Aber ist es vor dem Hintergrund, dass sich Ende 2014 außer dem bayrischen alle Landessozialminister, auch der damalige Sozialsenator der SPD, noch gegen die Gründung der Stiftung ausgesprochen haben, nicht etwas vermessen, sich dafür jetzt mit so einer Gefälligkeitsfrage feiern zu wollen? Und wäre es vor dem Hintergrund, dass Opfer aus Behinderteneinrichtungen und Psychiatrien, wie Sie selbst sagten, erst mehrere Jahre später als andere Opfer etwa aus Erziehungsheimen entschädigt werden und es vor allem dem persönlichen Einsatz der Bundeskanzlerin zu verdanken ist, dass dies jetzt doch noch geschieht, nicht angemessener gewesen, Gutes zu tun und ausnahmsweise einmal zu schweigen?
Grundsätzlich muss man zu Ihrer Frage sagen, dass es ein einvernehmlicher Beschluss dieses Hauses war, dass Hamburg sich für die Einsetzung dieser Stiftung engagieren soll.
Das ist auf Bundesebene auch passiert. Es gibt entsprechende einstimmige Beschlusslagen der Arbeits- und Sozialministerkonferenz, der Gesundheitsministerkonferenz und der Jugend- und Familienministerkonferenz in dieser Sache. Gleichwohl ist es unbestritten so, dass es zahlreiche Bundesländer gab, die sich angesichts der Erfahrungen mit dem Heimkinderfonds, der vor allen Dingen für die Betroffenen die Konsequenz von aufwendigen, sehr zermürbenden Antragsverfahren mit am Ende teilweise nur geringen finanziellen Leistungen hatte, überlegt haben, wie man das mit dieser speziellen Zielgruppe besonders gestalten kann. Und es ist so, dass Bund und Länder gemeinschaftlich diese Stiftung im Dezember 2016 errichtet haben, Hamburg nicht allein dabei war, aber wir schon für uns mit in Anspruch nehmen, dass es am Ende zu diesem pauschalierten Antragsverfahren gekommen ist, was im Bund sehr umstritten war.
Es geht an dieser Stelle überhaupt nicht darum, sich für irgendetwas feiern zu lassen. Wenn man sich die Berichte der Betroffenen am 20. März 2017 angehört hat und sich die Mühe macht, in die Aufarbeitung der Evangelischen Stiftung Alsterdorf aus ihren Zeiten als Alsterdorfer Anstalten zu diesem Thema einmal hineinzuschauen, dann kann es gar nicht genug Anlässe geben, wo Politik auf diese Stiftungen und ihre Notwendigkeit Bezug nimmt, weil es in der Tat ein kaum aussprechliches strukturell organisiertes Leid und Unrecht in Einrichtungen der Behindertenhilfe und der klinischen Psychiatrie gegeben hat, und zwar bis weit in die Nachkriegszeit hinein.
9 000 Euro Pauschalleistung pro Betroffenen, gegebenenfalls zusätzlich noch 5 000 Euro Einmalzahlung für entgangene Sozialversicherungsleistung, insbesondere Rentenkasse, sind auch kein Grund zu feiern. Das ist eine Anerkennung für erlittenes Leid in staatlichen, privaten und kirchlichen Einrichtungen. Und es ist wichtig, dass wir alle in der Stadt an jeder Stelle erwähnen, dass es diese Stiftung gibt, dass wir den Betroffenen den Weg weisen, sie im Antragsverfahren unterstützen und sie ermutigen, diese Pauschalleistung, die selbstbestimmt verwendet werden kann und bei der anders als beim Heimkinderfonds nicht dezidiert nachgewiesen werden muss, wie sie zur Linderung des Leids beiträgt, auch einzufordern.
Mich würde noch einmal genauer interessieren, wer Ansprüche geltend machen kann und mit wie viel Anspruchsberechtigten in Hamburg gerechnet wird.
Ansprüche geltend machen können all jene Menschen, die in den Jahren 1949 bis 1975 auf dem Gebiet der Bundesrepublik als Kinder oder Jugendliche in Einrichtungen der Behindertenhilfe stationär untergebracht waren und denen Leid und/oder Unrecht widerfahren ist oder die Arbeitsleistungen erbracht haben, für die gar kein oder kein angemessener Lohn entrichtet wurde in dieser Zeit, während sie minderjährig waren. Für all diejenigen, die in diesem Zeitraum in Einrichtungen der klinischen Psychiatrie untergebracht waren, gilt an dieser Stelle dasselbe Kriterium. Darüber hinaus gilt dies für alle Menschen, die auf dem Gebiet der DDR von 1949 bis 1990 in Einrichtungen der Behindertenhilfe stationär untergebracht waren und dort Leid und Unrecht erfahren haben oder Arbeitsleis
tungen entrichtet haben, die nicht beziehungsweise nicht angemessen entlohnt wurden oder für die keine Beiträge an die Rentenkasse abgeführt worden sind. Das ist der Personenkreis. Es ist noch nicht abschließend abschätzbar, wie viele Betroffene es in Hamburg geben wird. Man hat sich bei der Einrichtung der Anlauf- und Beratungsstellen für das sogenannte Wohnortprinzip entschieden, das heißt, die Menschen, die heute in Hamburg wohnen, machen ihre Ansprüche bei unserer Beratungsstelle geltend. Sie können im Anspruchszeitraum auch in einer Einrichtung jenseits von Hamburg untergebracht gewesen sein.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales geht davon aus – und das ist die einzige Schätzung, die wir haben –, dass es bundesweit 250 000 Betroffene gegeben haben dürfte, von denen jetzt noch ungefähr 96 000 Anträge stellen könnten. In Hamburg gehen wir von einer Zahl zwischen 12 000 und 16 000 Anträgen aus, man kann es aber nicht sicher sagen. Wichtig ist, dass wir hier mit den Alsterdorfer Anstalten, also heute Evangelische Stiftung Alsterdorf, eine große Einrichtung der Behindertenhilfe haben und hatten, aber wichtig ist eben auch zu wissen, dass das Wohnortprinzip gilt, und damit können auch Menschen, die in Einrichtungen außerhalb Hamburgs untergebracht waren, aber heute in Hamburg wohnen, hier ihre Anträge stellen.
Für eine weitere Nachfrage hat Frau Boeddinghaus von der Fraktion DIE LINKE für eine Minute das Mikrofon.
Vor dem Hintergrund, dass bestimmte Praktiken der Freiheitsentziehung wie Fesseln und Fixieren oder weitere demütigende Maßnahmen schwarzer Pädagogik bei Kindern und Jugendlichen in der Jugendpsychiatrie, aber auch in der Jugendhilfe immer noch üblich sind, stelle ich die Frage, was aus Sicht des Senats dann die Beschränkung bloß auf die Zeit bis 1975 und nicht darüber hinaus rechtfertigt.
Die Beschränkung auf 1975 orientiert sich an den Empfehlungen des sogenannten Runden Tisches Heimerziehung. Das ist der gleiche Bezugszeitraum, der auch für den Fonds Heimerziehung gegolten hat. Man hat das Jahr 1975 für die Bundesrepublik ausgewählt, weil später das Opferentschädigungsgesetz in Kraft getreten ist, auf das sich Menschen, die später Leid, Unrecht, Übergriffe et cetera erfahren haben, berufen können, und weil 1975 die Ergebnisse der Psychiatrie-Enquete vorgelegt worden sind, die dann zu einer wesentlichen Veränderung der Arbeit in psychiatrischen Einrichtungen geführt haben. Das ist also ein Anspruchszeitraum, den nicht
Hamburg gewählt hat, sondern der bundesweit für die Stiftung Anerkennung und Hilfe gilt. Er bezieht sich auf diese beiden Rahmenbedingungen und die sind am Runden Tisch Heimerziehung erarbeitet worden.
Sehr geehrte Frau Senatorin! Den Schätzungen zufolge wird damit gerechnet – Sie hatten es gerade gesagt –, dass von den 96 000 Betroffenen, so steht es zumindest in den Zahlen der Stiftung, circa 24 000 Personen diese Leistungen nachfragen. Es gibt eine Frist, bis zu der man sich bei der Stiftung um Mittel bewerben kann. Sie läuft am 31. Dezember 2019 aus und die Stiftung soll ihre Arbeit bis zum 31. Dezember 2021 eingestellt haben. Vor dem Hintergrund, dass es hier um eine Ausgleichsleistung geht, wie wird damit umgegangen, wenn viele der Leute, von denen erwartet wird, dass sie ihre Ansprüche innerhalb dieser Frist nicht geltend machen, nach der Frist sagen, sie seien auch betroffen und wie könne ihnen geholfen werden? Oder was passiert nach dem Jahr 2021, wenn die Stiftung nicht mehr existiert? Ist dann für die staatlichen Stellen diese Schuld oder dieses Unrecht, das die Betroffenen erlitten haben, quasi abgegolten? Und wenn nein, wie soll damit umgegangen werden?
Das ist eine Frage, die im Vorfeld lange diskutiert wurde. Man hat sich bundesweit dafür entschieden, die Rahmenbedingungen des Heimkinderfonds auch hier zugrunde zu legen. Grundsätzlich wirkt entlastend, dass bis zum 31. Dezember 2019 nur der Antrag eingegangen sein muss. Also das weitere Verfahren kann sich dann noch hinziehen, die Antragsbegründungen und die Gespräche können danach stattfinden. Gleichwohl kann es natürlich, wie von Ihnen beschrieben, dazu kommen, dass jemand sehr viel später dies noch für sich in Anspruch nimmt. Diese Menschen können dann zwar nicht mehr von der Stiftung Entschädigungsleistungen erhalten, aber dann kommen eventuell andere Entschädigungsrechte wie aus dem Opferentschädigungsgesetz oder andere soziale Leistungen in Betracht. Es ist dann unsere Aufgabe im Versorgungsamt – das besteht ja weiterhin –, diese Menschen an die entsprechenden für sie relevanten Systeme zu verweisen.
Aus meiner Sicht kann man politisch nicht davon sprechen, dass dann die Schuld abgegolten ist. Das ist auf keinen Fall so, dafür wiegt das, was unter staatlicher Aufsicht zum Teil strukturiert organisiert passiert ist, auch zu schwer. Es endet dann einfach der Antragszeitraum für die Stiftung Anerkennung und Hilfe aus meiner Sicht. Die Stiftung
Anerkennung und Hilfe hat nicht umsonst ein gewisses Finanzvolumen aufgebracht für die strukturelle Aufarbeitung dessen, was in diesen Einrichtungen passiert ist. Das ist in unserem Land noch nicht ausreichend geschehen. Alsterdorf hat eine wegweisende Forschungsarbeit dazu vorgelegt, viele andere noch nicht, und man wird sich überlegen müssen, wie man weiterhin damit umgeht. Der Staat kann nicht erklären, moralisch zumindest, dass damit die Schuld abgegolten ist. Es läuft lediglich der Antragszeitraum bei dieser Stiftung aus.
Frau Senatorin, wurde bei der Einrichtung des Hilfsfonds seinerzeit die Chance genutzt, auch die Pharmafirmen daran zu beteiligen, die durch unethische Medikamententests am Missbrauch der Kinder und Jugendlichen mitgewirkt haben? Und wenn nein, wie bewerten Sie das?
Pharmafirmen oder dritte Private sind an dem Stiftungsfonds nicht beteiligt. Es sind die Länder, der Bund und die Kirchen, die als maßgebliche Betreiber dieser Einrichtungen dort eingezahlt haben. Die Stiftung umfasst ein Kapital von 288 Millionen Euro. Man kann über die Stiftung Anerkennung und Hilfe durchaus auch das Thema Medikamentengabe, strukturiert in Form von missbräuchlich, als erfahrenes Leid geltend machen. Dies ist jetzt nicht in erster Linie in Hamburg öffentlich diskutiert worden, aber vor allen Dingen in Schleswig-Holstein, was medial auch bekannt ist. Aber das sind keine Geldgeber, die strukturell an der Summe des Stiftungskapitals beteiligt worden sind.
Weitere Nachfragen seitens der nicht mehr anwesenden fraktionslosen Abgeordneten kann es nicht geben. Dann endet unsere heutige Senatsbefragung und wir setzen nun fort mit der Schlussabstimmung.
Dazu rufe ich auf den Tagesordnungspunkt 5, Drucksache 21/8155 bis 21/8157, Berichte des Eingabenausschusses.
Wer möchte sich hier den Empfehlungen anschließen, die der Eingabenausschuss zu den Eingaben 713/15 und 5/17 abgegeben hat? – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Das ist angenommen.
Wer möchte sich darüber hinaus den Empfehlungen zu den übrigen Eingaben anschließen? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Das ist ebenfalls angenommen.
Wer möchte hier den Empfehlungen folgen, die der Eingabenausschuss zu den Eingaben 562/16 und 636/16 abgegeben hat? – Gegenprobe. – Enthaltungen? – Das ist bei wenigen Enthaltungen angenommen.
Wer schließt sich darüber hinaus den Empfehlungen zu den übrigen Eingaben an? – Gegenprobe. – Enthaltungen? – Das ist einstimmig angenommen.
Wer möchte sich diesen anschließen? – Gegenprobe. – Enthaltungen? – Das ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Ich stelle nun zunächst fest, dass die Bürgerschaft die unter A aufgeführten Drucksachen zur Kenntnis genommen hat.
Wer stimmt den Überweisungsbegehren unter B zu? – Gegenprobe. – Enthaltungen? – Das ist ebenfalls einstimmig angenommen.