Protokoll der Sitzung vom 24.01.2002

Wir alle wissen, dass im politischen Leben bei etwas brisanten Themen nur allzu gerne Missverständnisse aufgebaut werden. Es ist manchmal ein bewährtes Kampfmittel, aber es gibt auch echte Missverständnisse. Gelegentlich werden sie auch provoziert. Deswegen sage ich noch einmal in aller Deutlichkeit: Die SPD-Fraktion propagiert nicht die anonyme Geburt. Sie betrachtet sie, ebenso wie die Babyklappe, als eine Chance, Leben zu retten. Diese Chance für einen sehr kleinen, sehr hilflosen Menschen ist uns wichtig, auch wenn es sich Gott sei Dank nur um eine kleine Gruppe handelt. – Danke schön.

(Beifall bei der SPD, der GAL und der FDP)

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Schira.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Das Thema „Anonyme Geburt“ beschäftigt die Öffentlichkeit und uns seit geraumer Zeit. Angefangen hat das vor eineinhalb Jahren, als der Jugendhilfeverein SterniPark die erste Babyklappe in Hamburg eröffnete. Danach hat es in Deutschland einen regelrechten Boom, eine Renaissance dieser Einrichtung aus dem Mittelalter gegeben. Auch in der Politik gab es damals eine regelrechte Babyklappenbegeisterung.

(Vizepräsident Peter Paul Müller übernimmt den Vorsitz.)

Die Babyklappe – das wissen wir – hat neben Vorteilen allerdings auch den Nachteil für die verzweifelten Mütter, dass sie ihre Kinder nicht im Krankenhaus, sondern alleine, ohne ärztliche Hilfe, also mit allen Risiken zur Welt bringen müssen. Daraus wurde – wiederum vom SterniPark – die Idee der anonymen Geburt im Krankenhaus kreiert. Wir lesen in der Antwort auf die Große Anfrage, dass im Krankenhaus Mariahilf sieben anonyme Entbindungen stattgefunden haben.

Der Bundestag beschäftigt sich zurzeit mit einem Antrag der CDU/CSU-Fraktion, die Verlängerung der Anzeigenpflicht auf zehn Wochen auszuweiten. Wir sehen, dass sich parteiübergreifend mit dieser Problematik auseinander gesetzt wird, und unstrittig für uns alle ist, dass der Schutz des Lebens der Mutter und des Kindes das Allerwichtigste ist. Das Engagement von Gesellschaft und Politik ist deshalb auf diesem Gebiet nur zu begrüßen. Trotzdem gibt es Fragen und Einstellungen, die etwas abseits der allgemeinen Einmütigkeit liegen und daher naturgemäß eher als störend empfunden werden können.

Die Zahl der ausgesetzten Kinder geht seit Jahren zurück. So sollen es circa 40 Kinder im Jahr sein. Selbstverständlich 40 Kinder zu viel. Während wir in Deutschland zur Legalität der anonymen Geburt kommen wollen, gibt es zum Beispiel in Frankreich eine ganz andere Entwicklung. Dort können Frauen seit 1941 ihre Kinder legal anonym zur Welt bringen. Das hat im Übrigen etwas mit der geschichtlichen Situation und der damaligen Besatzungszeit durch deutsche Soldaten in Frankreich zu tun.

In Frankreich – um bei diesem Beispiel zu bleiben – leben zur Zeit circa 400 000 Menschen, die anonym geboren wurden. Seit einiger Zeit wird dort gegen die anonyme Geburt gestritten und offenbar auch mit Erfolg. Auch in

Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht das Recht des Kindes, seine Abstammung zu kennen, zu einer Voraussetzung der freien Entfaltung der Persönlichkeit und damit zum Grundrecht erklärt. Wir sehen also, dass wir immer abwägen müssen: Die Rechte der Mutter, die Rechte des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung, die UN-Kinderkonvention und die Haager Kinderschutz- und Adoptionskonvention sprechen dort eine klare Sprache. Warum sage ich dies? Ich möchte damit deutlich machen, dass es wie immer im Leben, aber insbesondere bei dieser Problematik, eine andere Seite und auch eine andere Sichtweise gibt. Unsere Aufgabe ist es, diesen sehr schwierigen und sensiblen Bereich, nämlich den Ausgleich beider Rechte, das der Mutter und das des Kindes, anzustreben.

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Kiausch! Kommen wir zu Hamburg. Sie sagten in der „Hamburger Morgenpost“, dass es Sie bekümmere, dass der Senat die Lösung dieser Probleme nicht aktiv betreibt. Sie haben im November den Senat kritisiert, dass er nichts für den Verein SterniPark tue. Dabei, sehr geehrte Frau Kiausch, müssten Sie doch wissen, dass gerade in Sachen Finanzierung die damalige Senatorin, Frau Roth, sehr zurückhaltend war. Ich finde, Sie sollten auch nicht vereinfachen. Die Krankenhauskosten hat eine Versicherung gesichert und ich finde, für dieses Sponsoring sollten wir in allererster Linie erst einmal dankbar sein.

Unsere Familiensenatorin, Frau Schnieber-Jastram, hat völlig zu Recht gesagt, dass Hamburg kein Magnet für Frauen werden darf, die ihre Kinder anonym zur Welt bringen wollen. Wir brauchen eine einheitliche Bundesregelung. Wir müssen sicher sein, dass wir zum Wohle des Kindes handeln. Wir müssen es verhindern, dass Frauen von Männern, ihrem Umfeld oder von wem auch immer zur anonymen Geburt gedrängt werden. Ich finde, das sind klare Positionen des Senats. Deshalb, sehr geehrte Frau Kiausch, noch einmal: Wir sollten das Vereinfachen lassen und uns anstrengen, beide Rechte, die der Mutter und die des Kindes, zu sehen.

Zum Verein SterniPark möchte ich nur soviel sagen: Die Zeiten der hundertprozentigen positiven medialen Außenwirkung sind anscheinend vorbei. Es gibt Fragen, die ausreichend beantwortet werden müssen, wie etwa: Ist das Marketing für den Verein, zum Beispiel eine Art Copyright für Langzeitreportagen über den Lebensweg eines Findelkindes, wichtiger als das Recht des Kindes und seiner neuen Eltern auf Privatsphäre? Oder die Frage: Wie ist das Verhältnis zueinander, einerseits des wirtschaftlichen Interesses und andererseits der wirklichen Hilfe? Ich habe dies jetzt bewusst zurückhaltend formuliert, aber das sind für uns als Parlamentarier die Fragen und Kriterien, nach deren Auswirkungen wir entsprechend handeln müssen. Für uns als CDU wird dabei die schon oft zitierte ständige Abwägung und das Gleichgewicht zwischen den Rechten der Mutter und des Kindes die Handlungsmaxime sein. – Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU, der Partei Rechtsstaatlicher Offensive und der FDP)

Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Kasdepke.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Partei Rechtsstaatlicher Offensive tritt offen und aktiv für rechtsstaatliche Verhältnisse ein. Hilfestellungen oder Förderungen

(Elisabeth Kiausch SPD)

erfolgen im Rahmen der gesetzlichen Ordnung. Diese hat die Schaffung und Erhaltung der Familie als eines ihrer wichtigsten Ziele deklariert. Hierbei ist eine so gering wie mögliche Einmischung in die privaten Verhältnisse der Bürger zu beachten. Artikel 6 unserer Verfassung besagt auszugsweise – ich zitiere –:

„Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.“

Zitat Ende.

Für uns ist die Familie nach wie vor die Keimzelle des Staates. Förderung und Schutz der Familie haben für uns einen hohen Stellenwert, unabhängig davon, dass der Staat zu diesen Verfassungspflichten stehen muss. Nun gibt es eine Anzahl Fälle, in denen er oder Partnerschaft zerbrochen sind oder soziale Umstände eine schwangere Frau zu düsteren Gedanken und Handlungen bewegt. Selbstverständlich treten wir dafür ein, diesen Frauen zu helfen. Ein Gebot der Menschlichkeit und eine soziale Verpflichtung der staatlichen Organe als Hilfe kann auch die Zusage sein, dass eine Frau während der Schwangerschaft anonym begleitet und betreut wird, ohne von Strafe bedroht zu sein. Wollen wir den Frauen aus ihrer Not helfen – und das wollen wir –, dann muss der Staat als Garant die notwendigen technischen, organisatorischen und personellen Möglichkeiten zur Verfügung stellen. Was wir nicht wollen und auch nicht brauchen, sind weitere Einrichtungen, die zudem auch noch unterhalten werden müssen und den Staat aus seiner Handlungspflicht ausklammern. Der Staat darf sich seinen Pflichten nicht entziehen. Er darf das Vertrauen der Bürger nicht aufs Spiel setzen. Die Pflichten des Vaters oder Erzeugers sowie die Rechte des Kindes sind von Bedeutung. Die derzeitige Rechtslage lässt nach unserer Auffassung die bisher praktizierten Verfahren in Sachen Babyklappe nicht zu. Das Bürgerliche Gesetzbuch, das Adoptionsgesetz und andere Vorschriften stehen dem entgegen. Wir wollen keine bedenklichen Verhaltensmaßnahmen im Umgang mit Müttern und Kindern, keine Ausgrenzung der Jugendämter, auch nicht teilweise, keine Umgehung der gesetzlichen Pflegschaftsverfahren. Wir wollen nicht Anonymität als gesellschaftlich ebenbürtiges Ziel, keine Ablehnung von Krankenhäusern nach SterniPark-Regeln, keine 80 000 Euro für SterniPark-Werbemaßnahmen,

(Beifall bei der Partei Rechtsstaatlicher Offensive, der CDU und der FDP – Ralf Niedmers CDU: Rich- tig!)

keine dubiosen Immobilienaktivitäten auf Kosten werdender Mütter und Steuerzahler.

(Beifall bei der Partei Rechtsstaatlicher Offensive, der CDU und der FDP)

Wir wollen kein SterniPark-Wirtschaftsimperium, kein privates bundesweites Netzwerk. Wir wollen keinen Staat im Staate.

(Beifall bei der Partei Rechtsstaatlicher Offensive, der CDU und der FDP)

Um das Risiko der Kindertötung zu verringern, unterstützen wir eine anonyme Geburt, aber wir stellen folgende Forderungen:

Erstens: Aufklärung und Prävention müssen intensiviert werden. Wir wollen das Vertrauen in den Staat und seine Einrichtungen fördern.

Zweitens: Anonymität soll helfen. Hierfür müssen wir klare gesetzliche Vorschriften etablieren, Kontrollfunktionen durch die Jugendämter ausüben.

Drittens: Bestehende staatliche Einrichtungen oder konfessionelle Organisationen hiernach ausrichten und dann fördern.

Viertens: Die Kontrolle dieser Förderung definieren und durchführen.

(Dirk Kienscherf SPD: Dann machen Sie es doch!)

Einrichtungen, die nicht zwingend notwendig sind und deren Ziele und Aktivitäten wir nicht uneingeschränkt bejahen können, wollen und können wir nicht fördern, nicht politisch und nicht mit Steuergeldern, schon gar nicht zum Kauf von Immobilien. – Ich bedanke mich.

(Beifall bei der Partei Rechtsstaatlicher Offensive, der CDU und der FDP)

Das Wort wünscht und bekommt Frau Dr. Freudenberg.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Je intensiver ich mich mit der Problematik der anonymen Geburt beschäftige, desto mehr kommen auch mir Zweifel, ob wir hier wirklich immer auf dem richtigen Weg sind. In letzter Zeit gab es auch sehr kritische Stimmen von Fachleuten. Im Januar fasste das „Deutsche Ärzteblatt“ die Bedenken unter dem Titel „Fallstricke einer Legalisierung“ zusammen. Aber dennoch: Anlass zu dem Antrag, den Frau Kiausch erwähnt hat, den SPD und GAL im letzten April in die Bürgerschaft eingebracht haben und der auch im Gesundheitsausschuss diskutiert wurde – auch ein Senatsbericht liegt vor –, waren entsetzliche Fälle von Kindstötungen und Aussetzungen von Kindern. Das hat uns veranlasst zu sagen, hier müssen wir Hilfen finden. Der Erfolg der Babyklappe SterniPark, die damals aufgebaut wurde, hat – meinten wir – uns da Recht gegeben.

Die Zweifel, die ich habe, beziehen sich auf die Frage, ob wir wirklich mit dem Angebot der anonymen Geburt und der Babyklappe die Frauen erreichen, die wir erreichen wollen, nämlich die Frauen, die sonst in ihrer Panik und Extremsituation ihr Kind töten oder aussetzen können. Diese Zweifel sind berechtigt. Es gibt Untersuchungen, die meinen, dass die Frauen – es sind zum Glück nur wenige Einzelfälle –, die ihr Kind direkt nach der Geburt töten, oft in so extremen Situationen sind, so wenig ihr Handeln steuern und planen können, dass sie auch nicht in der Lage sind, ein Krankenhaus aufzusuchen, oder eben wissen, ich entbinde anonym und gebe dann mein Kind direkt zur Adoption frei oder bringe es auch in die Babyklappe, wenn ich damit nicht klarkomme.

Ich halte es nach genauerem Ansehen der vielen Argumente, die in dem Zwischenbericht des Senats und auch in der Beantwortung der Großen Anfrage stehen, für notwendig, dass wir uns hiermit noch einmal genauer auseinander setzen, welche Frauen wir erreichen oder ob es nicht Frauen gibt, die jetzt das Angebot der anonymen Entbindung und auch der Babyklappe annehmen, die vielleicht, wenn dieses Angebot nicht bestehen würde, anderen Hilfen zugänglich wären. Anders gesagt – unsere Hilfsangebote erreichen ja die Frauen nicht –, was müssen wir tun, damit die bestehenden Hilfseinrichtungen, die ja auch anonyme Hilfe anbieten – das gibt es ja schon –, von den Frauen erreicht werden?

(Ilona Kasdepke Partei Rechtsstaatlicher Offensive)

Es ist völlig klar, dass die anonyme Entbindung die Ausnahme bleiben muss. Die Fallzahlen – Frau Kiausch hat das gesagt – sind ja auch sehr gering und es bleibt auch die Ausnahme. Aber wir müssen uns sehr mit der Frage auseinander setzen, wie wir den betroffenen Kindern und Frauen helfen können, dass sie sich zu ihrer Biografie bekennen können, also dass die Kinder die Möglichkeit haben zu erfahren, wer ihre Eltern sind, wo ihre Wurzeln sind. Herr Schira hat zu Recht gesagt, dass in Frankreich, wo sehr viel mehr anonyme Entbindungen stattgefunden haben – das waren bis zu 1000 im Jahr, davon sind wir noch weit weg –, jetzt schon die Vereinigungen der Adoptivkinder versuchen, dieses Gesetz wieder zu ändern.

Die Zahlen, die aus der Beantwortung der Großen Anfrage bekannt wurden, in welchem Umfang der Verein SterniPark Frauen betreut, die anonym entbunden haben, sind sehr, sehr hoch. Ich habe da auch sehr viele Fragen und Zweifel, ob dieser Träger das wirklich immer so verantwortlich regelt, wie wir es uns vorstellen. Ich denke, darüber sind wir uns alle einig, dass wir uns das genau angucken.

Wir müssen uns überlegen, wie wir diesen Frauen helfen können, wie wir verhindern können, dass sie abtauchen, gar keine Hilfe mehr annehmen, aber auch welche Angebote wir haben, die wir selbst kontrollieren können und die richtige Hilfe anbieten.

Frau Kasdepke, was Sie hier sagen, ist wirklich reichlich überzogen. SterniPark ist kein Staat im Staate. Das will auch keiner. Man kann hier nicht in dieser Art an Fälle rangehen, die wirklich in jedem Fall Einzelschicksale sind und uns zeigen, dass wir mit diesen Einzelschicksalen viel sensibler umgehen müssen und nicht einfach mit der staatlichen Keule draufhauen können. Ich glaube, wir sollten gemeinsam überlegen, wie wir diesen Frauen mehr gerecht werden, aber vor allem auch dem Interesse der Kinder, dass diese die Möglichkeit haben, zu wissen, wo sie herkommen, und, wenn sie adoptiert sind, nach Möglichkeit auch mit ihren leiblichen Eltern irgendwann Kontakt aufnehmen können. Wir wissen inzwischen alle, dass das für die Entwicklung sehr wichtig und sehr gut ist. – Danke schön.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Das Wort hat Herr Dr. Schinnenburg.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich bin der Meinung, dass sich dieses Thema nicht zur parteipolitischen Profilierung eignet. Wir sollten darauf achten, hier sehr behutsam vorzugehen und zu argumentieren.

(Beifall bei Wolf-Dieter Scheurell SPD)

Meine Damen und Herren! Wenn wir über dieses Thema diskutieren – mir geht es so –, zieht sich mir zunächst einmal das Herz zusammen. Wenn ich mir vorstelle, da ist ein Kind, das, wenn es erwachsen ist, selber denken kann und erfährt, seine Mutter wollte es nicht nur loswerden, sondern die Mutter wollte nicht einmal, dass das Kind weiß, wer die Mutter ist; es kommt noch hinzu, dass sein Vater noch schlimmer ist, denn warum kommt die Mutter auf die Idee, ihr Kind wegzugeben, weil der Vater schon viel eher verschwunden ist oder die Mutter vielleicht nicht einmal weiß, wer er überhaupt ist, dann zieht sich bei dieser Fallgestaltung einem wirklich das Herz zusammen.

Aber hier wurde schon darauf hingewiesen, dass es noch eine andere Lösung dieses Problems gibt, die noch schlimmer ist. Frau Kiausch wies schon auf die Müllkippe hin. Ich sage es einmal ganz drastisch. Wenn ich die Wahl habe zwischen anonymer Geburt und Müllkippe, ist für mich die Antwort ganz klar: Anonyme Geburt.