einem entsprechenden Antrag der Tarifparteien möglich ist. Wir werden das Recht der Sozialpartner jedenfalls wahren.
Zu 3: Im Vertrag von Lissabon ist in Artikel 2 Abs. 3 das klare Ziel formuliert, dass auch auf europäischer Ebene die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielen - so wörtlich -, vollständig zu gelten haben. Erstmals wird damit ausdrücklich in einem europäischen Vertragswerk die soziale Marktwirtschaft erwähnt und nicht eine sozialistische Einheitswirtschaft. Für mich ist dies eine ganz wichtige Botschaft. Die Europäische Union ist den gleichen Werten verpflichtet, wie wir sie im deutschen Sozialsystem kennen - ein System, das weltweit immer noch als vorbildlich gilt.
Schauen wir uns die Dinge im Einzelnen an, dann wird erkennbar, dass man mitnichten davon sprechen kann, dass soziale Grundrechte gegenüber wirtschaftlichen Grundfreiheiten nachrangig behandelt werden. Erstens sollen laut Vertrag - ich zitiere - Ausgrenzungen und Diskriminierungen bekämpft und Gerechtigkeit, sozialer Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und der Schutz der Rechte des Kindes gefördert werden. Damit geht dieser Vertrag in Einzelheiten sogar über das hinaus, was im deutschen Grundgesetz steht.
Zweitens wird die Grundrechtecharta, die bislang nur eine politische Absichtserklärung war, zu einem rechtsverbindlichen Bestandteil des Vertrages und verpflichtet die Organe der EU zu ihrer Einhaltung. Jede Bürgerin und jeder Bürger kann die so festgeschriebenen Grundrechte im Verfahren vor dem EuGH sowie vor nationalen Gerichten geltend machen. Das ist auch schon mehrfach geschehen.
Die sozialen Grundrechte der Charta umfassen z. B. die Nichtdiskriminierung, das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben, Integration von Menschen mit Behinderungen, Zugang zu sozialer Sicherheit und sozialer Unterstützung und Gesundheitsschutz. In der Grundrechtecharta sind auch die Koalitionsfreiheit und das Streikrecht enthalten.
Drittens garantiert eine neue horizontale Sozialklausel, dass die Union bei der Umsetzung ihrer Politik den Erfordernissen eines hohen Beschäftigungsniveaus, eines angemessenen sozialen Schutzes, der Bekämpfung der sozialen Ausgren
zung sowie eines hohen Niveaus bei der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes Rechnung trägt. Erinnern möchte ich in diesem Zusammenhang auch daran, dass die Europäische Union in der laufenden Finanzperiode von 2007 bis 2013 durchschnittlich mehr als ein Drittel ihrer Mittel für den sozialen Zusammenhalt sowie für Wachstum und Beschäftigung ausgibt. Insgesamt sind dies mehr als 300 Milliarden Euro.
Bei diesen Fakten kann man mit Fug und Recht behaupten, dass die soziale Dimension in Europa nicht zu kurz kommt. Mein Fazit lautet deshalb: Die Niedersächsische Landesregierung steht uneingeschränkt hinter dem Vertrag von Lissabon.
Eine Vorbemerkung: Wir erbitten die Wortmeldungen nach wie vor schriftlich. Einige Wortmeldungen liegen bereits vor. Ich erteile dem Abgeordneten Herrn Hagenah von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort zu einer Zusatzfrage.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Wie beurteilt die Landesregierung aus heutiger Sicht nach dem EuGH-Urteil die Auswirkungen und die Anwendbarkeit des niedersächsischen Landesvergabegesetzes und mögliche Anpassungsnotwendigkeiten, nachdem sie unmittelbar nach dem Urteil, speziell durch Staatssekretär Werren, praktisch die komplette Aufhebung des Gesetzes verkündet hatte, auch bezogen auf alle laufenden Vergaben, im Ausschuss hingegen der Gesetzgebungs- und Beratungsdienst des Landtages deutlich machte, dass nach seiner rechtlichen Auffassung das derzeitige Landesvergabegesetz in weiten Teilen weiterhin Gültigkeit habe und mit wenigen Veränderungen in Gänze europarechtskonform gemacht werden könne?
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Interpretation des Urteils ist präzisiert worden, wie Sie wissen. Nicht mehr gelten, weil europarechtswidrig, alle Bestimmungen, die sich auf Tarifver
tragsregelungen beziehen. Dagegen sind die anderen Regelungen, z. B. § 5, wonach es möglich ist, nach unten abweichende Angebote besonders zu prüfen und gegebenenfalls auszusortieren, nach wie vor in Kraft. Das ist auch in der Interpretation auf der Internetseite des Wirtschaftsministeriums dargestellt worden.
Der Hinweis, dass dieses Urteil unmittelbar gelte, und zwar auch für laufende Ausschreibungsverfahren, ist zunächst von der Bauindustrie mit Unverständnis aufgenommen worden. Aber z. B. zeigt das Urteil zur S-Bahn-Ausschreibung in Bremen deutlich, dass das Ministerium mit seiner Interpretation recht gehabt hat, dass dieses Urteil von den Gerichten unmittelbar auch für laufende Verfahren und in dieser Zeit getroffene Entscheidungen über Vergabeverfahren anzuwenden ist. Von daher besteht durch die Präzisierung, die ich dank Ihrer Frage auch hier noch einmal vornehmen konnte, über einen Teil, der nicht mehr gilt, und über einen anderen Teil, der gilt, auch in der Öffentlichkeit Klarheit.
Im Übrigen wird es bei der Frage, ob der Teil, der noch gilt, über den 31. Dezember hinaus als Gesetz fortbestehen soll oder ob die gleiche Materie inhaltlich per Erlass oder Verordnung geregelt wird, um das Instrument, aber nicht um Inhalte gehen. Ich möchte ausdrücklich sagen, dass die Teile, die vom EuGH nicht infrage gestellt worden sind, aus meiner Sicht auch in Zukunft in vollem Umfang Anwendung finden sollten.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich frage die Landesregierung: Wie beurteilt sie vor dem Hintergrund der Tatsache, dass für alle Bürgerinnen und Bürger Europas Grund zu tiefer Besorgnis besteht, was Sozialdumping und Lohndumping angeht - da zeichnet sich eine Spirale ab, und zwar für alle Bürgerinnen und Bürger Europas -, die Haltung des Europäischen Gerichtshofs, der in Bezug auf das Landesvergabegesetz Niedersachsen eine Position bezogen hat, die im Gegensatz zu der Position steht, die das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf das Berliner Landesvergabegesetz getroffen hat, soweit es die Hierar
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist so: Bundesrecht bricht Landesrecht, und Europarecht bricht in den meisten Fällen Bundesrecht. Bei Subsidiaritätsfragen ist die Abgrenzung schwierig. Aber hier ist das EuGH-Urteil ausschlaggebend.
In anderen Fällen - ich denke hierbei an Diskriminierungsprozesse in der Vergangenheit und an die Stellung von Frauen in der Gesellschaft - gibt es vom EuGH Urteile, die den Klagenden recht gegeben haben, als sie vor dem Bundesverfassungsgericht so nicht recht bekommen haben. Früher sagte man: Roma locuta, causa finita. - Jetzt sagt man: In Straßburg ist entschieden worden - und das gilt.
Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, dass daraus abgeleitet werden darf, dass Europa für Sozial- oder Lohndumping ist. Ich glaube vielmehr, man muss, wenn man anderer Auffassung ist, berücksichtigen, dass Gerichte immer auf bestimmte Rechtsformen abstellen. In diesem Zusammenhang hat das Gericht gesagt: Mit einem Landesgesetz können all diese Fragen nicht geregelt werden. Deswegen sind die Bestimmungen nichtig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hirche, ich habe eine Frage an die Landesregierung: Wie lange wird die Landesregierung den Urteilen des EuGH, die zunehmend in Richtung Wirtschaft gehen und im Interesse der Wirtschaft ausfallen, noch zusehen, ohne Gegenmaßnahmen einzuleiten?
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die Landesregierung möchte ich den Wirtschaftsminister unterstützen.
Die Annahme, die Sie in Ihrer Frage zum Ausdruck bringen, ist schlicht falsch. Die Schelte des Europäischen Gerichtshofs ist unzutreffend. So hat der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass die Bereitschaftsdienste des Pflegepersonals in Notdiensten regelmäßig als Arbeitszeit anzusehen sind und dass die Entscheidung der rot-grünen Bundesregierung, dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beim selben Arbeitgeber immer wieder befristet beschäftigt werden können, unzulässig ist. Solche Dinge sind vom Europäischen Gerichtshof kassiert worden.
Dies deckt sich mit der Einschätzung - die Lektüre des Aufsatzes empfehle ich Ihnen - Ihrer Parteigenossin Sylvia-Yvonne Kaufmann, die als Abgeordnete der Linken im Europäischen Parlament sitzt. Sie hat in einem Aufsatz in dem Buch „Die EU und ihre Verfassung. Linke Irrtümer und populäre Missverständnisse zum Vertrag von Lissabon“ ausgeführt:
„als sozialreaktionär bzw. asozial zu bezeichnen, ist absurd. Hier wird kein Neoliberalismus zementiert.“
„Die Zurückdrängung des Grundsatzes der offenen Marktwirtschaft zugunsten der sozialen Marktwirtschaft stellt geradezu einen Paradigmenwechsel dar.“
Wer vor dem Hintergrund zunehmender sozialer Rechte in Europa und der Durchsetzung sozialer und Gerechtigkeitsanliegen in Europa die Mär verbreitet, Europa würde sich gegen soziale Rechte wenden, der liegt falsch. Es ist völlig absurd, dass Ihr Kollege Dieter Dehm jetzt angekündigt hat, eine Verfassungsbeschwerde gegen den Vertrag von Lissabon einzureichen.
Sie sollten einmal diesen Aufsatz Ihrer Kollegin im Europäischen Parlament durchlesen. Dann werden Sie Ihre Behauptungen gegen Europa nicht aufrechterhalten können.
Auch ich habe eine Zusatzfrage: Wie bewertet die Landesregierung die Tatsache, dass der EuGH in den genannten Urteilen durchgängig wirtschaftliche Grundsätze über die sozialen Grundrechte gestellt hat?
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege, Sie haben Ihre Frage abgelesen. Wir haben für verschiedene Ihrer Fragen natürlich denkbare Antwortentwürfe, die wir ablesen könnten. Aber das ganze Spiel setzt voraus, dass man der Debatte folgt.
Die Frage, die Sie gerade vorgelesen haben, ist eben von mir beantwortet worden. Es ist nämlich schlicht und einfach falsch, dass die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs stets einseitig wirtschaftliche Belange begünstigen würden. Ich habe Ihnen gerade mehrere Entscheidungen genannt, bei denen genau das Gegenteil der Fall ist. Dies ergibt sich schon aus der Präambel des Vertrages über die Europäische Union, in der von Solidarität und sozialem Fortschritt die Rede ist. Dies ergibt sich auch aus den Artikeln 3, 9 und 13. Die Gewährleistung angemessenen sozialen Schutzes und die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung sind jetzt ausdrücklich Ziele der Europäischen Union. Dementsprechend fallen die Urteile im Einzelfall zwar unterschiedlich aus. Aber die Behauptung, es gehe hier in Europa gegen Arbeitnehmerrechte, ist nicht aufrechtzuerhalten, wenn man sich die Rechtsprechung der Europäischen Union einmal genau anschaut.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ist es nach Auffassung der Landesregierung mit den parlamentarischen Gepflogenheiten und dem Prinzip der Gewaltenteilung vereinbar, wenn der Wirtschaftsminister zu Beginn der Fragestunde, wie wir es eben erlebt haben, die Berechtigung der Opposition, zu einem bestimmten Thema Fragen zu stellen, grundsätzlich infrage stellt, statt die Fragen zu beantworten, die gestellt worden sind?
(Beifall bei der LINKEN - Hans- Werner Schwarz [FDP]: Das hat er nicht gemacht! - David McAllister [CDU]: Was ist das denn?)