Protokoll der Sitzung vom 27.05.2016

Insofern kann ich festhalten, dass sich die Türkei im Moment von der Wertegemeinschaft der Europäischen Union entfernt und deshalb jegliche Debatte um einen EU-Beitritt aus unserer Sicht eigentlich gestoppt werden müsste, weil das das Signal wäre, was zumindest Erdoğan in Ankara verstehen würde, wenn sie wirklich vorhaben, in die Europäische Union überhaupt noch ansatzweise reinzukommen, müssen sie auch die Wertmaßstäbe der Europäischen Union respektieren und in ihrem eigenen Land umsetzen. Daran krankt es. Aber die Frage der Visafreiheit darf nicht zur Verhandlungsmasse in dieser Debatte gemacht werden. Menschenrechte gelten immer und überall universal.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den LINKEN und des Abg. Valentin Lippmann, GRÜNE)

Die SPD-Fraktion; Frau Abg. Kliese, bitte.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wenn es nicht zwingend hierher gehört: Die Lage der Menschenrechte in der Türkei ist sehr, sehr ernst. Erdoğan nutzt seine Macht, um Freiheitsrechte massiv einzuschränken, und die Türkei erhält damit zunehmend Merkmale und Züge einer autoritären Diktatur. Merkmale dafür sind die eingeschränkte Pressefreiheit und die Unterdrückung von Minderheiten.

Die Tragik der Visaproblematik oder der Visadiskussion besteht nun aus meiner Sicht aber weniger darin, dass die Türkei diese Visafreiheit für die EU nicht erlangen sollte, sondern die Tragik besteht in dem Zeitpunkt, zu dem wir darüber diskutieren müssen. Denn ausgerechnet jetzt wird darüber verhandelt, wo die Bundesrepublik ihre Position leider auch aufgrund einer verfehlten Flüchtlingspolitik der Bundesregierung massiv geschwächt hat. Es gab ein jahrelanges Ringen um wichtige menschenrechtliche Positionen mit dem Lockmittel Visa. Dieses Ringen hat sich jetzt mehr oder weniger erledigt; denn heute verfängt dieses Druckmittel nicht mehr. Deutschland hat seine eigene Verhandlungsposition geschwächt, und durch die defensive Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik um den Preis, dass wir weniger Flüchtlinge aufnehmen müssen, hat sie sich selbst ihres wichtigen Druckmittels beraubt. Das ist eine sehr missliche Situation, die oftmals den Eindruck erweckt, dass Angela Merkel vor Erdoğan nun den Kotau machen muss. Das ist eine unglückliche Ausgangssituation zur Verhandlung über die Visaproblematik.

Aus meiner Sicht ist nicht die Visafreiheit das Problem, sondern der Zeitpunkt der Diskussion. Sie ziehen daraus

den Schluss, dass die Visafreiheit für die Türkei nicht gelten sollte. Ich ziehe daraus den Schluss, dass die Visafreiheit für die Türkei gerade jetzt gelten sollte.

(Dr. Frauke Petry, AfD: Natürlich!)

Sie haben selbst angesprochen, Frau Dr. Petry, dass es Vorzüge der Visafreiheit gibt. Das haben Sie in einem Nebensatz erwähnt. Mir sind diese wesentlich mehr als einen Nebensatz wert. Ich möchte drei wichtige Punkte ausführen, weshalb Visafreiheit für Deutschland und die Türkei wichtig ist.

Der erste Punkt, wahrscheinlich für die meisten hier im Saal der wichtigste, ist die Wirtschaft. Die AfD hat sich bisher immer als Anwalt der Wirtschaft zu profilieren versucht, auch des Mittelstandes. Da sind Sie nicht konsequent in Ihrer Argumentation; denn die türkische Wirtschaft ist für Sachsen nicht unbedeutend.

(Uwe Wurlitzer, AfD: Ach so!)

Die Geschäftsleute würden durch eine Visapflicht belastet. Die Firma Spekon in Seifhennersdorf zum Beispiel, falls Sie diese Firma kennen, ist ein türkisches Familienunternehmen der Familie Yegin, das 80 bis 100 Arbeitsplätze schafft. Inzwischen wird diese Firma von einer modernen jungen Frau geführt, die das Unternehmen von ihrem Vater übernommen hat und die Firmenchefin geworden ist. Die sorgen dort für Arbeitsplätze, und für sie ist die Visafreiheit in ihrer täglichen Arbeit unerlässlich.

(Beifall bei der SPD)

Das zweite Beispiel ist der kulturelle Austausch. Künstlerinnen und Künstler verfügen oftmals nicht über ein regelmäßiges Einkommen, das es ihnen ermöglicht, die Visafreiheit zu erlangen. Das Istanbul-Projekt der Leipziger Oper beispielsweise ist eine Kooperation zwischen Kindern aus Istanbul und Leipzig, die gemeinsam ein Instrument erlernen. Finanziert wird das größtenteils von Mäzenen aus der Türkei und nicht aus Deutschland, die es ermöglichen, dass Kinder aus sozial schwachen Familien aus Istanbul und Leipzig gemeinsam an der Leipziger Oper musizieren und sich näherkommen können. Ein solches Projekt wäre mit einer Visapflicht nicht mehr möglich.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ja, bitte.

Mich würde interessieren, wie das türkische Unternehmen auf diese Größe anwachsen konnte, obwohl es diese Visafreiheit bisher nicht gibt. Warum wird diese Visafreiheit jetzt so zwingend von diesem Unternehmen benötigt?

Ich bezog mich jetzt auf die Visafreiheit der Bundesrepublik Deutschland; die gibt es ja.

(Dr. Frauke Petry, AfD: Nö, nö!)

Ihr Antrag bezieht sich auf den Schengenraum.

(Dr. Frauke Petry, AfD: Was? Nein!)

Dann müssten Sie mir noch einmal Ihre Intention erklären. Ich weiß nicht, ob es in diesem Rahmen möglich ist.

(Carsten Hütter, AfD: Das machen wir in der zweiten Runde!)

Dann machen wir das in der zweiten Runde.

(Dr. Frauke Petry, AfD: Das war peinlich!)

Ich sprach von der Schülerpatenschaft. Als weiteres Beispiel möchte ich das Oberland-Gymnasium Seifhennersdorf anführen, was auch regelmäßig einen Austausch zwischen türkischen und deutschen Schülern veranstaltet. Das sind Beispiele dafür, wie wichtig der Austausch zwischen diesen beiden Ländern ist.

Ein drittes und sehr wichtiges Beispiel sind die Aktivisten von Menschenrechtsorganisationen. Für diese ist es oftmals sehr schwierig, Visa zu erlangen, weil auch ihnen in einigen Fällen ein regelmäßiges Einkommen fehlt. Diese sind bei uns aber im Moment gerade besonders gefragt. In der prekären menschenrechtlichen Situation, die wir in der Türkei im Moment haben, ist es besonders wichtig, dass die Aktivisten von NGOs einreisen und den Austausch nach Europa haben können.

Wie bereits gesagt: Freies Reisen bedeutet freien Austausch, und das stärkt die türkische Zivilgesellschaft. Das Fazit ist: Die Visafreiheit nutzt der Kultur, der Bildung und der Wirtschaft. Der Austausch hilft, und er hilft auch vor der Angst gegen das Fremde und vor der Angst vor dem Fremden.

Dass Sie nicht unbedingt daran interessiert sind, diese Ängste abzubauen, wissen wir. Wo Menschen nicht über den Tellerrand blicken können, dort verfängt Ihre Strategie. Für diesen Wunsch müssen Sie sich aber nicht hinter Menschenrechten verstecken. Denn dass Sie die Hüterin der Menschenrechte sein wollen, ist spätestens seit Ihrem Wunsch nach dem Schießbefehl hinfällig.

(Dr. Frauke Petry, AfD: Schade!)

Tatsächlich ist die Lage der Menschenrechte in der Türkei prekär, das sehen wir. Und wir sehen die Situation der Minderheiten und der Presse sehr problematisch.

Bitte zum Ende kommen.

Auch wenn dieses Thema heute absolut nicht in den Landtag gehört, freue ich mich, dass ich trotzdem einmal in diesem Rahmen die Möglichkeit bekomme zu sagen: Es lebe die deutsch-türkische Freundschaft, und es lebe die dazugehörige Visafreiheit.

(Beifall bei der SPD)

Frau Abg. Maicher, Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bitte.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Auch meine Fraktion hat sich gefragt, was diese Debatte heute hier im Landtag zu suchen hat, die die Rechte des Parlaments auf die Tagesordnung gesetzt hat.

(Uwe Wurlitzer, AfD: Die Rechte – oh!)

Frau Petry, es ist deutlich geworden: Sie suchen jede Bühne, um sich für den Bundestagswahlkampf schon einmal warm zu reden.

(Dr. Frauke Petry, AfD: Brauchen wir gar nicht!)

Sie wissen ganz genau, dass der Sächsische Landtag nicht für Fragen der Visapolitik zuständig ist. Sie wissen das sehr genau. Gerade Sie, Frau Petry, betreten das Plenum nicht, um über Schulpolitik, Naturschutz, Kulturförderung im Land oder Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum zu sprechen. Die demokratischen Fraktionen beraten in teils schwierigen, mühevollen Verhandlungen, in Anhörungen mit Expertinnen und Experten, um Lösungen zu finden, die den Sachsen zugute kommen. Diesen Mühen setzen gerade Sie, Frau Petry, sich nicht aus. Statt dessen kommen Sie hier mit solchen Debatten. Das ist billig.

(Dr. Frauke Petry, AfD: Das ist lächerlich! – Beifall bei den GRÜNEN und vereinzelt bei den LINKEN)

Das Wesentliche zum Inhalt stelle ich jetzt voran: Ja, die Einführung der EU-Visafreiheit für türkische Staatsangehörige ist längst überfällig. Sie war die letzten Jahre ein wichtiges Ziel für die Menschen in der Türkei, und sie ist deswegen auch jetzt in dieser Situation nicht falsch.

(Uwe Wurlitzer, AfD: Doch!)

Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger reisen jährlich in die Türkei ohne Formular, ohne Bearbeitungsgebühr, ohne Wartezeit, allein mit ihrem Personalausweis. Wir Deutsche reisen besonders gern dorthin und machen auch besonders gern Geschäfte mit der Türkei. Gleichzeitig erlegen wir seit Jahrzehnten Tausenden Familienangehörigen, Studierenden, Geschäftsreisenden und Kulturschaffenden aus der Türkei diese Hürden auf. Das war kein partnerschaftlicher Umgang in den letzten Jahren. Aber geradezu fatal ist es, dass die Visafreiheit zuletzt zusammen mit der Rückführung von Geflüchteten in die Türkei ausgedealt wurde.

(Uwe Wurlitzer, AfD: Nö!)

Wie wenig wurde vor allem – das ist fatal – zum Umgang mit Flüchtlingen in der Türkei verhandelt? Was wurde denn verhandelt darüber, wie mit Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention umgegangen wird? Was wurde denn dazu gesagt, dass auf syrische Flüchtlinge und dabei auch auf Kinder geschossen wird? Was wird zu den von Erdoğan veranlassten Abschiebungen nach Syrien und in den Irak gesagt? Wer solche Deals macht, ist auch genau dafür mit verantwortlich.

(Uwe Wurlitzer, AfD: Das haben wir aber nicht gemacht!)

Ja, die Visafreiheit für Türkinnen und Türken ist wichtig, aber ich sage auch: Es müssen alle Kriterien dafür erfüllt werden. Es ist aber ein Versäumnis der letzten Jahre, als die Türkei vor einer anderen Entwicklungsmöglichkeit stand. Dass man dort nicht weitergekommen ist und dies ignoriert hat, ist bedauerlich.

Es ist aber auch bedauernswert, weil mit einer solchen Vermischung unterschiedlicher Sachverhalte Populisten, wie sie dort sitzen, das Feld bereitet wird. Ähnlich schmutzig wie beim jüngsten Deal geht es bei der AfD zu.

(Lachen der Abg. Dr. Frauke Petry, AfD)