Protokoll der Sitzung vom 20.06.2019

Das sollten wir nicht gegeneinander ausspielen. Es gehört zur Debatte, dass wir uns neben dem Instrument der Flächentarifverträge auch über die Zukunft des Sozialstaats insgesamt - dazu gehört gute Arbeit - weiter Gedanken machen müssen.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und CDU)

Dass wir in Schleswig-Holstein zu den Themen Flächentarifverträge und Tarifbindung nur schlechtere Zahlen vorweisen können als andere Bundesländer, hängt auch mit unserer Wirtschaftsstruktur zusammen. Wir haben gestern über die besondere Rolle von kleinen und mittleren Unternehmen in unserem Land gesprochen. Natürlich hat es Einfluss auf die Tarifbindung, dass wir hier nicht die großen Strukturen mit großen Unternehmen und entsprechend vielen Beschäftigten haben, sondern dass bei uns die kleinen und mittleren Unternehmen dominieren. Auch das sollten wir einbeziehen.

Ich bin der SPD für ihren Antrag dankbar. Auch wenn der Bundesrat dazu schon beschlossen hat, können wir hier noch sehr gut über diese Fragen sprechen. Von der Landesregierung erwarte ich eindeutig, dass sie nicht nur im Bundesrat richtige Beschlüsse mitträgt, sondern dass sie im Weiteren auch mit den Sozialpartnern und mit anderen über diese Fragen berät und sich weiter darum kümmert. Ich habe aber keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass das passieren wird.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und bitte Sie, unserem Antrag in der Sache zuzustimmen. Vielen Dank.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, CDU, FDP und SSW)

Für die FDP-Fraktion erteile ich das Wort dem Abgeordneten Kay Richert.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In den ersten 20 Artikeln des Grundgesetzes stehen die Bürger- und die Menschenrechte; diese bilden quasi die Wertegrundlage unserer freiheitlichen Gesellschaft. In diesen Artikeln lesen wir viele wichtige Punkte, ohne die wir uns unsere Gesellschaft eigentlich gar nicht mehr

vorstellen können: Freizügigkeit, Berufsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Bei all diesen Rechten geht das Grundgesetz davon aus, dass der Bürger selbst entscheiden kann - und soll! -, wo er wohnen, mit wem er sich treffen, was er sagen und wie er selig werden will.

Artikel 9 garantiert die Vereinigungsfreiheit. Jeder und jede Deutsche hat das Recht, mit anderen eine Gesellschaft oder eine Vereinigung zu gründen oder sich dagegen zu entscheiden. Der Staat darf hier nur unter ganz restriktiven Bedingungen mitmischen.

Eine besondere Form der Vereinigungsfreiheit ist zwei Absätze später geregelt; das ist die Tarifautonomie. Auch dazu heißt es ausdrücklich: Es soll „jedermann“ entscheiden. Oder anders: Der Staat soll seine Finger von der Tarifautonomie lassen!

Das Prinzip der Tarifautonomie hat Deutschland sehr gutgetan. Starke Gewerkschaften und Arbeitgeber konnten flexibel agieren, auf Besonderheiten reagieren und so das Beste für Unternehmen und Beschäftigte herausholen. Die Interessen beider Seiten wurden abgewogen. Keine Seite kam zu kurz. Niemand konnte überhand gewinnen. Große Ungerechtigkeiten konnten so einfach nicht stattfinden. Die Tarifautonomie war einer der Motoren des Wirtschaftswunders - eben weil alle ihren Anteil am Erfolg hatten - und ist auch über die Jahre hinweg für den großen Erfolg unserer Unternehmen wichtig geblieben.

(Beifall Stephan Holowaty [FDP])

Damit dieses gute System funktioniert, sind starke Gewerkschaften erforderlich. Da haben Sie ja einen richtigen Punkt: Seit den 1990er-Jahren ist die Bindung an Gewerkschaften kontinuierlich zurückgegangen.

Ich unterstütze Ihren Gedanken, die Arbeits- und Wirtschaftskoalition zu stärken; aber ich bezweifle, dass Ihr Weg der Richtige ist.

Es gibt anerkanntermaßen zwei Parameter, um die Relevanz tariflicher Bindung zu erhöhen. Zum einen ist es die Stärkung des Tarifvertrags als Institut. Das könnte zum Beispiel erreicht werden durch die Senkung der Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen oder die Möglichkeit, branchenspezifische Standards zu bestimmen und verbindlich zu machen. Das unterstützen Sie mit Ihrem Antrag. Genau das ist aber 2014 mit dem Gesetz zur Stärkung der Tarifautono

(Rasmus Andresen)

mie und durch die Änderung des Tarifvertragsgesetzes schon passiert. Konnten Sie feststellen, dass sich seitdem signifikant etwas in Ihre Richtung bewegt hat? - Ihre Antwort darauf kann doch eigentlich nur Nein sein. Angesichts dessen frage ich mich, warum Sie glauben, dass eine Wiederholung der Fehler von 2014 jetzt irgendwelche Verbesserungen bringen werde.

Die zweite Möglichkeit ist: Die Tarifpartner müssen wieder mehr Mitglieder gewinnen. Sie müssen wieder Relevanz, das heißt eine relevante Größe erreichen. In meinen Augen kann nur das der Schlüssel sein. Denn Tarifverträge müssen doch auch legitimiert sein. Legitimiert werden sie dadurch, dass sie von allen, zumindest von der Mehrzahl der Vertragspartner geschlossen werden oder, anders ausgedrückt, dass sie von Verbänden geschlossen werden, die die Mehrzahl der Arbeitnehmer als Mitglieder vertreten.

(Beifall FDP - Zuruf Wolfgang Baasch [SPD])

Die Gewerkschaften, Herr Baasch, müssen sich fragen, warum sie denn für die Arbeitnehmer nicht mehr attraktiv sind. Warum sind denn Männer mehr organisiert und Frauen weniger? Warum sind Ältere mehr organisiert und Jüngere weniger? Warum organisieren sich die Teilzeitbeschäftigten nicht? Warum glauben die Arbeitnehmer, dass die Gewerkschaften ihre Probleme nicht lösen? Diese Hausaufgaben können wir den Gewerkschaften nicht abnehmen. Ich finde es ebenfalls nicht richtig, die schwindende Legitimation aufgrund schwindender Mitgliederzahlen durch Verstaatlichung des Tarifgeschehens zu kompensieren.

(Beifall FDP)

Die Koalitionsfreiheit - auch im Bereich der Tarifautonomie! - funktioniert in beide Richtungen: Man darf sich entscheiden, sich zu organisieren. Man darf sich aber auch entscheiden, sich nicht zu organisieren. Die Entscheidung vieler Arbeitnehmer, sich keiner Gewerkschaft anzuschließen, darf nicht durch staatlichen Druck ausgehebelt werden. Die Arbeitnehmer müssen einen Sinn darin sehen, den Gewerkschaften beizutreten; dann funktioniert das wieder.

(Beifall FDP)

Was ist mit dem Bereich des anderen Sozialpartners, der Arbeitgeber? Arbeitgeber können sich „o. T.“ stellen, das heißt, sie können Mitglied eines Arbeitgeberverbands werden und trotzdem die Anwendung der Tarifverträge dieses Verbands aus

schließen. Man kann sicherlich darüber streiten, ob das Sinn der Tarifpartnerschaft ist.

Ansonsten gilt heute wie vor 100 Jahren: Der Organisationsgrad der Arbeitgeber folgt dem der Arbeitnehmer. Mit anderen Worten: Starke Gewerkschaften erzeugen zwangsläufig mehr Mitglieder in den Arbeitgeberverbänden. Das war bei Stinnes/Legien so, und das ist heute nicht anders.

Sie sehen: Auch wir sind der Überzeugung, dass starke Gewerkschaften Grundlage einer funktionieren Tarifautonomie sind. Wir helfen gern dabei, diese Relevanz wiederherzustellen. Abnehmen können wir den Gewerkschaften das aber nicht.

Der Beschluss 212/19 des Bundesrates schlägt die Betrachtung mehrerer Handlungsansätze vor, um eine Stärkung der tariflichen Ordnung unter Wahrung der grundgesetzlich geschützten Tarifautonomie zu erreichen. Unter anderem sind dies die Verbesserung der Rahmenbedingungen des Verfahrens zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen und die Sicherung der Datenlage in Bezug auf die sogenannte überwiegende Bedeutung eines Tarifvertrags. Wir von der FDP unterstützen die Zielsetzung dieses Beschlusses ebenso wie das Ziel, die Tarifautonomie zu stärken. Im Detail bin ich sehr auf die Ergebnisse dieser Untersuchung gespannt.

Herr Baasch - auch Herr Hölck, Sie sind ja Mitantragsteller -, in Ihrer Begründung beziehen Sie sich auf aktuelle Studien der Hans-Böckler-Stiftung. Ich nehme an, dass Sie damit den Aufsatz von Martin Franzen aus dem Jahr 2018 meinen. Er machte ziemlich revolutionäre - oder sagen wir: ambivalente - steuerrechtliche Vorschläge, sagte aber auch sehr deutlich: Die Tarifautonomie ist eine staatsferne Veranstaltung und lebt von der Selbsthilfe der Betroffenen.

Herr Abgeordneter, bitte kommen Sie zum Ende.

Genauso ist es, und genauso soll es bleiben. - Vielen Dank.

(Beifall FDP)

Das Wort für die AfD-Fraktion hat Herr Abgeordneter Volker Schnurrbusch.

(Kay Richert)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Gäste! Wenn wir uns die Entschließung des Bundesrates, über die wir heute debattieren, einmal ansehen, dann finden wir darin jede Menge Symbolpolitik und Absichtserklärungen. Hier wird ein Idealbild der Sozialpartnerschaft gezeichnet, dem das - angebliche - Problem einer abnehmenden Tarifbindung gegenübersteht. Daraus leitet der Bundesrat einen Prüfungsauftrag ab, um Stellschrauben zur Stärkung der Sozial- und Tarifpartnerschaft zu entwickeln. So weit, so unverbindlich.

Was hat die Entschließung des Bundesrates vom 7. Juni 2019 konkret inhaltlich zu bieten? Wir meinen: nicht viel. Die Bundesregierung soll zunächst eine Strategie zur Stärkung der tariflichen Ordnung erarbeiten und diese dann unter Einbeziehung der Sozialpartner bewerten, damit daraus später Vorschläge an den Gesetzgeber entstehen. Wir sehen: Es ist eine sehr allgemeine Entschließung, die die Bundesregierung im Grunde zu nichts verpflichtet.

Wie sollen aus Allgemeinplätzen konkrete Gesetzesinitiativen entstehen? Worin liegt der politische Nutzen, wenn der Landtag heute seinerseits, wie es in dem SPD-Antrag heißt, eine Strategie zur Stärkung der tariflichen Ordnung beschließt?

Diese Defizite werden auch nicht dadurch kompensiert, dass die SPD in ihrem Antrag fordert, die gesetzlichen Bedingungen der Allgemeinverbindlicherklärung weiterzuentwickeln. Ja, die Möglichkeit, Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären zu lassen, wie es in § 5 des Tarifvertragsgesetzes vorgesehen ist, hat an Bedeutung verloren; das stimmt. Aber ist das ein Problem? Wir meinen nein.

In der Bundesratsdebatte am 7. Juni 2019 wurde darauf hingewiesen, dass seit Inkrafttreten der Änderung des Tarifvertragsgesetzes nur noch Folgeanträge vorkommen, nicht aber neue Anträge. In Branchen, in denen sie früher regelmäßig beantragt wurde, zum Beispiel im Einzelhandel, hat die Allgemeinverbindlicherklärung heute kaum noch Bedeutung.

Der frühere Verfassungsrichter Udo Di Fabio ist vor Kurzem in einem Gutachten zu dem Schluss gekommen, dass es gegen die Erstreckung von Tarifvertragsnormen in der Pflege verfassungsrechtliche Bedenken gebe. Di Fabio - immerhin ein juristisches Schwergewicht - sieht eine Verletzung der Artikel 9, 12 und 20 des Grundgesetzes, in denen unter anderem die Vereinigungsfreiheit - wir haben

es gerade gehört - und die Berufsfreiheit geregelt sind.

Vor diesem Hintergrund mutet es geradezu abenteuerlich an, wenn Bundesarbeitsminister Heil damit droht, die Tarifautonomie aufzuheben, wenn er den Tarifvertrag in der Pflege per Rechtsverordnung für allgemeinverbindlich erklären will, sofern sich die Tarifpartner nicht einig sind. Das wäre ein Angriff auf die Tarifautonomie, die wir ja alle schätzen.

Gerade das Prinzip der Tarifautonomie hat der deutschen Wirtschaft zu Stärke und Arbeitsfrieden verholfen. In einer Zeit, in der sich die Arbeitswelt durch Digitalisierung und Flexibilisierung in einem grundlegenden Umbruch befindet, reicht es nicht aus, die Bedeutung der Tarifbindung zu beschwören und die Allgemeinverbindlichkeitserklärung zu erleichtern.

Die tarifliche Ordnung wird nicht durch allgemeine Absichtserklärungen gestärkt, sondern durch individuelle Lösungen zwischen Tarifpartnern. Deshalb lehnen wir den Antrag der SPD-Fraktion ab.

Doch der heute hastig nachgeschobene Alternativantrag von Jamaika wiederholt im Prinzip nur das, was im Bundesrat schon beschlossen worden ist. Er ergeht sich in Unverbindlichkeiten. Alternative Anträge sehen anders aus. Gegen eine Bestandsaufnahme, die in der Begründung genannt wird, spricht natürlich nichts. Insofern können wir diesem Antrag zustimmen. - Danke.

(Beifall AfD)

Für die Abgeordneten des SSW hat der Vorsitzende Lars Harms das Wort.

Vielen Dank, Frau Präsidentin! - Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir müssen feststellen, dass die Tarifbindung in Deutschland immer weiter abnimmt. Im Schnitt liegt die Tarifbindung jetzt schon unter 50 %. Nun schlägt das Bundesland Nordrhein-Westfalen vor, dass dieser Zustand über die Allgemeinverbindlichkeitserklärung verbessert werden soll. Denn eines kann man wohl sagen: Es liegt sowohl im Interesse der Arbeitnehmer als auch im Interesse der Arbeitgeber und erst recht im Interesse der Allgemeinheit, dass auf dem Arbeitsmarkt sichere Verhältnisse gegeben sind. Allerdings verhalten sich die Arbeitgeber nicht immer so. Deshalb sind die Bindungen über eine Allge

meinverbindlichkeitserklärung ebenfalls in den letzten Jahren gesunken und liegen derzeit bei rund 2 %.

Die Gewerkschaften haben schon lange ein Interesse daran, auch die Unternehmen an Tarifverträge zu binden, die derzeit noch außerhalb dieser Regelungen sind. Trotzdem sind die Arbeitgeber oft nicht bereit, diesen Schritt mitzugehen. Zu vielfältig scheint die Interessenlage im Arbeitgeberlager zu sein. Da gibt es die, die sich durch einen Tarifvertrag sichere und planbare Verhältnisse erhoffen und die natürlich auch eine gewisse Verantwortung gegenüber ihren Mitarbeitern verspüren. Dann sind da die, die immer noch versuchen, den Lohn so gering wie möglich zu halten, um auch hieraus Profit schlagen zu können. Dieses Dilemma werden die Arbeitgeberverbände nicht auflösen können, und deshalb ist der Gesetzgeber gefragt.