Protokoll der Sitzung vom 11.12.2020

(Doris Fürstin von Sayn-Wittgenstein)

„Das ist eine Einladung zu einer Verfassungsbeschwerde.“

Ich stelle also fest: Rechtsstaatlichkeit ja, aber das gilt auch für die EU selber. - Danke schön.

(Beifall Claus Schaffer [AfD])

Das Wort für die Landesregierung hat der Minister für Justiz, Europa und Verbraucherschutz, Claus Christian Claussen.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Rechtsstaatlichkeit liegt mir aufgrund meiner Zuständigkeit für Justiz und Europa besonders am Herzen. Ich hatte deshalb den ersten Rechtsstaatsbericht der EU-Kommission mit Spannung erwartet. Ende September 2020 wurde der Bericht veröffentlich, und er enthält eine Bestandsaufnahme der jüngsten Entwicklungen in den Mitgliedstaaten, und zwar mit Blick auf die Unabhängigkeit der Gerichte, die Korruptionsbekämpfung sowie die Medienfreiheit und Medienvielfalt.

Auf der Grundlage dieses Berichtes wird es fortan regelmäßig Aussprachen im Rat geben - sowohl zur Lage der Rechtsstaatlichkeit der EU im Allgemeinen als auch zu den spezifischen Situationen in allen Mitgliedstaaten. Unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft wurde mit diesem Dialog bereits begonnen.

Ich selbst habe den neuen Bericht der EU-Kommission zum Anlass genommen, mit Vertretern aus Justiz, Wissenschaft und Zivilgesellschaft die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der EU zu erörtern. Für mich ist klar - das wurde auch bei unserer Diskussionsveranstaltung Ende Oktober in Kiel deutlich -: Die Zielsetzung des neuen Rechtsstaatsmechanismus ist richtig. Wir müssen in der EU den Dialog der Rechtsstaatlichkeit vertiefen.

Wir müssen ihn erstens darüber vertiefen, was Rechtsstaatlichkeit ausmacht; denn es ist offensichtlich so, dass dieser Grundwert unterschiedlich interpretiert wird, sei es aufgrund verschiedener Rechtstraditionen oder auch aus historischen Gründen.

Zweitens brauchen wir einen Austauscht darüber, welche Entwicklungen in den Mitgliedstaaten die Kernelemente von Rechtsstaatlichkeit berühren.

Eine gegenseitige Beschau unter allen 27 Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Rechtsstaatsberichts der EU-Kommission kann hierfür nur hilfreich sein; denn wir müssen mit Offenheit und Ehrlichkeit in diesen Dialogprozess eintreten. Das heißt, dass wir bei der Beurteilung weder nationale Maßstäbe anlegen noch einzelne Mitgliedstaaten eine Sonderbehandlung zukommen lassen dürfen und dass wir auch in Deutschland genau hinschauen müssen, wie es hierzulande um die Rechtsstaatlichkeit steht.

Ich bin deshalb zuversichtlich, dass die Aussprache im Rat zu den einzelnen Länderkapiteln des Berichts einen Erkenntnisgewinn für alle Mitgliedstaaten mit sich bringen wird und dass das neue Dialogformat die Chance bietet, voneinander zu lernen und Herausforderungen frühzeitig zu erkennen. Klar ist aber auch, der neue Rechtsstaatsmechanismus kann mit seinem präventiven Charakter lediglich eine Ergänzung der reaktiven Instrumente sein. Das heißt also, Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit müssen auch weiterhin mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verfolgt werden. Dazu gehört neben dem Vertragsverletzungsverfahren und dem Artikel-7-Verfahren eben auch, die Rechtsstaatskonditionalität und zukünftig die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien in den Mitgliedstaaten bei der Vergabe von EU-Mitteln berücksichtigen zu können.

Die Landesregierung hat sich stets für eine starke Rechtsstaatskonditionalität ausgesprochen. Ich habe deshalb den zunächst zwischen Rat und Europäischem Parlament erzielten Kompromiss für diesen Konditionalitätsmechanismus sehr begrüßt. Ich verhehle nicht, dass der gestern Abend vom Europäischen Rat erzielte Kompromiss, die Einigung mit Ungarn und Polen über die Anwendungshinweise zu diesem neuen Mechanismus, hinter dem zurückbleibt, was wir innerhalb der Landesregierung zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit als sinnvoll erachtet haben. Ich hätte mir einen weiteren Anwendungsbereich gewünscht, damit die Konditionalitätsregelung eben nicht nur Rechtsstaatsverstöße mit negativen Auswirkungen auf die finanziellen Interessen der EU erfasst. Aber auch der neue Konditionalitätsmechanismus ist noch nicht ganz in trockenen Tüchern. Einige EU-Parlamentarier, die dem Gesamtpaket aus künftigem mehrjährigen Finanzrahmen, Corona- Wiederaufbauprogrammen und Konditionalitätsmechanismus noch zustimmen müssen, haben bereits ihren Unmut über die gestern von den Staats- und Regierungschefs vereinbarten Anwendungshinweise zur Rechtsstaatskonditionalität kundgetan. Gleichwohl meine ich, dass hier ein erster Schritt besser ist als kein Schritt.

(Volker Schnurrbusch)

Meine Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen, die EU-Kommission hat mit ihrem ersten Rechtsstaatsbericht aufgezeigt, dass die Rechtsstaatlichkeit in der EU trotz zahlreicher positiver Entwicklungen zunehmend unter Druck gerät. Wir sollten deshalb jetzt gemeinsam alles daransetzen, den neuen Rechtsstaatsmechanismus mit Leben zu füllen. Hierbei darf es aus meiner Sicht jedoch nicht bleiben. Wir sollten zugleich den Blick nach vorne richten und die bevorstehende Konferenz zur Zukunft Europas dazu nutzen, um über Möglichkeiten zu diskutieren, wie sich die etablierten Sanktionsmechanismen, insbesondere das Artikel-7-Verfahren, effektiver gestalten lassen. Vertragsänderungen dürfen dabei kein Tabuthema sein. Die Landesregierung wird sich insoweit auch in diese Debatte aktiv einbringen.

Lassen Sie mich abschließend noch zwei Bemerkungen machen. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind zwei Seiten einer Medaille.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Die Medaille, die durch Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geprägt wird, ist die Freiheit.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Wenn wir in der Exekutive oder in der Legislative Situationen haben, in denen die Freiheit unter Druck kommt, dann ist es nicht nur in Polen und nicht nur in Ungarn, sondern in der ganzen EU und eigentlich auch weltweit die Aufgabe einer starken, unabhängigen und korruptionsfreien Justiz, diese Freiheit als letztes Bollwerk zu verteidigen. - Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall im ganzen Haus)

Der Minister hat die vereinbarte Redezeit um 1 Minute überschritten. Diese Zeit steht jetzt auch allen Fraktionen zu.

Wir kommen jetzt zu den Kurzbeiträgen. Gemeldet hat sich die fraktionslose Abgeordnete Doris von Sayn-Wittgenstein.

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte mich bei unserem Justizminister ausdrücklich für diese ausgewogene und sehr reflek

tierte Stellungnahme bedanken, die mir sehr gut gefallen hat.

(Zuruf Lars Harms [SSW])

Ich möchte aber die Gelegenheit aufgreifen und von Ungarn sprechen. Gerade wir Deutschen tun im Hinblick auf unsere jüngste Geschichte gut daran, uns daran zu erinnern, dass es Ungarn war, das in der Nacht vom 10. auf den 11. September 1989 seine Grenze öffnete, sodass Zehntausende Menschen aus der DDR in den Westen gelangen konnten. Ich zitiere - mit Erlaubnis der Präsidentin - aus der Meldung der Bundesregierung:

„Ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Fall des ‚Eisernen Vorhangs‘.“

Hierfür sollten wir Ungarn dankbar sein

(Zuruf: Sind wir auch!)

und seine damalige, auch für Ungarn nicht ungefährliche Geste nicht mit Erpressung und Intoleranz vergelten. - Vielen Dank.

Herr Minister Claussen hat sich noch einmal zu einem Wortbeitrag gemeldet.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte hier nicht missverstanden werden.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Ich bin nicht hier, um mich bei Frau Wittgenstein beliebt zu machen, sondern ich bin hier, um bestimmte Prinzipien zu vertreten, und ich glaube, das eine oder andere haben Sie eben nicht richtig verstanden.

(Beifall CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)

In Ihrer Rede ist deutlich geworden, dass Sie versuchen, Dinge von den Füßen auf den Kopf zu drehen. Wenn Sie darüber reden, dass Ungarn oder Polen erpresst werden, dann ist das doch absurd. Wir reden über einen Mechanismus, der Einstimmigkeit erfordert. Wie soll man da denn jemanden erpressen?

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Der Erpresser ist doch derjenige, der unter Ausnutzung seiner Position, dass er nämlich zustimmen

(Minister Claus Christian Claussen)

muss, weil es sonst nicht vorangeht, die anderen unter Druck setzt und gegebenenfalls erpresst.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Insofern habe ich ja noch Hoffnung, dass Sie meine Rede missverstanden haben. Wie gesagt, ich bin nicht hier, um mich bei Ihnen beliebt zu machen. Ich hoffe, dass Sie über die Dinge, die ich gerade gesagt habe, noch einmal nachdenken. - Vielen Dank.

(Beifall CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Das Wort hat nun der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Dr. Ralf Stegner.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, ich glaube, Sie sind im Haus ganz richtig verstanden worden, übrigens von den Regierungsfraktionen und von den Oppositionsfraktionen. Aber man stellt halt immer wieder fest: Wir verwenden die gleiche Sprache, wir meinen jedoch nicht dasselbe. Dazu gehört eben, dass Grundwerte, die bei uns grundsätzlich gelten, hier von Leuten im Munde geführt werden, die etwas ganz anderes damit meinen. In deren System gäbe es nämlich keine unabhängige Justiz, die frei von Einfluss durch Politik handeln würde.

Deswegen muss ich sagen, war ich Herrn Nobis eigentlich ganz dankbar für seine Rede beim ersten Tagesordnungspunkt; denn beides sind Dokumentationen dafür, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern immer wieder deutlich machen müssen, dass das Leute sind, die niemals Einfluss auf Politik gewinnen dürfen, nicht in diesem Haus und auch nicht in anderen Ländern, übrigens auch nicht mittelbar, wenn es irgendwie geht; denn das sind Leute, die ein grundsätzlich anderes Verständnis von unseren Grundwerten haben als wir selbst. Demokratie heißt, zu ertragen, dass Menschen auch abwegige Meinungen äußern dürfen. Aber wir sollten uns einig darüber sein, was wir mit unseren Grundwerten meinen, und die Unabhängigkeit der Justiz ist eben frei von Einfluss durch die Exekutive. Das ist eine der großen Errungenschaften unserer freiheitlichen Demokratie in Deutschland.

Es ist auch eine Bekundung davon, dass Europa nicht nur eine Wirtschafts-, Währungs- und Bankenunion, sondern auch eine Werteunion ist. Das ist

übrigens möglicherweise einer der großen Wettbewerbsvorteile der Europäischen Union gegenüber anderen Regionen der Welt. Deswegen müssen wir das unbedingt verteidigen und dürfen nicht zulassen, dass es erodiert. Ich finde, das haben Sie mit großer Klarheit hier dargestellt. Insofern sind Sie sehr gut verstanden worden, Herr Minister.

(Beifall SPD, CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Beratung.