Protokoll der Sitzung vom 17.02.2010

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wir sind für das Lohnabstandsgebot. Dafür brauchen wir jedoch den gesetzlichen Mindestlohn. Nach Ihrer Logik heißt das sonst bei immer niedrigeren Löhnen immer geringere Hartz-IV-Sätze, und dann ist kollektives Betteln angesagt.

(Zuruf von der LINKEN: Genau!)

Dieses Gesellschaftsbild wollen wir nicht. Wir wollen keine Fürsorge bei Armut, wir wollen keine mildtätige Hilfe bei Arbeitslosigkeit, wir wollen keine Ausweitung des Niedriglohnsektors und keine Kombilöhne in Form von Aufstockern. Wir wollen eben keine Verlierer und keine Stigmatisierung, wie Sie es wollen. Sozialstaat heißt für uns Rechtsanspruch auf Schutz und soziale Leistungen. Eine soziale Gesellschaft nimmt eben alle mit!

(Lebhafter Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ich erteile der Kollegin Helmhold von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dürr, ich kann das ja verstehen. Auch ich wäre an Ihrer Stelle in Panik, wenn ich die Umfrage von heute morgen bei Forsa gesehen hätte: 7 % bundesweit. - Das schmerzt!

(Zustimmung bei den GRÜNEN - Oh! bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Da legt man natürlich das soziale Mäntelchen ab, und Sie ziehen blank - hier und auf Bundesebene. Sie konzentrieren sich auf Ihr Kerngeschäft, auf die Kernklientel der Besserverdienenden.

(Christian Grascha [FDP]: Die Steuer- zahler sind unsere Klientel!)

Das ist jetzt die Devise. Wie ginge das eigentlich besser als über die Diskreditierung der Schwächsten in unserer Gesellschaft, die Sie gegen die von Ihnen sogenannten Leistungsträger ausspielen, die angeblich von Steuern und Abgaben erdrückt werden?

Nur einmal zur Versachlichung: Im Vergleich der Höhe der Sozialleistungen pro Kopf liegt Deutschland auf Platz acht in der EU. Ich finde, von dieser Zahl kann man nicht ableiten, dass wir etwa einen völlig übertriebenen Sozialstaat hätten.

Herr Dürr, Sie haben eben viel von Leistungsträgern gesprochen. Das machen Sie ja gerne. Wissen Sie, ich kenne einen jungen Ingenieur, der alles richtig gemacht hat, ich glaube, genau so, wie Sie das haben wollen. Er hat studiert - in Lüneburg -, er ist Wirtschaftsingenieur. Er war flexibel und ist wegen des Jobs nach Süddeutschland gezogen. Dort hat er seine Arbeitsstelle wegen der Krise verloren. Er hatte jetzt noch keinen ALG-IAnspruch, er hatte nämlich noch nicht ein Jahr lang eingezahlt, und deswegen ist er sofort in Hartz IV gefallen. Wollen Sie ihm vorwerfen, dass er nichts leistet?

(Christian Dürr [FDP]: Das tun wir doch gar nicht!)

Oder wollen Sie das der alleinerziehenden Mutter vorwerfen, die keine Kinderbetreuung findet? Den 1,3 Millionen Hartz-IV-Aufstockern? Leisten die alle aus Ihrer Sicht eigentlich nichts? - Das ist doch eine unsägliche Diskussion, die Sie hier aufmachen!

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN - Hans- Werner Schwarz [FDP]: Sie hat es nicht verstanden!)

Wegen ihrer schlechten Umfragewerte will die FDP jetzt die Republik in eine Sozialstaatsdebatte zwingen. Sogleich hat sich gestern auch Wirtschaftsminister Bode zu Wort gemeldet. Er kritisiert das angebliche Anspruchsdenken und die geistige Haltung der Hartz-IV-Empfänger und fordert mehr Sanktionen.

Meine Damen und Herren, wer den Arbeitslosen die Schuld an ihrer Situation zuschiebt, der legt die Lunte an einen Grundkonsens dieser Republik. Wir sind uns darüber einig, dass wir eine soziale Marktwirtschaft haben. Wer so argumentiert, hat

nicht verstanden, was erstens Sozialstaat bedeutet und was zweitens Arbeitslosigkeit für den einzelnen Menschen bedeutet. Die allermeisten haben diesen Zustand nicht gerne.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Minister Bode sagt auch: Wer arbeitet, muss mehr haben als der, der faul liegen bleibt. - Ja, aber welche Konsequenz zieht die FDP eigentlich daraus? Für sie sind Stundenlöhne von 3 bis 4 Euro in Ordnung, bei denen die Arbeitgeber ganz ungeniert sagen: Der Staat soll doch einmal den Rest bezahlen! - Und dann beschimpfen Sie die Leute, die diese Hartz-IV-Leistungen in Anspruch nehmen. Geben Sie den Menschen doch endlich Mindestlöhne für ihre Arbeit! Und danach können wir über das Lohnabstandsgebot reden.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Aber spielen Sie nicht die Hungerlöhner gegen diejenigen aus, die keine Arbeit haben! Das ist schäbig!

(Anhaltender Beifall bei den GRÜ- NEN, bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Ich finde, der Wirtschaftsminister kann uns doch gleich noch einmal erklären, wie zu dem beständigen Steuersenkungsmantra der FDP die Wirkungen der Kopfpauschale passen. Das Finanzministerium hat ja ausgerechnet, dass der Spitzensteuersatz auf 73 bis 100 % ansteigen müsste, um die Pläne von Herrn Rösler zu finanzieren.

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Interessant!)

Das sieht schlecht aus für den Vorsitzenden der niedersächsischen FDP. Aber wenigstens machte er ja eine gute Figur als Narr beim Döhrener Karneval.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Da Narren bekanntlich die Wahrheit sprechen, wissen wir jetzt auch, wie die FDP über ihre Wähler denkt: Nur 30 % der Wähler kennen den Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme, so der Minister.

(Vizepräsident Dieter Möhrmann über- nimmt den Vorsitz)

Er wird zitiert: Davon lebt die FDP seit 60 Jahren.

(Heiterkeit und Beifall bei den GRÜ- NEN, bei der SPD und bei der LIN- KEN - Christian Grascha [FDP]: Das war übrigens eine Büttenrede!)

Eine Irrtumspartei? Eine reine Irrtumspartei, die sich anschickt, dieses Land zu ruinieren? Welche Tragik verkündete dieser Narr eigentlich dort?

(Heiterkeit und Beifall bei den GRÜ- NEN, bei der SPD und bei der LIN- KEN - Heiner Bartling [SPD]: Tusch! Helau! - Christian Dürr [FDP]: Wer so spaßbefreit ist!)

Meine Damen und Herren, ich verstehe, dass das Urteil des Verfassungsgerichts Ihnen von der FDP als Super-GAU erscheinen muss und jetzt die schönen Steuersenkungspläne zu platzen drohen. Da läuft der Vorsitzende natürlich lieber als politisches Rumpelstilzchen durch Berlin und stellt den Sozialstaat infrage.

Aber wissen Sie, in den unhistorischen und diskreditierenden Einlassungen der Herren Westerwelle, Rösler und auch Bode zeigen sich das ganze Elend und auch die Sinnkrise des Liberalismus. Die größten Krisen der letzten Jahre - Finanzkrise und Klimakrise - haben ihre Ursache doch nicht in einem überbordenden staatlichen Handeln,

(Glocke des Präsidenten)

sondern in den kaum kontrollierten Auswüchsen einer individuellen Freiheit, die sich von Verantwortung völlig entkoppelt hat.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Sie haben immer auf alles schnell eine Antwort, auch auf diese Krisen.

Frau Kollegin, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.

(Zuruf von der LINKEN: Zugabe!)

Meist heißt die Antwort „Steuersenkung“, oft „weniger Staat“, und immer „Umverteilung von unten nach oben“. Damit pflegen Sie und Ihresgleichen selber die Dekadenz und den Verfall, vor allen Dingen auch liberaler Moral.

(Beifall bei den GRÜNEN)

In der Regierung zeigt sich jetzt, dass Sie am Ende sind, hier wie in Berlin. Die Menschen merken das, und sie werden es Ihnen im Mai in NRW schwarz auf weiß geben. Davon bin ich überzeugt.

(Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, für die Landesregierung nimmt nun Herr Minister Bode zu dem Thema Stellung.

(Zuruf von der SPD: Der neue Sozi- alminister! - Wolfgang Jüttner [SPD]: Für die Landesregierung? - Weitere Zurufe)

- Meine Damen und Herren, vielleicht lassen Sie Herrn Bode reden. Wenn Sie dann noch antworten wollen und noch Zeit haben, dann können Sie das ja tun. - Herr Bode, bitte!

Von mir aus gerne. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Angemessenheit der Regelsätze der Grundsicherung hat die Diskussion über die Funktionsfähigkeit des Sozialstaates neu entfacht. Für diese Diskussion ist es wichtig, eine offene Beschreibung der Lage vorwegzustellen. Ich will das hier wegen der Redezeitbeschränkung in der Aktuellen Stunde auf drei Punkte beschränken.