Protokoll der Sitzung vom 19.11.2020

Selbstverständlich.

Herr Kollege Kalinka, die Vorstellung, dass man einen Mindestlohn braucht, geht ja davon aus, dass in Tarifvereinbarungen nicht das erreicht werden kann, was unser Anspruch sein muss, nämlich der, dass man von seiner Arbeit leben können muss. Deswegen ist das Wort „Mindestlohn“ eigentlich dafür gedacht, zu sagen, das muss die Untergrenze sein, damit das bewältigt werden kann.

Ich glaube, das, was Sie mit der Steuerpflichtigkeit der Renten angesprochen haben, wird nicht das Problem sein, weil die Steuerpflicht ohnehin erst ab dieser Größenordnung stattfinden wird. Das eigentliche Problem liegt eher darin, dass der Anspruch sein muss, dass man von seiner Arbeit leben können muss. Das ist das A und das O nichtstaatlicher Hilfen. Soweit wir das nicht über Flächentarifverträge erreichen, muss das eben über den staatlich garantierten Mindestlohn geschehen.

Das ist, nebenbei bemerkt, auch die Philosophie für die Mindestrente. Es ist schwer genug, diese durchzusetzen. Aber auch da ging es darum, dass das bei denjenigen, die jahrzehntelang zu niedrigen Löhnen gearbeitet haben, zu einem gewissen Teil so kompensiert wird, dass es nicht zu Armut kommt. Das ist jedenfalls die Philosophie, von der wir ausgehen. Ich glaube, es ist noch viel Arbeit notwendig, bis wir dort landen.

(Beifall SPD)

- Herr Kollege Dr. Stegner, ich glaube, dass wir in der Grundphilosophie zu der Frage, dass man seine Familie und sich vom Mindestlohn ernähren können muss, überhaupt keinen Gegensatz haben. Das war schon meine Meinung vor zwölf oder 13 Jahren. Diese Meinung bleibt bis heute unverändert.

Wir müssen uns aber ganz realistisch die Frage stellen, ob dieser finanzielle Anspruch den Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Gesellschaft entsprechen kann. Mittlerweile haben wir auch viele Familien und Arbeitnehmer, die mit einem Euro oder 50 Cent über der Grenze liegen und deren Probleme nicht minder, sondern vielleicht noch größer werden. Daher müssen wir über diese Frage nachdenken. Das wollte ich mit meinem Beitrag versuchen zu sagen. Wir müssen überlegen, ob die Abstände noch zueinander passen, ob man das schaffen kann. Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir bei den Abgaben nicht einen Nachsteuerungsbedarf haben.

Wir beschließen hier so viele Sachen und überlegen gar nicht, welche Auswirkungen das auf die Nebenkosten bei den Mieten hat. Das ist der Punkt, der das Leben immer teurer macht. Ich könnte noch so viele Dinge dazu sagen.

Zur Frage der Steuerfreiheit: Schauen Sie sich doch einmal die Steuertabellen an, ab wann welche Steuerpflicht beziehungsweise welcher Steuersatz greift. Da ist man doch erstaunt.

(Beifall CDU)

Herr Abgeordneter Kalinka, gestatten Sie eine weitere Bemerkung des Abgeordneten Dr. Stegner?

Ich nehme Sie beim Wort, Herr Kollege Kalinka. Wenn das stimmt, was Sie gesagt haben, dann war aber Ihr Anfangssatz zu dem Antrag des SSW, finde ich, nicht ganz nachvollziehbar. Der SSWAntrag geht in der Tat davon aus, dass bei aller verabredeter Systematik vermutlich ein ordentlicher Schritt getan werden muss, zu dem es beim letzten Mal nicht reichte. Sie erinnern sich, es war schwer genug, den Mindestlohn durchzusetzen, weil die Wirtschaft der Auffassung war, es käme nun der Untergang des Abendlandes, die Jobs gingen verloren. - Das Gegenteil war richtig, wie wir gemerkt haben.

Die Logik des SSW-Antrages ist aber, dass wir eine kräftigere Erhöhung des Mindestlohnes brauchen, bevor wir in diese Systematik zurückkehren können, um genau das zu bewerkstelligen, was Sie gesagt haben.

(Werner Kalinka)

- Herr Kollege Dr. Stegner, die Logik des SSW-Antrages ist zu sagen, wir können Armut verhindern, besonders in 30, 40 Jahren, indem wir mit einem etwas höheren Mindestlohn das Fallen in die Grundsicherung nicht nur ausschließen können, sondern eine stabile Rentenerwartung haben. Dazu möchte ich Ihnen sagen: Das glaube ich nicht. Ganz deutlich, ganz klar. Das ist die Logik des SSW-Antrages.

(Beifall Kay Richert [FDP])

Deswegen hatte ich ja gesagt, dass das sicherlich gut gemeint ist, aber bei einem Abgleich mit der Wirkung ist das mit Sicherheit viel zu optimistisch gegriffen.

Herr Dr. Stegner, Sie können mich übrigens gern beim Wort nehmen, da haben wir eine Gemeinsamkeit, damit habe ich kein Problem.

Ich schlage aber vor, dass wir diesen Antrag in den Ausschuss überweisen. Da besteht dann die Möglichkeit, darüber zu debattieren. Wir haben auch noch Themen wie Zukunftslabor und anderes zu beraten, sodass wir uns grundsätzlich über diese Fragen Gedanken machen sollten. Insoweit ist es vielleicht eine gute Möglichkeit, im Ausschuss weiter darüber zu sprechen.

Aber das ändert nichts an meinem Fazit: Mit einem Mindestlohn macht sich niemand für die Zukunft armutsfest. Alles andere ist für mich eine Illusion, die Wirklichkeit sieht anders aus.

(Beifall CDU, FDP und Burkhard Peters [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das Wort für die SPD-Fraktion hat der Abgeordnete Wolfgang Baasch.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Einführung des Mindestlohns im Jahre 2015 wurde die Einkommenssituation von vielen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland deutlich verbessert. Der Mindestlohn hat zu einem wirksamen Anstieg der Löhne im Niedriglohnsektor geführt, und die negativen wirtschaftlichen Konsequenzen für Wachstum und Beschäftigung, die so viele beschrieben haben, sind ausgeblieben. Gleichwohl arbeiten viele Menschen immer noch in prekären Arbeitsverhältnissen, und der derzeitige Mindestlohn in Höhe von 9,35 € ist nicht ausreichend.

(Beifall SPD und SSW)

Viele dieser Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeiten übrigens in systemrelevanten, aber schlecht bezahlten Berufen. Darum ist der Einsatz für einen armutsfesten und sozial gerechten Mindestlohn nach wie vor notwendig.

(Zuruf SPD: Sehr gut!)

Ein erhöhter Mindestlohn muss das Armutsrisiko wirksam bekämpfen. Ein erhöhter Mindestlohn muss aber auch eine reale Chance bieten, ein Rentenniveau zu erreichen, mit dem auch Altersarmut entgegengewirkt werden kann.

(Beifall SPD und SSW)

Ein höherer Mindestlohn verringert den Niedriglohnsektor, und ein höherer Mindestlohn stärkt die gesellschaftliche Teilhabe von Millionen Menschen. Ein gestärkter Mindestlohn fördert die Konsumnachfrage spürbar und trägt wesentlich zum Wirtschaftswachstum bei. Diese Argumente zeigen deutlich: Ein höherer Mindestlohn ist ökonomisch und sozial richtig.

(Beifall SPD und SSW)

Das zeigt sich übrigens auch jetzt in der Pandemie. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, zum Beispiel aus dem Gastronomiebereich, sind in Kurzarbeit und beklagen, dass ihr Kurzarbeitergeld nicht zum Leben reicht. Das liegt daran, dass ihr Grundgehalt sehr niedrig ist. Hier wäre ein höherer Mindestlohn und eine stärkere Tarifbindung wichtig. Das sind zentrale Bausteine für mehr soziale Gerechtigkeit.

(Beifall SPD und SSW)

Dass die Pandemie auch armutsverschärfend wirkt, können wir anhand der Studien, die derzeit aufgestellt werden, sehen. Zum Beispiel wird nachgewiesen, dass in den Einkommensgruppen bis zu 900 € netto etwa 50 % der Beschäftigten Einkommenseinbußen haben, während in dem Einkommensbereich ab 4.800 € netto nur 27 % der Menschen Einkommenseinbußen haben. Das macht deutlich: Auch die Armutssituation wird durch die Pandemie verstärkt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Gesellschaft lebt von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität. Wir müssen aber feststellen, dass die Schere zwischen Arm und Reich unerträglich weit geöffnet ist. Diese Kluft zwischen Arm und Reich muss wieder kleiner werden. Dazu bedarf es einer deutlichen Erhöhung des Mindestlohns, um damit den Niedriglohnsektor wirksam zu begrenzen. Es wäre aber auch notwendig, die Regelsätze bei Hartz IV deutlich zu erhöhen.

(Werner Kalinka)

Aber machen wir uns nichts vor. Wer Armut bekämpfen will, braucht genauso eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes, er braucht eine Erbschaftsteuer, und er braucht auch eine erkennbare und wirksame Vermögensteuer. Das ist alles nichts Neues.

(Beifall SPD und vereinzelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dies alles würde aber wirken, um die soziale Schieflage in unserer Gesellschaft wieder mehr ins Gleichgewicht zu bringen. Ein fairer Mindestlohn und ein deutliches Aufstocken von Hartz IV wären schon ein deutliches Zeichen der Solidarität in unserer Gesellschaft.

Die Mindestlohnkommission hat im Sommer eine Erhöhung des Mindestlohns auf 10,45 € im Jahr 2022 beschlossen. Aber reicht das aus? Warum sollten wir nicht den Mindestlohn auf 13 € anheben, wie es der SSW fordert? Warum nicht die Regelsätze bei Hartz IV einfach um 50 % erhöhen, damit der Niedriglohnsektor noch unattraktiver wird und noch mehr Menschen wenigstens die Chance auf eine einigermaßen vernünftige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben haben?

(Beifall SPD)

Gerade in der Pandemie dürfen die Menschen in prekären Lebensverhältnissen nicht allein gelassen werden. Eine soziale Gesellschaft, unsere Gesellschaft, ist zur Solidarität verpflichtet.

Auch die Europäische Kommission beschäftigt sich mit dem Thema. Sie schlägt eine Richtlinie für angemessene Mindestlöhne in der EU vor. Darin steht, ich zitiere:

„In den Ländern mit gesetzlichen Mindestlöhnen soll die vorgeschlagene Richtlinie sicherstellen, dass die Mitgliedstaaten die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die gesetzlichen Mindestlöhne in angemessener Höhe festgelegt werden...“

Vielleicht bringt das auch neuen Schwung in unsere Debatte. - Den SSW-Antrag unterstützen wir vorbehaltlos.

(Beifall SPD und SSW)

Das Wort für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat der Abgeordnete Joschka Knuth.

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Dieser Antrag spricht mir als Grü

nem von der Zielsetzung her natürlich zu einem guten Stück aus dem Herzen.

(Vereinzelter Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Lars Harms [SSW]: Schau mal her, so weit sind wir schon!)

Der gesetzliche Mindestlohn ist ein Erfolgsprojekt. Er beträgt seit Anfang 2020 9,35 € und wird bis Mitte 2022 auf 10,45 € erhöht werden. Das ist Beschluss der Mindestlohnkommission. Diese Erhöhung begrüßen wir selbstverständlich. Nur ist das leider immer noch wenig Lohn, um einen wirklichen Beitrag zu einer gerechteren gesellschaftlichen Teilhabe und zum Schutz vor Armut zu leisten.