Protokoll der Sitzung vom 17.09.2008

Deutschlandweit wurden über sechs Jahre hinweg 3 400 Jugendliche befragt, die zu Beginn der Studie 13 Jahre alt waren und aus allen Schulformen stammen. Die Bilanz muss uns aufhorchen lassen, meine Damen und Herren: Drei Fünftel der befragten Jugendlichen haben mindestens eine der abgefragten Straftaten begangen. Ein Drittel der Befragten beging Körperverletzung. Mit 14 Jahren erreicht die Kriminalität ihren Höhepunkt. Etwa 5 % der Befragten sind Intensivtäter mit fünf oder mehr Straftaten pro Jahr. Meine Damen und Herren, ich denke, das ist eine klare Aussage und berechtigt damit zu unserem Antrag.

Nun ist es unstrittig, dass dieses Thema ebenso die deutschen Jugendlichen wie die Jugendlichen mit einem Migrationshintergrund betrifft. Und doch ist der Anteil der jugendlichen Migranten im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil in Niedersachsen deutlich stärker kriminalitätsbelastet. Gerade Kinder

und Jugendliche mit Migrationshintergrund brauchen nachhaltige Unterstützung auf ihrem Integrationsweg, um in unserer Gesellschaft ihren Platz zu finden.

Wir machen mit unserem Antrag deutlich, dass wir die Verantwortung im Bereich Integration ernst nehmen - auch, um den Anteil der jugendlichen Straftäter mit Migrationshintergrund zu senken. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Maßnahmen zu entwickeln, die Integration gelingen lassen. Zahlreiche Kommunen, die Wirtschaft, Vereinigungen, Verbände, die Einheimischen, die Zuwandernden - alle sind aufgefordert, gemeinsam mit der Politik durch gelingende Integration eine präventive Wirkung zu erreichen.

Wir haben in Niedersachsen eine Vielzahl von erfolgreichen Integrationsmaßnahmen. Vom Ausbau der Sprachförderung für Migranten über die Errichtung von Integrationsleitstellen bis hin zum Aufbau von Präventionsräten und Präventionsteams sind wir in Niedersachsen sehr gut aufgestellt.

(Zustimmung von Heidemarie Mundlos [CDU])

Und doch liegt noch sehr viel Arbeit vor uns. Und doch werden wir nicht alle Kinder und nicht alle Jugendlichen mit diesen Maßnahmenbündeln erreichen können.

Wie ich gerade ausgeführt habe, erreicht die Kriminalität bei Kindern im Alter von 14 Jahren ihren Höhepunkt. Meine Damen und Herren, darauf müssen wir reagieren. Wir müssen schon im Kindesalter auf Prävention setzen. Dazu gehört das Erlernen der deutschen Sprache. Das ist ein wichtiger Schritt, um einen positiven Schulverlauf maßgeblich zu befördern. Bildung bedeutet Prävention. Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl und Selbstachtung verringern die Gewaltneigung. Hier kommt dem Elternhaus natürlich eine besondere Verantwortung zu. Leider erleben wir immer häufiger, dass gerade dort den Kindern mit Gleichgültigkeit und auch immer wieder mit Gewalt begegnet wird. Dass das bei den Kindern natürlich zu einer Gewaltbereitschaft führt, ist nicht von der Hand zu weisen.

Wenn wir das gesamte Spektrum der Jugendkriminalität sehen, müssen wir uns auch mit den Intensivtätern befassen. Das sind nicht die, die im Supermarkt mal ein Päckchen Kaugummi mitnehmen. Das sind auch nicht die, die die Schule schwänzen. Ich spreche von dem Anteil derjenigen Jugendlichen, die vor roher Gewalt nicht zurückschrecken, denen es gleich ist, ob sie quälen oder verletzen,

und die sich dann über unser Rechtssystem lustig machen, weil man bei ihnen den Freiheitsentzug nicht anwendet. Hier fordern wir eine wirksame Veränderung im Strafrecht, die diesen jugendlichen Intensivtätern entgegenwirkt.

Lassen Sie mich an dieser Stelle einmal an die Opfer erinnern. Häufig genug sind es Menschen, die sich nicht wehren können, Mitschüler, die aus Angst vor weiterer Gewalt alles ertragen und schweigen. Oft sind es auch alte Menschen, die auf brutalste Weise überfallen werden und hinterher noch verhöhnt mit ansehen müssen, dass die Täter mit erhobenem Zeigefinger darauf hingewiesen werden, dass dies nicht richtig war. Mehr aber passiert nicht.

Meine Damen und Herren, lernen Sie, zu unterscheiden: Straftaten dürfen nicht unter dem Begriff „Jugendphänomen“ verharmlost werden, und kleine Delikte dürfen nicht dazu führen, dass Jugendliche kriminalisiert werden.

(Heidemarie Mundlos [CDU]: Genau so ist das!)

Dies gilt selbstverständlich ebenso für die einheimischen Jugendlichen wie für die Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Daher sollten Sie unserem Antrag zustimmen und auch die repressiven Maßnahmen im Rahmen eines Gesamtkonzepts unterstützen. Wir dürfen der Jugendkriminalität keine Chance lassen, und zwar zum Schutz unserer Kinder.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Vielen Dank. - Ich erteile jetzt dem Kollegen Briese von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe zu: Auch wir stellen hin und wieder Anträge, die wir in einer vorangegangenen Legislaturperiode schon einmal gestellt haben, weil wir hoffen, dass sich der Erkenntnisfortschritt bei den Mehrheitsfraktionen durchsetzt. Das ist aber leider nicht immer der Fall. Gleichzeitig hofft man natürlich auch, dass sich manche Themen politisch endlich einmal erledigen, weil die aufgestellten Forderungen schlicht unsachlich und politisch unklug sind. Auch diese Hoffnung habe ich noch nicht aufgegeben. Jedenfalls betrifft diese Feststellung große Teile des vorliegenden Antrags. Er arbeitet schlicht und ergreifend mit

falschen Behauptungen und auch mit falschen Konnotationen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich finde es sehr ärgerlich, Frau Lorberg, dass Sie diese Dichotomie, diese Trennung aufmachen: Wir haben Jugendliche mit Migrationshintergrund, und wir haben deutsche Jugendliche. Irgendwie müssen wir die unterschiedlich behandeln. - Sie erwecken bei diesen Leuten nie den Eindruck: Ihr alle gehört zunächst einmal dazu, und wir trennen nicht zwischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund und deutschen Jugendlichen. - Das müssen Sie sich einmal abgewöhnen; denn sonst werden Sie es nie hinbekommen, dass wir eine Gesellschaft werden.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Sie haben hier zwei große Kriminalstudien angesprochen, die von den Universitäten Münster und Bielefeld erstellt worden sind. Nennen Sie mir einmal einen Strafrechtler, einen Professor, der in seiner Studie zur Jugendkriminalität wirklich sagt: Ja, unser Jugendgerichtsgesetz, unser Strafrahmen reicht nicht aus, wir müssen da etwas ändern. - Nennen Sie mir die einschlägigen Experten! Es gibt meiner Meinung nach keinen. Ich jedenfalls kenne keinen. Ich habe schon bei der ersten Beratung gesagt: Als diese ganze Debatte von Koch und anderen losgetreten wurde, gab es schon einmal eine Resolution von nicht weniger als 1 000 Strafrechtlern, Bewährungshelfern, Sozialarbeitern und Praktikern im Bereich des Jugendstrafrechts, die gesagt haben: Das geltende Gesetz ist gut und ausreichend. Wir wünschen uns keine Veränderungen. Wir wünschen uns höchstens Veränderungen im Bereich der Unterstützung von Personal. Das geltende Gesetz ist gut und ausreichend. Das braucht man nicht zu verändern.

Der amtierende Justizminister war bis eben noch auf der Regierungsbank; jetzt ist er aber wieder verschwunden, obwohl es um Rechtsänderungen geht. - Ah, er sitzt jetzt im Plenum. - Herr Busemann, Sie als ehemaliger Bildungsminister geben ja auch gern einmal Nachhilfestunden im Hinblick darauf, was man im Parlament alles so lernen kann. Ich erinnere Sie jetzt einmal an die Grundsätze einer aufgeklärten Kriminalpolitik. Lesen Sie bei Herrn Radbruch noch einmal nach, wie eine Kriminalpolitik zu funktionieren hat: rational, menschlich, zielorientiert. Der Sühnegedanke hat da eigentlich gar nichts zu suchen; den sollten Sie herausstreichen.

Ferner ist es ärgerlich, wenn Sie in einen solchen Antrag Jubelarien hineinschreiben, wie toll das neue Jugendvollzugsgesetz funktioniere. Es ist peinlich, was Sie dort hineingeschrieben haben. Dieses Gesetz funktioniert vorne und hinten nicht; das wissen Sie auch. Über dieses Gesetz werden wir in diesem Landtag noch ziemlich oft diskutieren müssen, und wir werden es reparieren müssen, weil es viel zu schnell und zu unsauber verabschiedet wurde.

Herr Busemann, Sie haben sich ein bisschen darüber geärgert, dass der Bundestag die Bundesratsinitiativen einfach aussitzt. Manchmal hat es auch mit der Arroganz von Großen Koalitionen zu tun, die die Länderkammer einfach nicht mehr ernst nehmen. Manchmal hat es aber auch schlicht und ergreifend mit der Qualität der Anträge zu tun, die man dort stellt.

Ich kann es nur wiederholen: Die Fachwelt lehnt das, was Sie hier fordern, geschlossen ab. Wir haben in der Bundesrepublik sicherlich zu viele, komplizierte und manchmal auch überregulierende Gesetze. Das ist gar keine Frage. Da kann vieles optimiert werden. Aber es gibt auch einige wenige gute Gesetze, zu denen das Jugendgerichtsgesetz gehört, welches einen sehr guten Ruf genießt. Deshalb sollten Sie es lassen, daran herumzuschrauben.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zustim- mung bei der SPD)

Als sehr ärgerlich empfinde ich in diesem Antrag das Misstrauen, das Sie den Richterinnen und Richtern, insbesondere den Jugendrichterinnen und -richtern, entgegenbringen. Ich halte es für fragwürdig, dass Sie eine Änderung des § 105 JGG verlangen und durchsetzen wollen, dass immer das Erwachsenenstrafrecht angewendet wird, wenn der Straftäter schon erwachsen ist. Warum überlassen Sie es nicht geschulten Richterinnen und Richtern, diese Entscheidung zu treffen? Warum glauben Sie, dass Politiker die besseren Richterinnen und Richter sind? Dies will sich mir wirklich nicht erschließen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Frau Lorberg, im Bereich der Prävention - beispielsweise Sprachförderung usw. - gibt es gar nicht so große Streitpunkte. Aber wenn Sie unbedingt auch den repressiven Bereich verbessern wollen und meinen, dass es in diesem Bereich Nachholbedarf gebe, dann kann ich Ihnen einen guten Tipp geben: Statten Sie Gerichte und Bewäh

rungshilfe in Niedersachsen einfach angemessen aus! Dann könnten die Urteile schnell gesprochen und schnell vollzogen werden.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Damit erreichen Sie das, was die gesamte Wissenschaft uns immer sagt: Nach der Tat muss die Strafe schnell folgen.

(Heiner Bartling [SPD]: Auf dem Fu- ße!)

Dies werden Sie nur dann erreichen, wenn Sie die entsprechenden Institutionen auch angemessen ausrüsten. Wenn Sie hier mit Opferschutzinteressen argumentieren, dann verweise ich Sie darauf, dass die Opferschutzorganisationen ganz eindeutig sagen, viele Kriminalitätsopfer wollten in erster Linie, dass der Täter versteht, was er angerichtet hat, dass er also nachvollzieht, dass er dem Opfer großes Leid zugefügt hat. Weniger wichtig - das wissen wir aus der Forschung - ist Rache oder Sühne.

(Editha Lorberg [CDU]: Wie können Sie denn in diesem Zusammenhang von Rache sprechen?)

Deswegen ist der Täter-Opfer-Ausgleich ganz entscheidend. Ihn müssen Sie ausbauen. Sie müssen den Täter mit dem konfrontieren, was er angerichtet hat. Viel weniger wirksam ist der von Ihnen oft geforderte Warnschussarrest. Den halte ich wirklich für ein bisschen schwarze Pädagogik.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zustim- mung bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Eine letzte Anmerkung: Was sagen eigentlich kluge Liberale auf Bundesebene - es handelt sich ja um ein Bundesgesetz - zu dieser Änderung? Was sagt die Rechtsstaatspartei FDP im Bund zu der Forderung, das JGG müsse unbedingt geändert werden? Eine sehr kluge Frau, die einmal Bundesjustizministerin war, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, hat gegen ihre eigene Partei geklagt. Sie sagt, das geltende JGG sei ein sehr gutes Gesetz, das wir gar nicht zu ändern brauchen.

Herr Kollege, ich muss Sie unterbrechen und Ihnen jetzt auch großes Leid zufügen. Ich muss Sie nämlich darauf hinweisen, dass die Redezeit abgelaufen ist.

Das ist wirklich sehr schade, weil man den Liberalen wirklich einmal ins Gewissen reden muss. Sie haben mit Bürgerrechten und Liberalität gar nichts mehr zu tun.

Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN - Lachen bei der FDP)

Ich erteile der Abgeordneten Modder von der SPDFraktion das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der uns zur Beschlussfassung vorliegende Antrag von CDU und FDP ist durch die Beratung bzw. Mitberatung in den Fachausschüssen leider nicht besser geworden. Trotz aller Kritik, insbesondere an der falschen Schwerpunktsetzung, blieb er unverändert. Ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dem wir gerne zugestimmt hätten, wurde leider abgelehnt.

Meine Damen und Herren, Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass die Gewährleistung der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger eine Kernaufgabe des Staates sei. Damit haben Sie völlig recht. Wir alle sind uns sicherlich einig, dass wir alles daransetzen müssen, dass Kriminalität und natürlich auch Kinder- und Jugendkriminalität erst gar nicht entstehen können. Die Verhinderung von Straftaten muss das primäre Anliegen verantwortungsbewusster Politik sein. Wer aber wie Sie, meine Damen und Herren von CDU und FDP, eine Debatte über Jugendkriminalität anschiebt und über die Ursachen hinwegsieht, handelt schlichtweg fahrlässig.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Auch sollten Sie das Problem der Jugendkriminalität, das wir hier ja nicht leugnen, nicht nur auf eine Bevölkerungsgruppe reduzieren. Schließlich sind an Vorfällen, wie wir sie in München zu beklagen haben, nicht nur ausländische Jugendliche beteiligt. Ich erinnere hier an brutale Gewalt von Deutschen gegen Ausländer. Beides haben wir auf das Schärfste zu verurteilen.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Ich wiederhole mich hier gern: Jugendkriminalität ist anders, als von Ihnen suggeriert, kein Ausländerproblem, sondern ein soziales und bildungspolitisches Problem. Hier muss Politik ansetzen.