Die Fraktionen sprechen in der Reihenfolge FDP, CDU, PDS, SPD, NPD, GRÜNE und die Staatsregierung. Der Einreicher, Herr Herbst, bitte für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als wir die Entscheidung über die Aufweichung der Bildungsempfehlung durch den Kultusminister gehört haben, waren wir einigermaßen überrascht. Ich glaube, wir waren nicht die Einzigen, die überrascht waren.
Wir haben in der Folge einmal versucht, die Ursachen dafür herauszufinden. Das war sehr interessant. Die CDU sagte: Das liegt an der SPD. Die SPD sagte: Das liegt nicht an uns, das ist eine Entscheidung des Kultusministers. – Einer schob dem anderen den schwarzen Peter zu.
Das Ergebnis der veränderten Bildungsempfehlung müssen wir jedoch zur Kenntnis nehmen, und zwar haben wir eine gewaltige Umlenkung von den Mittelschulen zu den Gymnasien. Das gibt selbst die Regierungskoalition in ihrem eiligst zusammengezimmerten Änderungsantrag zu. 7 % mehr Schüler als normal haben sich für das Gymnasium entschieden. Was ist die Konsequenz?
Der Druck auf die Mittelschulstandorte wächst. Viele Mittelschulen, die gedacht haben, die Mindestschülerzahlen zu erfüllen, rutschen auf einmal darunter. Was passiert noch?
Die Bildungsspitzen werden den Mittelschulen genommen. Das heißt, diese gehen an das Gymnasium, verfehlen unter Umständen die Bildungsstandards und kehren dann später wieder zurück. Diese Bildungsempfehlung, meine Damen und Herren, hat nicht zu einer besseren und präziseren Empfehlungsgrundlage für die weitere Schullaufbahn der Schüler geführt. Sie hat das Gegenteil bewirkt. Sie ist unpräziser geworden und damit fehlerhaft.
Das Mittelschulsystem ist quantitativ immer noch die wesentliche Säule unseres Schulsystems. Ich glaube, wir sind uns hier in der Runde einig, dass wir dies erhalten wollen. Das Problem ist aus unserer Sicht aber nicht nur die Aufweichung des Standards, sondern das generelle Verfahren. Zwei Noten in der 4. Klasse geben im Kern den wesentlichen Ausschlag für die Gestaltung des weiteren Bildungsweges.
Herr Herbst, nehmen Sie zur Kenntnis, dass der Einstieg in die Gemeinschaftsschule bedeuten würde, dass wir das mehrgliedrige Schulsystem aufgeben und dass es hier im Parlament Fraktionen gibt, die dieses sehr wohl befürworten?
Ich nehme gern zur Kenntnis, dass es verschiedene Wege zum Ziel gibt. Das hat auch die FDP mehrmals ausgeführt. Ich kann mir verschiedene Modelle vorstellen. Aber wenn wir jetzt diese Debatte aktuell führen, müssen wir auf das aktuelle Schulsystem eingehen. Das ist gegliedert, wie es derzeit ist. Deshalb, sage ich, müssen wir uns auch mit den Realitäten auseinander setzen und nicht mit dem, was wir uns wünschen.
Meine Damen und Herren, Sie werden sagen: Okay, die Bildungsempfehlung ist noch nicht die endgültige Festlegung. Es gibt ja die Möglichkeit, zwischen den Schulformen zu wechseln. Das ist theoretisch korrekt. Doch wie sieht es in der Praxis aus? Wenn wir uns die Zahlen anschauen, wird zumindest von Mittelschulen an Gymnasien zu wechseln in der Praxis kaum wahrgenommen.
Wir schlagen stattdessen ein neues System vor, auch aufgrund der Erfahrungen anderer Bundesländer, ein abgestuftes System, das zunächst die Aufweichung wieder zurücknimmt und klar sagt: Es muss Leistung als Maßstab für eine gymnasiale Empfehlung gelten; Leistung allerdings auf einer verbreiterten Basis.
Wir wollen darüber hinaus eine Möglichkeit schaffen, dass auch durch einen Aufnahmetest ein Schüler, der vielleicht durch einen unglücklichen Umstand knapp an dem Schnitt vorbei gerutscht ist, noch die Chance hat, den Weg zum Gymnasium zu finden. Wir wollen ganz gern, dass die Staatsregierung einmal Bericht erstattet, wie es denn wäre, wenn erst zu einem späteren Zeitpunkt eine Bildungsempfehlung erfolgt, ob diese Bildungsempfehlung dann treffsicherer wäre.
Ich habe auch gesehen, dass heute die Koalition eilig, hektisch nachgezogen hat. Ich freue mich zumindest, dass wir dazu beigetragen haben, dass sich die Koalition bewegt und wir diesen Fehler am Ende korrigieren können.
Nur, gestatten Sie mir noch eine Bemerkung: Wenn ich die Begründung im Koalitionsantrag lese, dass mit dem Blick auf den FDP-Antrag von einem Schnellschuss gesprochen wird, meine Damen und Herren: Was war denn das, was der Kultusminister gemacht hat? War das eine wohl überlegte, lang ausgereifte Strategie? Ich glaube, das war das Gegenteil. Wir sollten es gemeinsam korrigieren.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Herbst, ich hätte vieles von dem, was Sie gesagt haben, problemlos unterschreiben, mittragen können. In einem gebe ich Ihnen allerdings nicht Recht, nämlich dem Schlusssatz, dass wir jetzt keinen neuen Schnellschuss starten sollten. Ich denke, wir tun gut daran, einem Schnellschuss keinen zweiten folgen zu lassen. Meine Damen und Herren! Das gegliederte Schulsystem bietet die Möglichkeit, Schülerinnen und Schülern ein ihrem Leistungsvermögen entsprechendes schulisches Angebot zu vermitteln. Gerade deshalb, Frau GüntherSchmidt, wird auch mit der Einrichtung von Gemeinschaftsschulen das gegliederte Schulsystem in Sachsen ganz bestimmt nicht aufgegeben werden.
Eine entscheidende Schnittstelle ist dabei sicherlich der Übergang von der Grundschule zur Mittelschule bzw. zum Gymnasium, wenngleich man allerdings die Übergangsmöglichkeiten auch in weitere Schularten nicht vernachlässigen darf. Diese Übergangsmöglichkeiten sind bekanntermaßen durch unser Schulgesetz geregelt.
Nun wurde in diesem Jahr – es ist ja schon angesprochen worden – das Verfahren zur Erteilung der Bildungsempfehlung geändert. Auch wenn im Nachgang dafür keiner so richtig die politische Verantwortung übernehmen wollte, bezieht sich diese Änderung auf die Festlegung im Koalitionsvertrag, wonach beim Übergang an das Gymnasium letztlich der Elternwille zu akzeptieren ist.
Nun will ich weniger auf die mögliche Interpretation dieser Festlegung eingehen als viel mehr auf die Wirkung, die das neue Verfahren erzeugt hat. Ich denke – da kann ich mich dem anschließen, was Herr Herbst schon hier ausgeführt hat –, man muss kritisch feststellen, dass es zu einem ungewollt stärkeren Zulauf auf das Gymnasium gekommen ist. Dabei ist dieser quantitative Aufwuchs noch nicht einmal das Hauptproblem. Das Problem ergibt sich vielmehr aus der Tatsache, dass es zur Lockerung des Leistungsniveaus am Gymnasium
Sowohl für die Mittelschule als auch für das Gymnasium kann daraus ein Konfliktpotenzial erwachsen. Mittelschulen verlieren damit eine Schülerklientel, die ein gutes Leistungsniveau besitzt. Es ist nahe liegend, wenn sich das fortsetzt, dass die Mittelschule dann zur Restschule degradiert wird. Gleichzeitig wäre am Gymnasium eine Absenkung der Leistungsanforderungen notwendig, um dem Leistungsvermögen aller Schüler auf Dauer gerecht zu werden. Insofern kann es, meine Damen und Herren, nicht bei der aktuell gültigen Vorgabe bleiben. Vernünftige Alternativen sind wünschenswert und notwendig.
Sicher nicht im Sinne eines Schnellschusses, Herr Kollege Herbst, sondern wir haben Zeit, die Novellierung dieser Bildungsempfehlung vorzunehmen. Zumal für das kommende Schuljahr keine Neuregelung mehr möglich ist, wenn wir nicht im Nachgang ein totales Chaos konstruieren wollen.
Das dem vorliegenden Antrag zugrunde liegende Modell orientiert sich ja in besonderer Weise an Bayern. Nahezu einheitlich ist allerdings im Ländervergleich festzustellen, dass es nie der alleinige Elternwille ist, der den Übergang an die weiterführenden Schularten steuert. Vielmehr erfolgen, wenn man sich die Ländervergleiche in diesem Zusammenhang einmal anschaut, auch eine pädagogische Bewertung des Lern- und Arbeitsverhaltens sowie eine Einschätzung der bisherigen Entwicklung der Schülerinnen und Schüler am Ende der 4. bzw. der 6. Klasse. Die in die Bewertung einfließenden Notendurchschnitte und die zu berücksichtigenden Fächer differieren, wenn auch die Kernfächer Mathematik, Deutsch und die Fremdsprache die stärkste Beachtung erfahren.
Ich denke, wir tun gut daran, Erfahrungen, die mit unterschiedlichen Verfahren anderswo gesammelt worden sind, aufzugreifen. Grundsätzliche Fähigkeiten, Leistungen und Neigungen ebenso in die Bewertung einzubringen wie den Wunsch der Erziehungsberechtigten ist wohl grundsätzlich möglich und auch notwendig in einer modifizierten Bildungsempfehlung.
Um diesem Verfahren gerecht zu werden, ist, wie gesagt, eine tiefgründige Analyse anderswo gesammelter Erfahrungen durchaus sinnvoll, zumal über diesen Weg am ehesten ein qualifiziertes Verfahren entwickelt werden kann, das neue Aspekte aufgreift und auch die stärkere Berücksichtigung des Elternwillen einerseits und das notwendige Leistungsniveau andererseits beachtet.
In diesem Sinne stellen wir unseren Änderungsantrag, der die Intentionen des vorliegenden Antrages aufgreift, aber im Sinne des gerade Dargelegten ein Stück weit modifiziert.
das Anliegen der FDP-Fraktion. Die Situation, die wir derzeit mit den Zugangskriterien für das Gymnasium haben, ist unbefriedigend. Die Entscheidung des Kultusministers vom Februar 2005, die Zugangskriterien für das Gymnasium zu verändern, war vorschnell und überstürzt. Ich denke, das haben wir partei- und bereits fraktionsübergreifend festgestellt.
Eine Verordnung ändern, ohne Bedingungen und Voraussetzungen zu schaffen und ohne Konzepte zu entwickeln – damit, lieber Herr Flath, lassen Sie die Lehrerinnen und Lehrer wieder allein. Selbst wenn es eine Veränderung der Zugangskriterien für das Gymnasium für das übernächste Jahr geben sollte, haben wir jetzt die Kinder für das kommende Schuljahr mit dem Notendurchschnitt von 2,5 nun einmal auf dem Gymnasium. Ich erwarte heute, Herr Flath, dass Sie uns sagen können, wie Sie mit diesem Umstand für diese Kinder im kommenden Jahr umgehen; denn ich denke, dazu gehören Konzepte, auch wenn Sie diese Entscheidung möglicherweise vorschnell getroffen haben.
Die Gründe, die Herr Herbst hier noch einmal versuchte darzustellen, würden uns auch interessieren, Herr Minister, und wie Sie zu dieser Entscheidung gekommen sind. Wir wissen, dass das sehr, sehr schnell gegangen ist. An den Grundschulen hatten die Kollegen zum Teil bereits die Bildungsempfehlungen fertig geschrieben und mussten sie neu schreiben. – Also das würde mich wirklich sehr interessieren.
Nun allerdings zu Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP. Ein wenig erstaunt und erschrocken war ich schon. Ich habe mich gefragt: Wo sind denn eigentlich Ihre liberalen Werte und Ziele geblieben; denn mit diesem Antrag haben Sie alle Ihre liberalen Werte und Ziele über Bord geworfen. Eine längere gemeinsame Schulzeit entspricht den Grundsätzen der Selbstbestimmung. Der Schwerpunkt für uns als PDS liegt eindeutig auf einem längeren gemeinsamen Lernen, denn Selbstbestimmung ist ein entscheidender und wesentlicher Grundsatz, den wir nicht vernachlässigen dürfen.
Auch in der Koalitionsvereinbarung wird im Schulbereich immer wieder darauf Bezug genommen, und darüber bin ich sehr froh gewesen. Schülerinnen und Schüler sind in der 8. Klasse sehr wohl in der Lage, gemeinsam mit ihren Eltern ihren Bildungsweg verantwortungsbewusst zu entscheiden; Schülerinnen und Schüler in der 4. Klasse sind dazu selbstverständlich überhaupt noch nicht in der Lage.
Wir in der PDS-Fraktion sind auch dafür, eine höhere Abiturquote zu erhalten, aber nicht mit der Entscheidung in der 4. Klasse.
Ich kann es Ihnen nicht ersparen, noch auf einige Punkte in Ihrem Antrag einzugehen. Den Notendurchschnitt möchten Sie wieder dabei haben: Deutsch, Mathe, Sachkunde, Fremdsprache. – Fremdsprache: Wir haben in diesem Schuljahr die Fremdsprache in Klasse 3 eingeführt. Wir werden im nächsten Jahr in der 4. Klasse zum ersten Mal die Fremdsprache zensieren. Wir sind in der PDS-Fraktion grundsätzlich der Auffassung, dass in der Grundschule eine Zensierung der Fremdsprache über
haupt nicht erfolgen sollte; denn wir wollen ja gerade die Freude und die Lust an dieser Fremdsprache erhöhen, und dies kann man – jedenfalls sehe ich das so – nicht zwingend mit Noten erreichen. Dann aber auch gleich noch diese Note im Halbjahr der 4. Klasse – denn da werden die Bildungsempfehlungen geschrieben – mit zu verwenden, um die Zugangskriterien oder den Durchschnitt zu ermitteln, dies halten wir für viel zu früh.
Tests, logisches Denkvermögen, Arbeitstechniken, Sprach- und Leseverständnis, Fähigkeit zum selbstständigen Lernen: Wollen wir im Halbjahr der 4. Klasse – das sind Kinder zwischen neun und elf Jahren – schon fertige Menschen haben? Ich hoffe nicht, dass Sie es so gemeint haben. Weder mit einem Test noch mit einem Notendurchschnitt wird es uns gelingen, in der 4. Klasse eine für die Kinder richtige Entscheidung für ihre weitere Entwicklung zu treffen.
Solange – und jetzt komme ich zu Ihren Ausführungen, Herr Herbst; Sie haben ja Recht –, solange wir dieses gliedrige System in Sachsen haben, so lange müssen wir schauen: Wie gehen wir damit um, und welche Möglichkeiten gibt es? Ich hoffe übrigens, dass es uns gemeinsam gelingt, in dieser Legislaturperiode das längere gemeinsame Lernen zumindest in Ansätzen über die Gemeinschaftsschulen in Sachsen wirklich umzusetzen und nicht nur darüber zu reden. Ich denke, dass wir dabei auch parteiübergreifend und fraktionsübergreifend wirken sollten, müssen und auch können.
Ich habe gehört und gelesen, dass andere Bundesländer in diesem Punkt bereits wesentlich weiter sind als wir. In Schleswig-Holstein wird begonnen, längeres gemeinsames Lernen umzusetzen, in Mecklenburg-Vorpommern im übernächsten Schuljahr auch. Ich habe sogar gehört, dass selbst die Bayern sich inzwischen Wissenschaftler ins Ministerium geholt haben, um über das längere gemeinsame Lernen zu beraten. Ich würde mir wünschen, dass unser Ministerium dies auch durchführt; denn von namhaften Wissenschaftlern im Freistaat habe ich darüber noch nichts gehört.