Protokoll der Sitzung vom 30.10.2003

Zum Schluss, meine Damen und Herren: Das Spritzenaustauschprogramm hat den Landeshaushalt nicht mit einem einzigen Cent belastet. Die Auswirkungen Ihrer jetzigen Politik können allerdings sehr schnell zu einer Belastung des Haushalts werden. Die Behandlung einer akuten Hepatitis C kostet etwa 25 000 Euro im Jahr. Was HIV-Medikamente kosten, muss ich Ihnen hoffentlich nicht mehr erklären.

Dass Sie jetzt auch noch zusätzlich die externe Drogenberatung für die JVAs abschaffen wollen, ist ein Schlag ins Gesicht der Drogenkranken in unseren Anstalten.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Die Folgen davon haben Sie von Schwarz-Gelb alleine zu verantworten.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Danke, Frau Müller. - Jetzt spricht Herr Nacke von der CDU-Fraktion.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die CDU-Fraktion wird den Antrag der SPD-Fraktion ablehnen. Bevor ich jedoch auf das Votum der CDU-Fraktion eingehe, möchte ich gerne einige grundsätzliche Anmerkungen zur Frage der Vergabe von Spritzen in Haftanstalten zum Zwecke des Drogenkonsums machen.

Zur Klarstellung: Wir alle wissen, dass in Deutschland der Handel und der Besitz von so genannten harten Drogen wie beispielsweise Heroin unter Strafe gestellt ist. Ich glaube, es gibt auch nieman

den in diesem Parlament, der an dieser Regelung etwas ändern möchte. Weil aber der Besitz von Heroin strafbar ist und weil eine Abhängigkeit von solchen Stoffen häufig zu Begleit- oder Beschaffungskriminalität führt, werden viele Drogenabhängige zu Haftstrafen verurteilt. Das ist der Grund, weshalb viele Insassen unserer Justizvollzugsanstalten ein Suchtproblem haben. Aber natürlich - auch das will keiner ändern - sind auch in den Gefängnissen der Handel und der Besitz von illegalen Drogen verboten.

Dennoch - Frau Müller, Sie haben das zu Recht gesagt - müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass wir selbst in Haftanstalten, also an einem Ort, der besser überwacht wird als nahezu jeder andere Ort in unserem Land, das Auftreten und den Konsum von Heroin nicht vollständig unterbinden können.

Der Antrag der SPD-Fraktion beschäftigt sich nun mit der Frage, wie der Staat auf diesen Umstand reagieren soll. Um es zunächst einmal ganz deutlich zu sagen: Die Vergabe von Spritzen in Haftanstalten verlangt vom Staat ein paradoxes Verhalten. Dabei wird nämlich unter staatlicher Aufsicht ein Werkzeug verteilt, das erkennbar zu einer strafbaren Handlung verwendet werden wird.

Um diese Widersprüchlichkeit vielleicht etwas deutlicher zu machen, wähle ich ein anderes Beispiel: Sie wissen, meine Damen und Herren, dass der Einbruch in fremde Häuser verboten ist. Stellen Sie sich bitte eine Regelung vor, nach der sich der Einbrecher bei der Gemeinde den Schlüssel für Ihr Haus abholen kann, damit er sich beim Einschlagen der Scheibe nicht verletzt.

(Beifall bei der CDU)

So widersprüchlich ist es, wenn man dieses überzogene Beispiel wählt, in Haftanstalten Spritzen zu verteilen.

Und dennoch, Frau Kollegin Müller, schließe ich nicht von vornherein aus, dass sich der Staat auch einmal widersprüchlich verhält. Aber die Voraussetzungen müssen klar sein. Die Vergabe von Spritzen kann nur in irgendeiner Form gerechtfertigt sein, wenn durch diese Maßnahme erhebliche Rechtsgutverletzungen verhindert werden. Mit anderen Worten: Nur wenn das Leben oder die Gesundheit eines Insassen oder eines Bediensteten ohne die Vergabe von Spritzen erheblich gefährdet ist, kann eine solche Maßnahme ernsthaft erwogen werden. Nur dieser Beweggrund, Frau Kollegin Müller, war seinerzeit ausschlaggebend, einen

Modellversuch in den Anstalten Groß-Hesepe und Vechta zu starten.

Die Frage darf daher an dieser Stelle auch nur lauten: Hat die Ausgabe von Spritzen an Gefangene beim Schutz von Leben und Gesundheit der Beteiligten einen Erfolg erzielt, oder ist ein solcher Erfolg nicht nachweisbar?

Sehr geehrte Frau Kollegin Müller, spätestens an diesem Punkt kann ich den Antrag der SPDFraktion nicht mehr nachvollziehen. Entweder halten Sie den Modellversuch für erfolgreich, dann müssen Sie konsequenterweise eine Ausdehnung des Programms auf alle Anstalten in Niedersachsen vorschlagen, oder Sie sind mit mir einer Meinung, dass im entscheidenden Punkt des Schutzes von Insassen und Bediensteten kein Erfolg erkennbar ist, dann können Sie die Entscheidung der Ministerin in dieser Angelegenheit nicht kritisieren.

Meine Damen und Herren, hier sind wir nach meiner Auffassung wieder an einem Punkt angekommen, den wir gestern Morgen schon ausgiebig diskutiert haben. Der SPD-Fraktion fehlt es wie in anderen Politikbereichen an dem Mut und der Kraft, richtige Erkenntnisse in Entscheidungen umzusetzen.

(Beifall bei der CDU und von Dr. Phi- lipp Rösler [FDP])

Ich finde, an diesem Sowohl-als-auch-Antrag wird das mehr als deutlich.

Also noch einmal: Ein Vergleich der Ergebnisse hinsichtlich des Gesundheitszustandes der Insassen niedersächsischer Haftanstalten hat nicht ergeben, dass durch die Vergabe von Spritzen in Haftanstalten die Infektionsgefahr gesenkt wurde. Das wird im Übrigen auch in der Begründung zu Ihrem Antrag nicht behauptet, und Sie haben das auch hier eben nicht behauptet. Die Forschungsergebnisse aus anderen Ländern lassen einen solchen Schluss auch nicht zu. Deswegen ist eine Unterstützung dieses Programms nicht mehr möglich.

Es ist richtig, wir haben in den Haftanstalten die Situation, dass Häftlinge manchmal überhaupt erst wieder medizinisch versorgt werden. Haftanstalten sind gerade für Drogenabhängige ein Schonraum, in dem sie häufig seit längerer Zeit endlich wieder in einer Umgebung leben, die drogenfrei ist. Der Aufenthalt in einer Haftanstalt kann für viele Ab

hängige auch die Chance bedeuten, einen Weg zu einem Leben ohne Drogen zu finden.

(Zuruf von der SPD: Na, sehen Sie!)

Diese Chance ist aber ungleich schlechter, wenn wir als Staat den Abhängigen vorführen, dass wir den Drogenmissbrauch als vermeintlich eigene Entscheidung tolerieren und bei einem Verstoß gegen die entsprechenden Gesetze erst die Werkzeuge liefern und dann wegschauen.

Meine Damen und Herren, unter diesen Umständen ist es nicht verantwortbar, das Spritzenaustauschprogramm fortzusetzen. Ich bin daher froh, dass wir inzwischen wieder eine Regierung haben, die den Mut und die Kraft hat, richtige Erkenntnisse in Entscheidungen umzusetzen. - Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU und von Dr. Phi- lipp Rösler [FDP])

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Merk?

Ja, bitte schön!

Sicherlich ist Ihnen bekannt, dass ich als Ministerin damals dieses Programm eingeführt habe. Aber ist Ihnen auch bekannt, dass die CDU-Fraktion damals zu mir kam und mich gebeten hat, genau dieses Programm durchzuführen? Wir hatten, um Ihnen das zu sagen, im Landtag einen einstimmigen Beschluss zu dieser Frage. Es scheint mir eher so zu sein, dass Sie als Neuling davon noch nie Kenntnis genommen haben.

(Beifall bei der SPD)

Frau Kollegin Merk, es ist mir bekannt, dass es damals einen einstimmigen Beschluss in diesem Plenum gab. Nur, Frau Kollegin Merk, es ist eben auch so: Wenn man einen Modellversuch startet, muss man auch als Ministerin möglicherweise das Risiko in Kauf nehmen, dass ein Modellversuch scheitert. Dieser Modellversuch ist gescheitert.

(Beifall bei der CDU und von Dr. Phi- lipp Rösler [FDP])

Frau Kollegin Merk, wenn Sie, wie ich gerade angemerkt habe, den Mut und die Kraft gehabt hätten, falsche Entscheidungen zu korrigieren, hätten schon Sie dieses Programm beenden müssen; danach hätte es Herr Kollege Pfeiffer beenden müssen. Er ist jetzt auch nicht mehr da. Aber jetzt haben wir eine Ministerin, die dieses Programm beendet hat. Das ist gut und richtig so.

(Beifall bei der CDU und von Dr. Phi- lipp Rösler [FDP])

Herr Meihsies von Bündnis 90/Die Grünen!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schwierig, Menschen, die wider besseres Wissen Entscheidungen treffen, zu überzeugen. Herr Nacke ist leider jemand, der zu diesem Kreis gehört. Ich will es trotzdem versuchen. Frau Merk, Sie haben die wahren Worte gesprochen.

(Zustimmung von Rebecca Harms [GRÜNE])

Meine Damen und Herren, es wird in absehbarer Zeit keine drogenfreie Gesellschaft in diesem Lande geben. Wir arbeiten daran. Nach Aussagen zahlreicher Anstaltsleitungen gibt es in Niedersachsen keinen drogenfreien Strafvollzug. Auch das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Aus dieser Erkenntnis heraus und aufgrund der Tatsache, dass Gefangene untereinander aktiv Spritzentausch vornehmen, haben Sie, Frau Merk, damals dieses Programm entwickelt. Da sich aus diesem Spritzentausch ein hohes Risiko der Infektion ergibt, ist dieses Spritzenprogramm entwickelt und damals auch mit den Stimmen der CDU-Fraktion gebilligt worden.

Immerhin haben 83 % der befragten abhängigen Gefangenen, die im Rahmen des Projektes interviewt wurden, zugegeben, dass sie aktiv Spritzen tauschen. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen, auch wenn es uns nicht gefällt. Das ist eine erschreckend hohe Anzahl von Personen, die trotz der Kontrollen im Besitz von Drogen sind und diese auch innerhalb der Gefängnisse konsumieren! Keine sauberen Spritzen vergeben zu können bedeutet für die Gefangenen, beim Spritzentausch ein höheres Risiko einzugehen bzw. einer höheren Ansteckungsgefahr ausgesetzt zu sein.

Frau Ministerin, Sie stellen dieses Projekt ein, obwohl es in Europa - Frau Müller hat es gesagt 38 Haftanstalten gibt, die dieses Spritzenprogramm eingeführt haben. In Spanien ist das sogar flächendeckend geschehen. Irrt sich also das gesamte Spanien im Rahmen des Justizvollzuges? Diese Frage stelle ich Ihnen.

Es gibt Länder wie Finnland, Österreich und auch Frankreich - Sie haben es erwähnt, Frau Müller -, um nur einige zu nennen, die im Rahmen der Prävention und der Gesundheitsvorsorge Desinfektionsmittel zur Verfügung stellen, um die Gefangenen zu schützen; denn sie wissen um die Drogen, die im Knast gehandelt werden. Das hat man uns auch in Niedersachsen mehr als einmal erzählt.

Elf der Spritzenprogramme in diesen 38 Anstalten in Europa werden wissenschaftlich begleitet. In Niedersachsen hat man das leider unterlassen. Die Regierung hätte, wenn sie hätte aktiv sein wollen mit der Absicht, dieses Programm in Zukunft einzustellen, auch sagen können: Wir unterziehen diese beiden Programme in Lingen und in Vechta einer wissenschaftlichen Untersuchung, stützen uns also auf vernünftige Erkenntnisse und nicht auf das, was bisher stattgefunden hat. Niedersachsen dient in vielerlei Hinsicht auch in Europa als Vorbild. Sehr viele aus dem Justizvollzug sind nach Niedersachsen gekommen und haben sich angesehen, wie es hier funktioniert, und haben aus diesen Erfahrungen auch einiges für ihre Anstalten in Europa mitnehmen können.

(Hans-Dieter Haase [SPD]: Diese Zeiten scheinen vorbei zu sein!)

Meine Damen und Herren, die Weltgesundheitsorganisation hat bereits 1993 in der Richtlinie „HIVInfektion und Aids in Gefängnissen“ empfohlen, dass Präventionsmaßnahmen, die außerhalb des Strafvollzuges angeboten werden, auch innerhalb des Strafvollzuges ermöglicht werden sollen.

Meine Damen und Herren und Frau Ministerin, das Spritzenaustauschprojekt war anscheinend von Anfang an in der Administration bei Ihnen und auch bei Ihnen, Frau Merk, nicht gewollt bzw. es wurde - so mein Eindruck als Neuling - massiv behindert. Das möchte ich hier einmal feststellen.

(Heidrun Merk [SPD]: Im Gegenteil!)

Anstatt unvoreingenommen durch neutrale Institutionen eine echte Wirksamkeitsstudie in diesem Bereich durchzuführen, haben Sie eine dubiose

Ministeriumserhebung durchgeführt - Frau Ministerin, das muss ich einmal so deutlich sagen -, jenseits aller wissenschaftlichen Seriosität.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)