Sehr geehrter Abgeordneter Mühe, dagegen spricht im Prinzip gar nichts. Es ist bundesweit üblich, dass Plätze in anderen Bundesländern genutzt werden. Es gibt zurzeit in der Bundesrepublik insgesamt ca. 100 000 Heimplätze. Wir haben in Niedersachsen 10 400 stationäre und teilstationäre Plätze. Von diesen Plätzen werden zurzeit 1 700 von Kindern und jungen Menschen aus anderen Bundesländern belegt. Wir in Niedersachsen nutzen wiederum für 600 Kinder Plätze in anderen Bundesländern. Das macht ohne Zweifel Sinn, wenn es darum geht, dass die Verhaltensketten unterbrochen werden oder auch der Schutz der Kinder dadurch gesichert wird, dass man einen neuen Lebensort weiter weg vom Heimatort sucht. Gleichzeitig gibt es aber eine fachliche Diskussion darüber, ob es besser wäre, die Probleme direkt vor Ort - „milieunah“ heißt es im Fachjargon - zu lösen. Vor diesem Hintergrund hat es in Niedersachsen eine Ausweitung ambulanter Hilfeformen gegeben, die insbesondere vor Ort greifen - von der Familienpflege bis zur Einzelfallberatung über die intensive Einzelbetreuung, wie sie auch im Fall „Artur“ angewandt wird.
Frau Ministerin, sind Sie nicht auch der Auffassung, dass durch das populistische Vorgehen insbesondere des Innenministers, aber auch des Ministerpräsidenten in der Sache sehr viel Porzellan
zerschlagen worden ist? Wäre es nicht sehr viel besser gewesen, wenn zuerst gearbeitet worden wäre und dann mit fachlich und sachlich guten und ausgewogenen Positionen an die Öffentlichkeit gegangen worden wäre?
Sehr geehrte Frau Abgeordnete, dass es populistische Äußerungen des Ministerpräsidenten oder des Innenministers gegeben haben soll, weise ich zurück.
Es ist gar kein Problem, wenn der Innenminister in seiner Rolle vor dem Hintergrund seiner Aufgabenwahrnehmung auch zugespitzte Forderungen an die Jugendhilfe heranträgt. Es ist aber letztlich die Entscheidung des gesamten Kabinetts und des Ministerpräsidenten, welche Richtung insgesamt eingeschlagen wird. Diese Richtung ist absolut richtig.
Frau Ministerin, Sie haben gerade festgestellt, dass Sie diese Richtung für richtig halten. Ursprünglich ging es darum, dass der Ministerpräsident gesagt hat, dass es ein Vollzugdefizit gibt und dass die Task-Force als Kontrollgremium gebraucht wird. Heute haben Sie es so dargestellt, dass es bei der Task-Force um Beratung und Kooperation mit den Kommunen geht. Zeitgleich liest man heute in der HAZ, dass es einen Kabinettsbeschluss gibt und dass die Eingriffsmöglichkeiten dieser Task-Force erweitert werden.
„‘schnelle Eingreiftruppe‘ könne gegenüber den zuständigen Gerichten auch eigenständig tätig werden und etwa Einweisungen von schwerstkriminellen Kinder in geschlossene Heime beantragen.“
Ich weiß nicht, wer hier schwankt - wir jedenfalls nicht. Die Richtung ist ganz klar. Es geht darum, bei Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und jungen Menschen frühzeitig zu intervenieren. Das ist die Aufgabe der Jugendhilfe im eigenen Wirkungskreis. Häufungen von Vorfällen in der letzten Zeit machen deutlich, dass hier Handlungsbedarf besteht.
Jenseits der Frage der Zuständigkeiten sehen wir es als unsere Aufgabe an, gemeinsam die Probleme zu lösen. Vor diesem Hintergrund wird das Beratungsangebot des Landesjugendamtes noch einmal verbessert, und zwar in die Richtung, dass es ein offensives Zugehen auf die Jugendhilfe vor Ort gibt und dass es ein interdisziplinäres Team gibt und deswegen alle Maßnahmen schnell gebündelt und verbessert werden können, weil es schneller auf Anfrage greift, als es früher gegriffen hat. Deswegen ist die Richtung eindeutig klar. Die Entscheidungen haben grundsätzlich die Jugendämter vor Ort im Rahmen des Hilfeplanverfahrens zu treffen. Durch die Beratungstätigkeit des Landesjugendamtes können sie sich aufgrund der Kompetenz, die hier zusammenkommt, möglicherweise differenzierte Alternativen vergegenwärtigen. Ich gehe davon aus, dass es dazu gemeinsame Vorstellungen geben wird. Es gibt keinerlei Anlass zu der Einschätzung, dass all diese Aktivitäten darauf abzielen sollen, mehr geschlossene Unterbringung als früher zu machen. Die Stoßrichtung ist durch das Kinder- und Jugendgesetz gesetzlich vorgegeben. Dort heißt es: Es ist im
Einzelfall zum Wohl des Kindes zu entscheiden. Hierzu ist eine geeignete und notwendige Hilfe anzubieten. Dieses entscheiden die Fachleute im Rahmen des Hilfeplanverfahrens.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich frage die Landesregierung, ob sie mit mir der Meinung ist, dass nicht nur ich, sondern auch eine Vielzahl der Bürgerinnen und Bürger in Niedersachsen den Eindruck hat, dass diese Landesregierung jedes Mal, wenn ein Fall in den Medien aufgegriffen wird, in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, populistisch vorzugehen, und zwar durch die Einrichtung von Task-Force, früher z. B. durch Interventionsprogramme, davor durch Einrichtung eines Landespräventionsrates, dass sie aber letztlich durch die genannten Maßnahmen überhaupt nicht Herr der Sache wird und noch kein einziges konkretes Ergebnis vorweisen kann.
Herr Minister, der Fall „Artur“ ist in der öffentlichen Berichterstattung mit der Kritik an einem Jugendzentrum in Hannover vermengt worden, das
direkt überhaupt nicht zuständig ist für die Betreuung straffälliger Kinder. Wie erklärt sich die Landesregierung die Veröffentlichung dieser Kritik, die offensichtlich aus einem internen Polizeibericht stammt? Wie erklärt sich die Landesregierung, dass an dieser Stelle die Informationspolitik der Polizei gegenüber der Öffentlichkeit sehr schnell, gegenüber dem Jugendamt Hannover aber nur zögerlich funktioniert hat?
Frau Harms, von uns sind diese Dinge nicht veröffentlicht worden. Dieser Fall ist in den Medien aufgetaucht, wo darauf hingewiesen wurde, dass ein Kind mehr als 20-mal straffällig geworden ist. Das war der Grund dafür, dass wir uns das haben berichten lassen und darüber mit vielen Institutionen gesprochen haben. Wie das im Einzelnen von unterschiedlichen Medien dargestellt worden ist, entzieht sich der Beeinflussung durch die Landesregierung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Neben der Intervention im Einzelfall, die ja dringend erforderlich ist und jetzt ausführlich erörtert wurde, wäre es mir wichtig, von der Landesregierung zu erfahren, was im Vorfeld getan wird, um Devianz und delinquentes Verhalten zu vermeiden. Das misst man ja üblicherweise in der Kriminalstatistik. Deshalb die Frage an die Landesregierung: Wie hat sich in Niedersachsen die Kriminalstatistik in Bezug auf junge Menschen entwickelt?
Meine zweite Frage richtet sich an den Kultusbereich. Was tun wir als Land im Bereich der Schule, um präventiv zu arbeiten, damit Delinquenz vermieden wird?
Herr Abgeordneter, entgegen der öffentlichen Darstellung hat es klare Signale gegeben, dass der Trend mit dem Anstieg der Kinder- und Jugendkriminalität seit 1997/1998 gebrochen ist. Landesweit können wir laut der polizeilichen Kriminalstatistik für die Zeit von 1998 bis 2001 feststellen, dass die Kinderkriminalität um knapp 10 % zurückgegangen ist. Bei den Jugendlichen haben wir in dieser Zeit noch einen leichten Anstieg von 4 % zu verzeichnen. Er beruht aber fast ausschließlich darauf, dass sich die Zahl der Schwarzfahrer vervierfacht hat. In den zentralen Bereichen sind die Zahlen stabil. Für das Jahr 2001 - das ist besonders wichtig - zeigt sich für Kinder, Jugendliche und Heranwachsende ein Rückgang der Gewaltkriminalität - unterschiedlich ausgeprägt -, den es bei Raubdelikten schon seit 1997 gibt. In diesem Bereich gibt es bei Kindern im Durchschnitt einen Rückgang um 6 %, bei Jugendlichen um 11 % und bei Heranwachsenden um etwa 7 % Warum auf einmal diese neue Entwicklung? - Die Dunkelfeldforschung gibt darauf eine Antwort: In Hannover, genauso wie in München, Leipzig und Hamburg, haben wir - ich noch in meiner alten Rolle als Kriminologe - gemessen, dass im Vergleich von 1997 zu 1999 die Jugendgewalt rückläufig gewesen ist, und zwar aufgrund von drei Faktoren. Erstens. In den Familien hat sich etwas deutlich geändert, nämlich die innerfamiliäre Gewalt geht zurück. Zweitens. Wir stellen fest, dass der Anteil der Väter, die ihre Söhne dafür belobigen, dass sie auf dem Schulhof prügeln und sich mit Power und Gewalt durchsetzen, rückläufig ist. Drittens. Die Kultur des Hinschauens an den Schulen nimmt deutlich zu, und zwar weil sich immer mehr Lehrer zu Konfliktlotsen ausbilden lassen und weil immer mehr Schüler in der Kunst des sich Einmischens, des Hinschauens ausgebildet werden. Von daher gibt es erfreulicherweise bundesweit einen neuen Trend. Die neuen Ereignisse sollten uns nicht von der Erkenntnis abbringen, dass sich die Dinge gut entwickeln. Aber sie zeigen auch etwas Erfreuliches: Die Anzeigebereitschaft der Jugendlichen - das ist nachgewiesen - hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Von daher wird mehr bekannt als früher.
Sehr geehrter Herr Abgeordneter Groth, Sie haben nach Präventionsmaßnahmen in der Schule gefragt. Auf den Kreis der hoch delinquenten Jugendlichen, über den wir jetzt reden, hat die Schule nur noch begrenzt Einfluss. Die Schule hat im Vorfeld sehr viel Einfluss auf die Mehrheit der Jugendlichen. Wir machen auch eine Menge. Das wissen Sie. Wir haben das Präventionsprogramm „Schule - Jugendhilfe“ aufgelegt, und zwar insbesondere in Stadtvierteln, in denen es im sozialen Bereich große Schwierigkeiten gibt, um bei Jugendlichen Karrieren als Straftäter zu vermeiden. Wir haben jetzt mit einem Absentismusprogramm begonnen, weil wir wissen, dass Karrieren als Straftäter quasi vorgebahnt werden, wenn Schüler nicht in die Schule gehen. Wir haben in den Schulen selbstverständlich die Schulentwicklung durch Schulprogramme in Gang gesetzt. Hier wird viel getan. Soziales Lernen wird in den Mittelpunkt gestellt. Vor allem wird das Schulleben geordnet. Im Rahmen der selbständigen Schule wollen wir noch mehr Wert legen auf das, was viele Schulen schon machen, nämlich Verträge mit Eltern schließen, sozusagen die Pflichten, die gegenseitige Verantwortung zwischen Elternhaus und Schule festlegen, weil die Schule nicht alleine am Kind arbeiten kann, sondern daran müssen alle arbeiten. Hier zeigt sich allerdings - das haben wir dargestellt - in Teilen ein Vollzugsdefizit in der Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendhilfe. Hierzu gibt es einen Erlass, den wir auch evaluiert haben, der jedoch nicht ausreicht. Er muss überarbeitet werden. Wir brauchen mehr Verbindlichkeit in der Zusammenarbeit. Das alles zeigt deutlich, dass bei den Jugendlichen eine Menge getan wird, und zwar auch im Schulbereich. Bei den hoch delinquenten Jugendlichen gibt es jedoch ein Vollzugsdefizit. Mehr Kooperation tut Not.
ministerium übernommen hatten und die in Ihrem Hause gearbeitet hat, um ein Interventionsprogramm, welches hier im Landtag beschlossen worden ist, zu erarbeiten, beerdigt und nicht haben weiterarbeiten lassen, um dieses Konzept zu erstellen?
Es ist keine Arbeitsgruppe beerdigt worden, sondern es ist an dem Thema weitergearbeitet worden. Wir haben ein Programm entwickelt, dessen Bausteine in den vergangenen anderthalb Jahren auch verfolgt worden sind. Wir haben zunächst einmal als ein Thema den Beratungsauftrag des Landesjugendamtes.
- Die Frage der Arbeitsgruppe steht nicht im Mittelpunkt, sondern die Frage der inhaltlichen Arbeit. Es ist Entscheidung der Landesregierung, in welcher Form sie ihre Aufgabe bearbeitet. Um die Inhalte geht es. Bei den Inhalten war die Aufgabe nach § 85 Abs. 2, also Beratungsauftrag des Landesjugendamtes, als eigenes Thema behandeln. Das zweite Thema war die Weiterentwicklung der pädagogischen Angebote auch innerhalb von Einrichtungen Niedersachsens. Hier haben wir beispielsweise Elemente der konfrontativen Pädagogik, die von Glen Mills abgeleitet sind, mit Blick auf ihre Übertragbarkeit auf die Verhältnisse in Niedersachsen bewertet und werden zur Fortbildung Angebote durch einschlägige kenntnisreiche Institute und Einzelpersonen anbieten. Wir haben den Prozess des frühzeitigen Intervenierens, der präventiven Arbeit mit dem Print-Programm flächendeckend in Niedersachsen und die üblichen Qualifizierungsprozesse im Zuge von Hilfeplanverfahren im Rahmen der Fortbildung auf den Weg gebracht.
Von daher ist die Behauptung, dass das Thema fallen gelassen worden ist, keinesfalls richtig. Das Thema ist durch die Fachleute weiterbearbeitet worden. Es trägt auch Früchte, denn wir haben in Niedersachsen sicherlich viele schwierig erziehbare Kinder, sowohl aus den anderen Bundesländern als auch aus unserem eigenen Land. Die Arbeit der freien Wohlfahrtspflege und auch der kommunalen
Träger zeigt, dass wir in der Mehrzahl der Fälle die Entwicklungen mit den pädagogischen Möglichkeiten positiv beeinflussen können. Es ist unsere Aufgabe, dafür die Rahmenbedingungen herzustellen.