. Beispielhaft seien hier Zeitarbeitsfirmen genannt, die dringend Arbeitskräfte suchen.“

(Farid Müller GAL: Zeitarbeitsfirmen sind nicht schlecht!)

„Dieses belegt auch ein Blick in die ,Bild‘-Zeitung oder die kostenlos an jeden Haushalt verteilten Wochenblätter der Stadtteile. Sie können sich durch Arbeitsaufnahme selbst helfen und haben daher keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Mit freundlichen Grüßen – Ihr Sozialamt Altona.“

Hamburg im Mai 2000. Offene Stellen: 11 500, Erwerbslose: circa 75 000. –

„Mit Rotstift streiche ich die Stellenangebote an. Für meine Tour durch die Hotels und Supermärkte wähle ich einigermaßen gediegene Kleidung: gebügelte Bermudashorts und ein T-Shirt mit rundem Ausschnitt. Doch auch nach drei Tagen Herumgerenne hat mich zu meinem Leidwesen noch nicht eine Firma zum Bewerbungsgespräch eingeladen. Erst spät geht mir auf, daß die Annoncen alles andere sind als ein zuverlässiger Maßstab für die Zahl der offenen Stellen. Die meisten schalten ihre Anzeigen nur, um sich einen Vorrat an Bewerbungen zuzulegen.

Ich lande meinen Treffer bei einer der großen Billighotelketten. Meine Schicht dauert jeden Abend bis 22 Uhr oder 22.30 Uhr, je nachdem, wieviel Nebenarbeiten wir schon geschafft haben. Ich bin so erschöpft, daß mein Schädel im Rhythmus der Musik vibriert. Mir dämmert, daß ich mit meinem Job finanziell nicht über die Runden komme.

Aus dem sicheren Abstand gutbürgerlicher Verhältnisse betrachtet, stellt man sich vielleicht vor, daß Leute mit einem Stundenlohn zwischen sechs und zehn Dollar über die Jahre irgendwelche raffinierten Überlebensstrategien entwickeln; mitnichten. Geheime ökonomische Gesetze, die den Armen das Überleben ermöglichen, gibt es nicht, im Gegenteil. Wenn ich nicht in mein Auto einziehen will, bleibt mir nur, einen zweiten oder besser bezahlten Job zu finden.

Erneut rufe ich alle Hotels an, dazu etwa ein halbes Dutzend örtlicher Pensionen: nichts. Am Ende bin ich wieder Kellnerin. Zwei Tage habe ich zwei Jobs gleichzeitig geschafft, die Frühstücksschicht bei ,Jerry‘, die bis 14 Uhr dauert, anschließend ab 14 Uhr im ,Hearthside‘, wo ich bis 22 Uhr durchzuhalten versuche.Für mich wird das Ganze zu einem Crashkurs im Erschöpfungsmanagement. Jede Schicht bestreite ich wie eine Notstandsübung. Wie Leute von diesen Niedriglohnjobs ihren Unterhalt finanzieren, entzieht sich auch nach dem Experiment meiner Vorstellung. Viele schaffen es vielleicht irgendwie, ihr Leben zu gestalten, zu dem Kinder erziehen, Essen kochen und Wäsche waschen gehört, vielleicht auch einmal etwas Schönes, das sie in ein paar Stunden zwischen ihre Jobs zwängen. Ich wäre jedenfalls überfordert. Dabei hätte ich noch günstige Bedingungen, für viele Arme utopisch: eine robuste Gesundheit, Willenskraft, ein intaktes Auto, keine Kinder. Doch ich bin mir völlig sicher, ich könnte unmöglich zwei Jobs ausüben, und mit dem Geld eines einzigen käme ich nicht aus.“

Das sind die Schilderungen von Barbara Ehrenreich, nachzulesen in der „Zeit“, nach ihren Feldforschungen inmitten

des sogenannten amerikanischen Jobwunders. Im Jahr 2000 im rotgrünen Hamburg: Inzwischen betreffen die Streichungsbescheide in der Sozialbehörde nicht mehr nur die aufstockende Sozialhilfe, was schon schlimm genug ist, sondern generell die Hilfen zum Lebensunterhalt.

Die sogenannten Hilfen zur Arbeit bestehen aus einem allgemeinen Verweis auf irgendwo existierende Billigjobs, geringfügige Beschäftigungsmöglichkeiten, „Bild“-ZeitungsAnnoncen und Zeitarbeitsfirmen; mit den wenigsten davon existieren Tarifverträge.

Einer der wichtigsten Maßstäbe des Wohlfahrts- und Sozialstaats gerät immer weiter in die Mühlen seiner selbsternannten Umbauer, die sozialen Rechte. Nicht nur, daß die Altonaer Praxis nichts mehr mit bedarfsgerechter Gewährung von Sozialhilfe oder der Gewährleistung einer menschenwürdigen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu tun hat, wie es das Bundessozialhilfegesetz noch vorsieht; sie hat auch nichts damit zu tun, daß Menschen bei der Suche nach vernünftigen existenzsichernden Arbeitsplätzen und einer Berufsperspektive geholfen wird.

Wodurch bestimmen sich soziale Rechte? Sie beinhalten auch ein individuelles Freiheitsversprechen, das ganz konkret erfahrbar werden muß. Ein Maß für die Bestimmung von Wohlfahrtsstaatlichkeit ist die Unabhängigkeit der Existenz des einzelnen vom Marktmechanismus, vom Marktpreis, der für ihre Arbeitskraft erzielbar ist. Wenn sozialstaatliche Leistungen gering und mit sozialem Stigma behaftet sind, wird dieses Hilfesystem alle – außer vielleicht die Verzweifeltsten – zur Marktteilnahme zwingen. Das genau war der Zweck der Armengesetze des neunzehnten Jahrhunderts. Auf dem Wege dorthin zurück sind Hamburg und die Bundesrepublik.

Hamburg geht fast noch einen Schritt weiter und übt den Druck, jede Arbeit annehmen zu müssen, direkt aus. Für die Kämpfe der Arbeiterbewegung war die Frage der Marktunabhängigkeit von vorrangiger Bedeutung, weil sie die Menschen – sowohl die, die Arbeit haben, aber auch die, die keine haben – stärkt und die absolute Autorität des Arbeitgebers schwächt.