Protokoll der Sitzung vom 27.08.2020

Dabei ist das Problem durchaus auch hausgemacht, denn bis auf den heutigen Tag existiert keine allgemeine, wissenschaftlich anerkannte Definition, was Inklusion eigentlich genau ist. Ich spreche auch deswegen meist lieber von gemeinsamem Unterricht oder von Integration, aber sei es drum. Damit verbunden ist der Umstand, dass man sich offensichtlich auch hier im Haus und wohl auch bei der Jamaika-Koalition gar nicht einig ist, wo man eigentlich genau hinwill, was das Ziel der Reise ist. Von links-grün können die schillernden Begriffe Leitbild, Grundhaltung, Weiterentwicklung der Inklusion ja nur heißen: Abschaffung der Förderschule und konsequenterweise auch des Gymnasiums mit dem Ziel einer Einheitsschule. Andere eiern herum, sie wollen nichts Falsches sagen.

(Ministerin Karin Prien)

Für uns steht fest: Den größtmöglichen Bildungserfolg für alle Kinder bietet ein differenziertes Schulsystem mit Förderschule und Gymnasium. Dass dabei der Stellenwert des gemeinsamen Unterrichtes in keiner Weise angetastet wird, versteht sich wohl von selbst; allerdings nicht um jeden Preis, denn Qualitätseinbußen darf es weder bei der Wissensvermittlung geben noch bei der behinderungsspezifischen Förderung. Dies wäre nämlich auch nicht im Sinn der KMK oder im Geiste der Behindertenrechtskonvention.

Wie steht es jetzt eigentlich um die Qualität der sonderpädagogischen Förderung? Ist sie an Regelschulen etwa genauso hoch wie an Förderzentren? Und falls nein: In welchen Bereichen lässt sie sich nicht oder nur eingeschränkt realisieren? Und wie könnte man das ändern?

Um das herauszufinden, habe ich eine Große Anfrage gestellt. Ich war mir durchaus bewusst, dass das viel Arbeit verursacht. Frau Prien, ich bitte Sie, meinen herzlichen an Ihre Mitarbeiter im Ministerium mitzunehmen.

Bei meinen Fragen habe ich mich an den sogenannten „Standards sonderpädagogischen Förderbedarfs“ orientiert. Man kann diese durchaus als Qualitätsstandards bezeichnen, die - ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis - „nicht zu unterschreitende Qualitätsniveaus … schulischer Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit … Förderbedarfen“ beschreiben, so der Verband Sonderpädagogik VDS, bei dem ich selbst viele Jahre Mitglied war.

Auf Deutsch gesagt heißt das: Überall, wo behinderte Kinder unterrichtet werden, sollten diese Standards gelten, egal ob im Förderzentrum, am Gymnasium oder in der Gemeinschaftsschule. Beispiele für solche Standards beziehen sich etwa darauf, ob Differenzierungs- und Therapieräume vorhanden sind, ob Wände und Decken schallabsorbierend gedämmt sind, ob Visualisierungsmöglichkeiten vorhanden sind oder auch ganz schlicht, ob rollstuhlgerechte Sanitäreinrichtungen vorhanden sind.

Aber auch andere, nicht materielle Aspekte lassen sich erfassen, zum Beispiel, ob behindertenspezifisch unterrichtet wird, wie häufig Elterngespräche stattfinden, ob Kontakte zu Mitschülern, die eine ähnliche Behinderung haben, möglich sind, und, und, und.

Gerade bei den Fragen nach den äußeren Rahmenbedingungen, also zum Beispiel die nach der Ausgestaltung von Differenzierungsräumen, habe ich mir durchaus mehr Informationen erhofft. In der Antwort macht die Landesregierung es sich ein we

nig einfach, indem sie einfach sagt, dass entweder die Schulträger darüber Bescheid wüssten, wie diese Vorgaben umgesetzt sind, oder dass in den Standards keine Einzelheiten festgelegt seien. - Das stimmt, Einzelheiten nicht. Aber man hätte durchaus ganz pragmatisch einmal exemplarisch an die Sache herangehen und untersuchen können: Wie sieht es genau an unseren Schulen aus?

Ähnliches gilt auch für die Fragen, die sich etwa auf die Gestaltung des Unterrichts beziehen. Natürlich ist so etwas schwer zu fassen und zu vergleichen, aber die Antwort der Landesregierung, dass diese Aspekte im Lehrplan Sonderpädagogik formuliert sind, führt dann wirklich nicht weiter. Da liegen sie gut, und wie es in der Praxis aussieht, ist eine ganz andere Frage. Darum sollte es doch gerade gehen, zu wissen, in welchem Maße behindertenspezifische Unterrichtsmethoden im Schulalltag zum Einsatz kommen. Ist das durchgehend der Fall, nur manchmal der Fall oder nur stundenweise oder gar nicht?

Nehmen wir zum Beispiel einmal ein Kind mit einer Lernbehinderung. Für das kommt es ganz entscheidend darauf an, ob fachspezifische Prinzipien wie etwa Handlungsorientierung, die Anknüpfung an die Lebenswirklichkeit des Kindes, einfache und begleitende Sprache, genügend lange Pausen und unmittelbare Rückmeldungen des Lernerfolgs zum Einsatz kommen oder nicht. An solchen Kriterien bemisst sich für das Kind die Qualität des Unterrichts, und Sie können sich vorstellen, dass auch andere integrativ beschulte Kinder - etwa mit einer Hör- oder Sehschädigung, Autismus, Verhaltensauffälligkeiten, Sprachbehinderung - ebenfalls solche Ansprüche stellen. Die Erfüllung dieser Ansprüche ist eben die Grundvoraussetzung dafür, dass es zu einem erfolgreichen Lernen in der Integration kommen kann.

Ich glaube, ich habe die Intention meiner Großen Anfrage verdeutlichen können. Es geht darum, Eltern in Zukunft genauer und detaillierter beraten zu können, was vor Ort geleistet werden kann und was vielleicht nicht geleistet werden kann, damit das Kind schulisch und sozial integriert wird. Es geht darum, alle Beteiligten zu sensibilisieren, vor allen Dingen auch die Regelschullehrkräfte. Natürlich sind zunächst einmal Annahme und Wertschätzung Grundvoraussetzungen. Das heißt aber nicht, dass die weitergehende Professionalisierung zweitrangig wäre. Es geht summa summarum auch darum, die Qualität von gemeinsamem Unterricht zu verbessern, detaillierter zu beschreiben, sodass wir wegkommen vom gefühlten Wissen.

(Dr. Frank Brodehl)

Dazu gehört allerdings auch zu realisieren, dass es eben nicht nur Herausforderungen, sondern auch Grenzen des gemeinsamen Unterrichts gibt. Ich weiß, dass einige damit Probleme haben, schon mit dieser Aussage. Aber solch ein Denken zeigt uns nur, dass hier wohl der Ideologie mehr Wert beigemessen wird als den tatsächlichen Bedürfnissen. Wäre es anders, würde eben nicht immer direkt die Frage kommen: Wo wird denn das Kind beschult? Es muss doch die Regelschule sein! - Wichtig wäre die Frage: Was ist für dieses Kind das Wichtigste? Und wenn diese Frage eben nicht nur rhetorisch im Mittelpunkt steht, dann wird man konsequenterweise auch genauer hinsehen, wenn es darum geht, wie und wo diesen Bedürfnissen, diesen Bedarfen, entsprochen werden kann.

Ich bin davon überzeugt, dass die zugegebenermaßen theoretisch anmutenden sonderpädagogischen Standards in der Zukunft einen festeren Stellenwert in der Praxis haben werden als bisher. Sie ermöglichen nämlich sowohl im konkreten Einzelfall als auch beim Thema Inklusion insgesamt eine realistische Beschreibung der Ausgangslage. Sie ermöglichen gezielte Maßnahmenplanungen, und sie beschreiben konkrete Zielsetzungen. Das kann nur heißen oder sollte heißen: höchstmögliches behinderungsspezifisches Förderniveau und gleichzeitig höchstmögliches Allgemeinbildungsniveau für alle Schüler, für jeden Schüler.

Lassen Sie uns im Bildungsausschuss weiter über diese Große Anfrage sprechen, denn wir müssen doch wissen, wo wir hinsollen: Wohin soll die Reise gehen? Wie soll Inklusion in fünf oder in zehn Jahren realisiert werden? - Selbst, wenn wir uns nicht morgen oder übermorgen dann direkt auf ein Ziel verständigen können, ist eines klar: Inklusion braucht Professionalität. - Vielen Dank.

(Beifall AfD)

Das Wort für die CDU-Fraktion hat die Abgeordnete Anette Röttger.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Bildung hat oberste Priorität.

Nun ist da der achtjährige Junge. Er hat eine schwere Beeinträchtigung, weil seine Mutter in der Schwangerschaft Drogen genommen hat. Er lebt in einer Pflegefamilie. Eine Regelschule kommt für ihn nicht infrage.

Da ist das kluge und fröhliche Mädchen. Sie hat eine schwere und seltene Erkrankung. Sie besucht ein Förderzentrum.

In beiden Fällen sind es starke Eltern, die sich ein ganzes Team für die tägliche Begleitung und Umsorgung ihrer Kinder aufgestellt haben. Da sind diejenigen, die mit ganz individuellen Beeinträchtigungen - sei es beim Lesen, beim Schreiben, beim Rechnen oder im sozial-emotionalen Miteinander in die Regelklassen integriert und inklusiv beschult werden. Das sind hier bei uns immerhin 70 % aller Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen.

Ich denke an das kleine, schüchterne Mädchen. Sie ist gerade eingeschult worden. Sie berichtet von einem Kind in ihrer Klasse, das im Unterricht regelmäßig massiv stört.

Da ist die kompetente Sozialpädagogin, die sich ganz bewusst für diesen Beruf entschieden hat. Sie erzählt von ihrem Arbeitsalltag und kommt zu folgendem Ergebnis: Keine Beeinträchtigung ist wie die andere, jeder Einzelfall muss individuell betrachtet werden. - Sie versteht sich als Teil eines multiprofessionellen Teams. Sie wünscht sich mehr Prävention und mehr Diagnostik, ein vertrautes Team und ein ganz beständiges Umfeld für die Kinder sowie eine gute räumliche Ausstattung.

Und jetzt kommen wir:

„Inklusive Bildung bleibt weiter ein wichtiges Ziel der Landespolitik. … Wir werden uns … auf den qualitativen Ausbau der Inklusion konzentrieren.“

So steht es im Koalitionsvertrag, und das setzen wir um.

Bereits im Januar hat die Landesregierung einen sehr umfangreichen und differenzierten Bericht zur Inklusion im schulischen Bildungsbereich vorgelegt und den Prozess der stetigen qualitativen Weiterentwicklung der Inklusion hin zu landesweiten Qualitätsstandards klar benannt. Das ist gut so.

Im Kern geht es um Antworten auf diese Fragen: Wie muss Schule heute aufgestellt sein, damit sie jedem einzelnen Schüler und jeder einzelnen Schülerin gerecht wird? Was hilft den Kindern und Jugendlichen am besten?

Um es ganz deutlich zu sagen: Es erfüllt mich mit großer Dankbarkeit und wertschätzender Anerkennung, dass wir hier bei uns im Land so viele verschiedene Förderangebote haben - die Förderzentren und die Inklusion an der Regelschule.

(Dr. Frank Brodehl)

Wir verfügen über fachlich hochqualifizierte und gut vernetzte Akteure, die in multiprofessionellen Teams arbeiten, um den individuellen Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf passgenau gerecht zu werden und die Eltern zu unterstützen. Das war nicht immer so, und es ist nicht selbstverständlich.

Es ist gelungen, für einen erheblichen Stellenaufwuchs mit jährlich 70 weiteren Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen zu sorgen, die in den Arbeitsfeldern Prävention, Inklusion und am Förderzentrum arbeiten. Diese Stellen sind auch besetzt.

Kindheit und Familienstrukturen haben sich in den letzten Jahren sehr verändert. Die Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf hat sich gerade im Bereich emotionale und soziale Entwicklung deutlich erhöht. Die zusätzlichen Kräfte werden vor Ort dringend gebraucht. Es ist wichtig, dass ein frühes Kennenlernen und eine frühzeitige Diagnostik durch eine kooperative Zusammenarbeit von Kitas und Grundschulen ein frühes Handeln ermöglichen.

Eine ganze Reihe messbarer Qualitätskriterien sind auf den Weg gebracht oder stehen kurz vor der Umsetzung: die Doppelbesetzung in den I-Klassen, die Sprachstandserhebung, eine Feststellungsdiagnostik in Diagnosezentren oder temporäre intensivpädagogische Maßnahmen bis hin zum Landesförderzentrum Autismus.

Inklusion im schulischen Bildungsbereich ist eine Querschnittsaufgabe, ein langfristiger Prozess und untrennbarer Bestandteil schulischer Bildung und beruflicher Orientierung.

Bildung hat oberste Priorität. Unsere Kinder brauchen so viel gemeinsame Beschulung wie möglich und so viel individuelle Unterstützung wie nötig. Vielen Dank.

(Beifall CDU, FDP und Lasse Petersdotter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das Wort für die SPD-Fraktion hat der Abgeordnete Martin Habersaat.

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In unserer Landesverfassung heißt es in Artikel 18:

„Die parlamentarische Opposition ist ein wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen

Demokratie. Die Opposition hat die Aufgabe, Regierungsprogramm und Regierungsentscheidungen zu kritisieren und zu kontrollieren.“

(Tobias Koch [CDU]: Das ist die Rede von gestern!)

„Sie steht den die Regierung tragenden Abgeordneten und Fraktionen als Alternative gegenüber. Insofern hat sie das Recht auf politische Chancengleichheit.“

- Warum lese ich das vor, Herr Koch? Ich lese das vor, weil die Ministerin hier vorgetragen hat, mit den regierungstragenden Fraktionen die Landesverordnung zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Förderbedarf noch erörtern zu wollen. Das ist das Gegenteil von ausgestreckter Hand!

(Beifall SPD)

Die Große Anfrage der AfD-Fraktion hat die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarfen an Grundschulen, Gemeinschaftsschulen und Förderzentren zum Inhalt. Sie vergleicht das interessanterweise mit Empfehlungen, die der Verband Sonderpädagogik im Jahr 2007 aufgestellt hat. 2007 war Horst Köhler noch Bundespräsident und Sigmar Gabriel noch Bundesumweltminister.

(Katja Rathje-Hoffmann [CDU]: Das waren noch Zeiten!)

Seitdem hat sich einiges geändert.

(Tobias Koch [CDU]: Zum Besseren!)