Protokoll der Sitzung vom 25.01.2007

Es soll eine Delegation aus unserem Hause und eventuell auch aus der Hamburgischen Bürgerschaft nach Hannover fahren und dort in der Anhörung zuhören beziehungsweise mitwirken.

Ich empfehle, diesen Bericht des Ministeriums, mit dem wir uns heute befassen, in die zuständigen Ausschüsse zu überweisen und dort die Arbeit fortzusetzen. Politisch sollten wir über weitere Maßnahmen nachdenken, die sich unmittelbar oder mittelbar aus der Ursachenforschung in der Elbmarsch ableiten lassen, wie die längst überfällige Vereinheitlichung der Erfassung von Krebserkrankungen in Deutschland. In Schleswig-Holstein ist die Meldung verbindlich, in Hamburg nicht. Meiner Meinung nach muss an dieser Stelle

(Detlef Matthiessen)

der Föderalismus aufhören, meine Damen und Herren.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie vereinzelt bei SPD und SSW)

Wir sichern den Menschen in der betroffenen Region zu, dass wir weiterhin an ihrer Seite stehen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD, FDP und SSW)

Ich danke Herrn Abgeordneten Matthiessen. - Das Wort für die CDU-Fraktion hat nun Frau Abgeordnete Ursula Sassen.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst einmal sehr herzlichen Dank an die Verfasser des Berichts zu Leukämiefällen im Raum Geesthacht/Elbmarsch. Der sorgfältige Umgang mit den Forschungsergebnissen und die detaillierte Schilderung der Sach- und Datenlage zeigt, wie ernst auch die schleswig-holsteinische Landesregierung diese Sache nimmt, insbesondere die Häufung von Leukämien im Kindesalter.

„Warum ist wieder ein Kind an Blutkrebs erkrankt? Das muss doch etwas mit dem Kernkraftwerk in der Nachbarschaft zu tun haben!“ - Solche Fragen und Vermutungen tauchen mit großer Regelmäßigkeit in den Medien auf. Die Akute Lymphatische Leukämie, kurz ALL, ist die häufigste Krebserkrankung im Säuglings- und frühen Kindesalter. Wissenschaftler können leider immer noch keine endgültigen Antworten auf diese Fragen geben. Dass die meisten, wenn nicht alle kindlichen Leukämien schon in der Gebärmutter entstehen, heißt zwar, dass sie „angeboren“, nicht aber, dass sie „erblich“ oder Folge einer Krebsveranlagung sind. Der alte Streit, ob Krebs durch „schlechte Gene“ oder Umweltfaktoren bedingt ist, ist eigentlich kein Streit mehr. Jede Krebserkrankung ist letztlich eine Erkrankung der Gene. Krebs entsteht durch ein Zusammenspiel von genetischen Besonderheiten des Individuums und von Umweltfaktoren, bei dem einmal die eine und dann wieder die andere Seite die größere Rolle spielt.

Die Ursachen der ALL sind weitgehend unbekannt. Das deutsche Kinderkrebsregister in Mainz besteht erst seit 1980. Durch die Veröffentlichungen des Mainzer Krebsregisters und die Aktivitäten eines niedergelassenen Arztes in der Elbmarsch ab dem Jahre 1990 wurde die dortige Häufung von Leukämieerkrankungen von Kindern publik gemacht. Es

fehlt folglich an verlässlichen Daten, um Vergleiche mit Erkrankungszahlen in früheren Jahrzehnten vornehmen zu können.

Um die Vorfälle zu klären, setzte die damalige rotgrüne Landesregierung 1992 eine Kommission aus namhaften Fachleuten ein und gab mehrere aufwendige Gutachten in Auftrag. Der Auftrag war, einen möglichen Zusammenhang der Häufung der Leukämieerkrankungen mit dem nahen Atomkraftwerk Krümmel und dem benachbarten GKSS-Forschungszentrum zu untersuchen, wie es der Interessenlage der rot-grünen Landesregierung entsprach. Die Mehrzahl der Kommissionsmitglieder waren entschiedene Kernkraftgegner. Dennoch konnte keine der von der Kommission bei verschiedenen wissenschaftlichen Instituten in Auftrag gegebenen Studien, darunter die groß angelegte „Norddeutsche Leukämie- und Lymphomstudie“ des Bremer Instituts für Präventionsforschung und Sozialmedizin von 2002, einen Zusammenhang zwischen gehäuften Leukämieerkrankungen und dem AKW Krümmel oder der GKSS finden. Auch die eingehende Überprüfung der Emissionsdaten der beiden kerntechnischen Anlagen durch das als atomkritisch bekannte Darmstädter Öko-Institut erbrachte keine Auffälligkeiten.

Aus der Kommission traten im Jahr 2004 sechs von neun Mitgliedern aus. Diese Wissenschaftler - alle entschiedene Atomkraftgegner unter der Führung der Professoren Otmar Wassermann und Inge Schmitz-Feuerhake - erhoben heftige Vorwürfe gegen die rot-grüne Landesregierung, die angeblich ihre Arbeit behindert habe. Es ist bemerkenswert, dass die damalige Landesregierung die Ergebnisse der vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen gegen die ihr gesinnungsmäßig nahestehenden Wissenschaftler verteidigen musste. Wilfried Voigt, damaliger Staatssekretär, sagte, es sei am Ende gar nichts bewiesen worden und eine hochgradige Zumutung, vor allem gegenüber den Eltern in der Elbmarsch, wenn die sechs Wissenschaftler um Wassermann noch einmal alles aufrollen wollten, nachdem man 5 Millionen € in die Kommissionsarbeit investiert habe. Irgendwo müsse mit gewissen Hypothesen mal Schluss sein.

Die damalige Ministerpräsidentin Heide Simonis warf den zurückgetretenen Wissenschaftlern „ausgeprägte Geltungssucht“ und „aggressive Rechthaberei“ vor, zu lesen in der „Zeit“ vom 25. November 2004.

Auf niedersächsischer Seite wurde bereits 1990 eine Expertenkommission eingesetzt, die im Jahre 2004 ihren Abschlussbericht vorlegte. In einem 16-Punkte-Programm wurden wissenschaftliche

(Detlef Matthiessen)

Untersuchungen in folgenden Einflussbereichen durchgeführt, die auch die Ministerin schon genannt hat: In der Elbe fanden Schadstoffmessungen der Aerosole statt. Die Milch von Kühen, die im Deichvorland grasen, wurde untersucht. Örtliche Emissionen wurden untersucht. Dabei ging es um ionisierende Strahlen, elektromagnetische Felder, chemische Schadstoffe aus der Industrie, Altlasten, möglicherweise belastete Kinderspielplätze. Man hat nichts ausgelassen. Im häuslichen Bereich wurde nach Radon und Lösungsmitteln gesucht. Die Muttermilch wurde untersucht. Der medizinische Bereich und sogar das Trinkwasser wurden untersucht. In keinem der untersuchten Bereiche, auch nicht dem der vermuteten Einwirkung ionisierender Strahlen, ließen sich Ursachen für die Häufung kindlicher Leukämien finden.

Die niedersächsische Untersuchungskommission befasst sich in ihrem Gutachten - wir hörten es bereits - auch mit den vor allem vom ZDF in sensationeller Weise verbreiteten Funden radioaktiver Kügelchen durch eine von der Bürgerinitiative gegen Leukämie in der Elbmarsch beauftragte Arbeitsgemeinschaft, Arge PhAM, im Jahre 2001. Um diese Kügelchen, die nach Auffassung der Atomkraftgegner auf einen Störfall auf dem Gelände der GKSS im Jahre 1986 zurückgehen sollen, ranken sich Vermutungen wildester Art, unter anderem Forschungen mit Mini-Atombomben im GKSS.

Der damalige Staatssekretär Voigt hat auf dem Gelände der Forschungsanstalt persönlich nach Geheimlaboren und Spuren eines Brandes gesucht. „Da war nichts!“ Voigt dementierte auch, dass bei der GKSS Hybridversuche stattgefunden haben sollten; Zitat aus der „Zeit“ vom 25. November 2004.

Eine Überprüfung der Befunde der Arge PhAM durch einen Gutachter der Staatsanwaltschaft Lübeck, einen Experten des Kernforschungszentrums Jülich, das Bundesamt für Strahlenschutz sowie durch die Landesmessstellen von Schleswig-Holstein und Niedersachsen verlief negativ. Deshalb wurde auch diese Variante der Störfallhypothese verworfen. Die Kommission gelangte daher zu dem Ergebnis, dass die Häufung der kindlichen Leukämien im Beobachtungsgebiet nicht durch bekannte Ursachen erklärt werden könne.

Die Erkrankungsrate ist in der Tat sehr ungewöhnlich, allerdings nicht so signifikant, dass eine rein zufällige Häufung ausgeschlossen werden kann. Andere Krebsformen kommen laut Kinderkrebsregister in der Region um die GKSS nicht häufiger vor als im bundesdeutschen Durchschnitt. Häufungen von Krebserkrankungen, insbesondere von

Leukämieerkrankungen, sind in den vergangenen Jahrzehnten in verschiedenen Teilen der Welt beobachtet worden. Beispielsweise haben zwischen 1960 und 1980 die Centers for Disease Control und Prevention in den USA 108 Cluster von Krebserkrankungen untersucht. Bei keinem Cluster ist es gelungen, eine Ursache für die Häufung zu entdecken. Anfang Oktober 2006 hat die Presse über einen weiteren Leukämiefall aus Geesthacht berichtet. Es war erneut die Rede von der höchsten Erkrankungsrate weltweit. Diese Aussage muss allerdings sehr differenziert betrachtet werden. Im benachbarten Hamburg und in Niedersachsen besteht im Gegensatz zu Schleswig-Holstein zwar ein Melderecht, aber keine Meldepflicht und weltweit ist eine umfassende Meldung erst recht nicht gewährleistet.

Dennoch sind Wissenschaft und Forschung, die Länder Schleswig-Holstein und Niedersachsen gefordert, weiterhin in intensiver Zusammenarbeit dem Problem der Häufung von Leukämien im Raum Geesthacht/Elbmarsch mit allen Kräften zu begegnen. Ich begrüße daher, dass Niedersachsen nahezu zeitgleich weitere Initiativen in Kooperation mit Schleswig-Holstein angekündigt hat und der Sozialausschuss des Schleswig-Holsteinischen Landtages beschlossen hat, sich einer Expertenanhörung Niedersachsens anzuschließen.

Bei allem Verständnis für Atomkraftgegner warne ich davor, einen kausalen Zusammenhang zwischen Leukämieerkrankung in den Elbmarschen und dem Atomkraftwerk oder dem GKSS-Forschungszentrum zu sehen, solange es keine Beweise dafür gibt.

Deswegen gestatten Sie, Herr Kollege Matthiessen, mir eine weitere Bemerkung. Man kann nicht sagen, es sei zwingend davon auszugehen, dass die Häufung damit in Zusammenhang gebracht werden kann.

(Vereinzelter Beifall bei der CDU - Konrad Nabel [SPD]: Das hat er nicht gesagt!)

Die an Leukämie Erkrankten in Schleswig-Holstein und überall in der Welt haben ein Recht darauf, dass die Ursachen losgelöst von ideologischer Betrachtungsweise erforscht werden. Daran wollen wir uns als CDU mit der Landesregierung in Kooperation mit Niedersachsen und Hamburg sehr gern beteiligen.

(Starker Beifall bei der CDU)

(Ursula Sassen)

Ich danke der Frau Abgeordneten Ursula Sassen. Für die SPD-Fraktion hat nun der Herr Abgeordnete Olaf Schulze das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bericht des Ministeriums zeigt auf, dass die Häufung von Leukämieerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen in der Elbmarsch erschreckend hoch ist. 16 Leukämieerkrankungen in den letzten 16 Jahren bei Kindern unter 15 Jahren - das ist bedrückend.

Wir alle müssen mit Betroffenheit zur Kenntnis nehmen, dass die Erkrankungen weiter zunehmen und dass wir trotz einer Vielzahl von Untersuchungen nach wie vor keine Erklärung für die Ursachen haben.

Die Leukämierate in der Elbmarsch und in meiner Heimatstadt Geesthacht liegt bei Kindern unter 15 Jahren, statistisch gesehen, dreimal so hoch wie im Durchschnitt der Bundesrepublik. Dies ist wohl die höchste Rate weltweit.

Die Landesregierungen in Schleswig-Holstein und Niedersachsen haben sich in den letzten Jahren frühzeitig mit der Ursachenforschung befasst. Es gab wissenschaftliche Fachkommissionen in Schleswig-Holstein und in Niedersachsen. In Niedersachsen wurden vor allem die Umwelteinflüsse auf Luft und Boden, Trinkwasser, Nahrungsmittel und Elbsedimente untersucht.

Die schleswig-holsteinische Fachkommission befasste sich besonders mit Leukämieerkrankungen durch radioaktive Strahlungen. Verschiedene radiologische Untersuchungen, Tritiummessungen in Baumscheiben und epidemiologische Untersuchungen wurden durchgeführt. Das Ökoinstitut Darmstadt untersuchte auf unzulässige radioaktive Freisetzungen im Atomkraftwerk Krümmel sowie im Forschungszentrum der GKSS in Geesthacht.

Beide Untersuchungskommissionen haben in ihrem Abschlussbericht festgestellt, dass es keine beweisfesten Hinweise auf mögliche Ursachen der Leukämieerkrankungen gibt. Somit müsste von einer zufälligen Clusterbildung ausgegangen werden.

Meine Damen und Herren, wir sind verpflichtet, die Ängste der Bevölkerung in ihrem Lebens- und Wohnumfeld ernst zu nehmen. In der ZDF-Dokumentation „Und keiner weiß warum - Leukämietod in der Elbmarsch“, wird von einer Explosion berichtet, bei der „gesundheitsgefährdende Kügelchen“ freigesetzt worden sein sollen. Nicht alle in

der Dokumentation aufgeworfenen Fragen sind für mich abschließend beantwortet. Gerade die Frage, welchen Ursprung diese „Kügelchen“ haben könnten und wie sie untersucht werden sollten, müssen wir gemeinsam klären. Auch wenn wir die Ursachen bisher nicht zweifelsfrei gefunden haben, dürfen wir nichts unversucht lassen, weiter nach diesen Ursachen und ihren möglichen Gefahren zu forschen.

An reine Zufälle kann ich bei der ungewöhnlich hohen Zahl von Leukämieerkrankungen allerdings nicht glauben. Wenn über so einen langen Zeitraum eine so hohe Zahl von Leukämiefällen auftritt, muss man alle Möglichkeiten ausschöpfen, um die Ursachen zu finden.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb unterstütze ich ausdrücklich die Initiative des niedersächsischen Sozialausschusses, erneut eine neue Anhörung durchzuführen und auf die aktuelle Situation einzugehen. Es ist auch nur folgerichtig, dass auf unsere Initiative der Sozialausschuss im Schleswig-Holsteinischen Landtag beschlossen hat, sich an der Anhörung zu beteiligen. Wir wollen aber auch die Hamburger Bürgerschaft einladen, sich dort einzubringen.

Wir müssen in allen drei Bundesländern offen und transparent zusammenarbeiten, die Ergebnisse und Informationen austauschen und bewerten. Einen für die Menschen in den Elbmarschen gefühlten „Closed Shop“ dürfen wir nicht zulassen. Dafür brauchen wir in allen drei Bundesländern die Verpflichtung, alle Krebsfälle in einem Krebsregister zu melden. In Hamburg besteht diese Verpflichtung für Erkrankungen von Erwachsenen bislang noch nicht.

Meine Damen und Herren, Parlament, Regierung und die Bürgerinitiative müssen gemeinsam und ohne Scheuklappen zur Aufklärung beitragen und alles versuchen, um die Ursachen zu finden. Sich heute schon auf dem bekanntem Wissen auszuruhen und weitere Forschungen einzustellen, ist zu kurzsichtig. Wir suchen und forschen nur nach dem, was wir in unserem naturwissenschaftlich geprägten Weltbild kennen. Die Welt ist aber viel komplexer und größer als das, was wir momentan messen können. Dies gilt auch für die Situation in der Elbmarsch und im Raum Geesthacht.

(Beifall bei SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Ich danke dem Herrn Abgeordneten Olaf Schulze. Für die FDP-Fraktion hat nun der Herr Abgeordnete Dr. Heiner Garg das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir wissen, dass in Geesthacht und in der Elbmarsch in den Jahren 1990 bis 2006 16 Kinder unter 15 Jahren an Leukämie erkrankt sind. Und wir wissen, dass wir nicht wissen, welche Ursache diese Häufung von Leukämieerkrankungen hat.

Das ist die ebenso erschütternde wie ernüchternde Bilanz, die sich aus dem Bericht der Landesregierung zu Leukämiefällen im Raum Geesthacht/Elbmarsch ziehen lässt. Dies ist übrigens ein ausgesprochen sachlicher Bericht. Dafür bedanke ich mich auch im Namen meiner Fraktion bei Ihnen, Frau Ministerin, und bei Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die an der Erstellung dieses Berichts mitgewirkt haben.

(Beifall bei der FDP)

Nach dem vorletzten Satz der Kollegin Sassen will ich eines ausdrücklich sagen. Ich bedanke mich ausgesprochen auch für die Art und Weise, wie wir heute über diesen Bericht miteinander reden, für die Sachlichkeit. Das gilt insbesondere auch für den Kollegen Matthiessen, der, Frau Kollegin Sassen, den von Ihnen behaupteten Zusammenhang eben nicht vorgetragen, sondern darauf verzichtet hat, was ich bemerkenswert fand.

(Beifall bei der FDP sowie der Abgeordneten Günter Neugebauer [SPD] und Lars Harms [SSW])