Herr Präsident! Frau Ministerin Trauernicht, vor dem Hintergrund Ihrer Äußerungen, dass Sie angeblich schon immer die Position vertreten haben, in begründeten Ausnahmefällen solle für so genannte Crashkids durchaus die zeitlich befristete Inobhutnahme - sprich: das Interventionsprogramm - greifen, frage ich Sie, warum Sie dann immer noch nicht den gemeinsam von SPD und CDU gefassten Landtagsbeschluss umgesetzt haben, nach dem nämlich genau dieses Programm für die 30 Crashkids, die wir in Niedersachsen haben und die als zeitlich befristete Maßnahmen
Entschuldigen Sie, Frau Vockert, da geht ziemlich viel durcheinander. Ich versuche, das einmal zu sortieren. Zunächst einmal stammt der Begriff „Crashkids“ aus den Medien und ist nicht fachlich unterlegt.
Er kann deswegen durch die Jugendhilfe auch überhaupt nicht operationalisiert werden, sondern ist eher eine Stigmatisierung von Kindern und jungen Menschen, die Probleme haben.
Es gibt in Niedersachsen eine Reihe von Kindern es ist auch unsere Einschätzung, dass es zwei Dutzend Kinder sind -, die in besonderer Weise auffällig sind. Für diese Kinder braucht es eine intensive pädagogische Betreuung. Daran gibt es keinen Zweifel.
Aber es gibt keinen Automatismus, dass es sich hierbei um eine freiheitsentziehende Maßnahme handeln muss. Sie kennen die Gesetze. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz sieht lediglich bei Gefahr für Leib und Leben des Kindes oder eines Dritten vor, im Rahmen von Inobhutnahmen eine Freiheitsentziehung vorzunehmen. § 1631 b BGB macht ganz deutlich, dass Freiheitsentziehung nur dann möglich ist, wenn es keine Alternativen zu
dieser schwerwiegenden Maßnahme gibt. Vor diesem Hintergrund sind alle Alternativen auszuschöpfen, und die Fachleute im Jugendamt haben zu entscheiden, ob eine Erziehungsmaßnahme mit Freiheitsentzug notwendig und geeignet ist.
Wenn die Jugendämter dieses so entschieden und einen Antrag auf Freiheitsentzug gestellt haben und das Gericht bestätigt hat, dass dieser Freiheitsentzug angemessen ist, dann muss ein Platz her. Diese Plätze gibt es bundesweit, und zwar nicht in jedem Bundesland, sondern in vier Bundesländern gibt es insgesamt sieben Einrichtungen
mit zurzeit insgesamt 142 Plätzen. Diese Plätze wurden immer schon auch für niedersächsische Kinder genutzt. Meines Wissens befinden sich zurzeit zwei Kinder in Einrichtungen dieser Art.
Vor diesem Hintergrund geht es um die entscheidenden Fragen: Gibt es im Einzelfall die Entscheidung? Fasst das Gericht den entsprechenden Beschluss? Gibt es für das Kind im Einzelfall einen Platz? Dann machen sich die Träger der Jugendhilfe auf die Suche nach einem Platz und werden dabei auch vom Landesjugendamt beraten. Wir verfügen im Landesjugendamt über alle dazu erforderlichen Erkenntnisse.
Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, könnten Sie uns noch einmal die Gründe dafür mitteilen, dass die Fachwelt die geschlossene Heimunterbringung überwiegend ablehnt, so wie es ja auch in der Anhörung des Ausschusses für Jugend und Sport deutlich geworden ist?
(Frau Vockert [CDU]: Haben wir den Beschluss nun gemeinsam gefasst oder nicht? - Zuruf von Klare [CDU])
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zum Thema geschlossene Unterbringung: Im Verlauf der Heimkampagne seit Anfang der 70er-Jahre ist sich die Fachwelt weitestgehend darin einig, dass große geschlossene Heime verschiedene Nachteile haben und deswegen die Effekte, die von ihnen erwartet werden, im Allgemeinen nicht einlösen können. Große geschlossene Heime führen dazu, dass Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten an einem Ort konzentriert werden. Dort, wo sie konzentriert werden, lernen sie nichts Gutes voneinander, sondern eher etwas Schlechtes. Diese Heime liegen häufig jenseits von Gemeinden und Städten und sind insofern weit von dem Anspruch entfernt, integrativ arbeiten zu können. So, wie sie strukturiert sind, führen sie dazu, dass die Kinder die Erzieher als Einschlusspersonen ablehnen und sie als schwach erleben, weil diese ihre pädagogische Arbeit nur im Rahmen eines Einschlusses verrichten können. Diese Kinder werden als Heimkinder stigmatisiert. Es gibt all das, was in großen Institutionen mit struktureller Macht untereinander verbunden ist. Vor diesem Hintergrund lehnt die Landesregierung die Einrichtung größerer geschlossener Heime nach wie vor ab.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Vorstellung der Task-Force KIT hat Ministerpräsident Gabriel erklärt, er unterstütze grundsätzlich die Forderung des bayerischen Innenminister Beckstein nach Einführung eines Warnschussarrestes für Kinder und Jugendliche. Ich frage daher die Landesregierung, ob sie sich weiterhin die CSU-Vorstellungen zur Umgestaltung des Jugendstrafverfahrens zu Eigen macht.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich antworte gerne auf diese Frage, weil Sie offensichtlich von einer Äußerung ausgehen, die von Ihnen missverstanden worden ist. Es geht nicht darum, eine neue Form von Jugendarrest einzuführen, sondern den Jugendarrest in einer Form zu nutzen, in der er seine abschreckende Wirkung entfalten kann. Der von einem Richter angeordnete Jugendarrest soll schnell umgesetzt werden, anstatt acht, neun oder sogar zwölf Monate abzuwarten - wie es einigen Bundesländern der Fall ist -, bis es endlich zu einer Verbüßung von Jugendarrest kommt.
Frau Ministerin, da wir Ihre differenzierte Haltung zu dem Problem der Crashkids sehr begrüßen, fragen wir uns, warum Sie als zuständige Fachministerin in der öffentlichen Debatte keine Rolle gespielt haben, sondern der Innenminister und der Ministerpräsident mit nichtdifferenzierten Positionen nach außen gegangen sind und so eher der Eindruck entstanden ist, dass das Land Niedersachsen auf Beckstein- und CDU/CSU-Kurs sei.
ministerin verzweifelt gesucht. Sie hat als Fachministerin in ihrem Haus eine Kabinettsvorlage erarbeitet und dem Kabinett Vorschläge unterbreitet, wie mit der Situation umgegangen werden kann. Ich bin mit dem Kabinettsbeschluss sehr einverstanden und meine, dass wir mit der Einrichtung dieser Task-Force einen weitergehenden Weg als die bisher anvisierten Wege eingeleitet haben. Für die Kinder und die Beteiligten ist es das Beste, wenn wir systematisch an dieses Problem herangehen und mit großem Ehrgeiz im Interesse der Kinder und ihrer Umwelt daran arbeiten, dass diese Verhaltensketten unterbrochen werden.
Frau Somfleth stellt die nächste Frage. Dann kann sich Herr Mühe innerlich auf seine Frage vorbereiten.
Frau Ministerin, meines Wissens gab es in Niedersachsen einmal ein Landesjugendheim. Können Sie uns sagen, warum es das nicht mehr gibt?
(Frau Vockert [CDU]: Das weiß sie nicht! Da war sie noch nicht in Nie- dersachsen! - Frau Somfleth [SPD]: Vielleicht hat sie sich schlau ge- macht!)
Frau Vockert, Sie unterschätzen mich und mein Interesse an diesem Thema sowie meine diesbezüglichen Kenntnisse. Es ist bundesweit bekannt, dass die Tatsache, dass die Niedersächsische Landesregierung heute zu 100 % auf Träger der öffentlichen und freien Jugendhilfe angewiesen ist, darauf zurückzuführen ist, dass die CDU unter der Regierung von Ernst Albrecht Anfang der 80erJahre das einzige Landesjugendheim mit damals 72 Plätzen - davon 30 geschlossenen Plätzen - per Beschluss aufgelöst hat.
(Beifall bei der SPD - Plaue [SPD]: Hört, hört! - Frau Vockert [CDU]: Welche Funktionen und welche Kon- zepte standen dahinter?)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, wenn es zu der Ausnahme kommt, dass ein betroffenes Kind kurzfristig in eine geschlossene Einrichtung eingewiesen werden muss, ist es dann sinnvoll und üblich, es in anderen Bundesländern einzuweisen?
Sehr geehrter Abgeordneter Mühe, dagegen spricht im Prinzip gar nichts. Es ist bundesweit üblich, dass Plätze in anderen Bundesländern genutzt werden. Es gibt zurzeit in der Bundesrepublik insgesamt ca. 100 000 Heimplätze. Wir haben in Niedersachsen 10 400 stationäre und teilstationäre Plätze. Von diesen Plätzen werden zurzeit 1 700 von Kindern und jungen Menschen aus anderen Bundesländern belegt. Wir in Niedersachsen nutzen wiederum für 600 Kinder Plätze in anderen Bundesländern. Das macht ohne Zweifel Sinn, wenn es darum geht, dass die Verhaltensketten unterbrochen werden oder auch der Schutz der Kinder dadurch gesichert wird, dass man einen neuen Lebensort weiter weg vom Heimatort sucht. Gleichzeitig gibt es aber eine fachliche Diskussion darüber, ob es besser wäre, die Probleme direkt vor Ort - „milieunah“ heißt es im Fachjargon - zu lösen. Vor diesem Hintergrund hat es in Niedersachsen eine Ausweitung ambulanter Hilfeformen gegeben, die insbesondere vor Ort greifen - von der Familienpflege bis zur Einzelfallberatung über die intensive Einzelbetreuung, wie sie auch im Fall „Artur“ angewandt wird.