Ich bitte Sie, gut zuzuhören. Ein Drittel der zivilen Opfer sind Kinder, in Zahlen: 923 tote und 2 859 verletzte Kinder. Diese Zahlen sind ein Höchststand, seitdem die Hilfsmission der UNO UNAMA in Afghanistan anwesend ist und seit 2009 dokumentiert. Fachleute gehen zudem von einer hohen Dunkelziffer aus, weil es in Afghanistan immer noch Regionen gibt, in denen weder Geburts- noch Todesurkunden ausgestellt werden. Für rund 23 % – und das ist auch wichtig – der zivilen Opfer sind regierungstreue Kräfte, für 60 % bewaffnete Gruppen wie die Taliban verantwortlich. Frauen und Mädchen müssen gezielte Gewalt auch durch diese bewaffneten Gruppen erdulden, Menschenrechtler, Journalisten und Journalistinnen werden in ihrer wichtigen Arbeit bedroht und behindert. Ein weiteres brennendes Thema sind die Binnenvertriebenen und die erzwungenen Rückkehrer und Rückkehrerinnen, die das Land in einen Kollaps zu führen drohen.
Dazu und auch um den europäischen und den deutschen Hochmut ein wenig zu trüben, sei noch einmal auf den Gesamtkontext hingewiesen. Im Jahr 2016 lebten circa 2,6 Millionen afghanische Geflüchtete in circa 70 Ländern der Welt, etwa 95 % – und ich wiederhole es noch einmal –, 95 % davon in Pakistan und im Iran. In Deutschland wurden im vergangenen Jahr 127 000 Asylanträge von Afghanen und Afghaninnen gestellt. Das sind nicht einmal 5 % der insgesamt aus Afghanistan geflohenen Menschen. Auch laut UNHCR, um die Berichtslage abzuschließen, hat sich die Lage in dem Land innerhalb des letzten Jahres akut verschlechtert. Das ganze Land, sagt UNHCR, wird als Krisenregion angesehen. Die innerstaatlichen Konflikte zwischen IS, Taliban und anderen regionalen Clans haben sich ausgebreitet. Die Regierung verliert an Stabilität.
Obwohl die Bundesregierung den Bericht des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen UNHCR im Dezember angefordert hat, jucken die Bundesregierung die Erkenntnisse, die darin stehen, nicht. Das ist hochgradig absurd, spiegelt aber sehr gut die asylpolitische Linie der Großen Koalition wider, wie wir sie zum Beispiel auch in der Diskussion um die Einstufung als sichere Herkunftsstaaten, die in der Debatte um Afghanistan auch eine Rolle spielt, vorfinden. Nicht mehr die reale Situation in den Ländern, sondern die Zahl der hierher flüchtenden Menschen und politisches Kalkül – das möchte ich ganz deutlich sagen – in Wahlkampfzeiten scheinen inzwischen das Haupthandlungsmotiv der politisch Verantwortlichen zu sein. Wir befinden uns quasi in einem Überbietungs
Trotz der immer weiter eskalierenden Situation in dem von jahrzehntelangen Kriegen – und ich meine tatsächlich nicht explizit nur die westliche Intervention 2001 – gebeutelten Land Afghanistan will Deutschland Afghanistan als sicher deklarieren und schiebt seit Dezember letzten Jahres wieder Menschen dorthin ab, und dies unter heftiger Kritik, die wahrscheinlich die Bundesregierung nicht erwartet hat: der großen Kirchen in Deutschland, von Wohlfahrtsverbänden, von Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen. Auch zahlreiche Medien haben kritisch und widersprechend auf die neue Linie der Bundesregierung reagiert und fordern ein Ende der Abschiebung nach Afghanistan.
In zahlreichen Städten fanden Demonstrationen statt. Am 23.03., in eineinhalb Wochen, wird auch in Sachsen, nämlich in Leipzig, die nächste selbstorganisierte Demonstration von aus Afghanistan Geflüchteten stattfinden; denn auch der Freistaat – das habe ich in einer Kleinen Anfrage abgefragt, es war aber auch den Medien zu entnehmen – will sich an den bundesweit organisierten Sammelabschiebungen beteiligen.
In unserem Antrag fordern wir einen Abschiebestopp nach Afghanistan und eine Neubewertung der Sicherheitslage. Wir wissen, dass wir das nicht hier in Sachsen machen können. Darum richten wir diese Forderung an die Bundesebene oder wollen, dass der Freistaat diese an die Bundesebene richtet. Allein die zahlreichen Fakten, die ich hier kurz angerissen habe, rechtfertigen diese Forderung.
Dem jüngsten Statement der Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Frau Dr. Bärbel Kofler, Parteibuch SPD, ist nichts hinzuzufügen. Ich trage das Zitat vor, weil es wirklich bezeichnend und ehrlich ist und weil man sich dahinterstellen kann: „Nicht die Lage in Afghanistan hat sich verändert, sondern die innenpolitische Diskussion in Deutschland.“ Wir fordern ein Ende des dreisten Ignorierens der Tatsachen und ein Ende des falschen politischen Narratives über das sichere Afghanistan.
Setzen Sie sich, verehrte Vertreter und Vertreterinnen der Staatsregierung – es sind nicht viele da – und auch der Koalitionsfraktionen dafür auf der Bundesebene ein! Hören Sie auf, sich daran zu beteiligen, Menschenrechte zur Verhandlungsmasse zu machen!
Die derzeitige innenpolitische Debatte – ich finde es wichtig, das hier im Sächsischen Landtag noch einmal zu betonen – macht vor allem den Geflüchteten aus Afghanistan Angst, auch hier in Sachsen. Das ist neben der zur Schau gestellten Härte auch das Kalkül der Bundesregierung. Hinzu kommt die Schlechterstellung durch die Einordnung als Geflüchtete mit sogenannter negativer
Bleibeperspektive, woraus der eingeschränkte Zugang zu Integrationsleistungen folgt, und viele der Menschen können auch ihre Familien nicht nachholen.
Diese Situation führt zur Verzweiflung, zur Traumatisierung und zur Angst, vor allem auch unter den unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten. Die Afghanen machen unter dieser Gruppe in Sachsen auch den größten Anteil aus. So kommt es dazu, dass sich manche dem Druck beugen und freiwillig ausreisen. Die tatsächliche Freiwilligkeit dieses Schrittes darf in diesem Kontext gern angezweifelt werden. Wenn dieses Instrument von den Koalitionsfraktionen auf Bundesebene und vielleicht auch auf Landesebene so gerühmt wird, ist das ein wenig eine Farce; denn so oder so – eine Rückkehr in Sicherheit und Würde ist sowohl mittels Abschiebung als auch durch freiwillige Rückkehr nicht gegeben.
Auch wenn die Zahlen der seit Dezember nach Afghanistan Abgeschobenen mit 78 Personen sehr gering klingt, sehen wir hier im Grundsatz eine weitere Linie überschritten, und wir sind im Überschreiten von grundsätzlichen menschenrechtlichen Linien in den letzten zwei Jahren schon sehr duldsam geworden. Abschiebungen nach Afghanistan sind aus unserer Sicht ein Rechtsbruch.
Das Verbot der Abschiebung von Menschen in ein Land, in dem ihnen an Leib und Leben Gefahr droht, ist sowohl in der Genfer Flüchtlingskonvention als auch in der EUGrundrechtecharta verankert. Sachsen muss sich an diesem Rechtsbruch nicht beteiligen. Einige Bundesländer übernehmen in dieser Situation Verantwortung und erlassen wie Schleswig-Holstein einen Abschiebestopp, wozu wir als Länder nach § 60 a Aufenthaltsgesetz berechtigt sind. Andere Bundesländer beteiligen sich einfach nicht an den bundesweiten Sammelabschiebungen, beispielsweise Niedersachsen und Bremen, aber auch die Nachbarländer Thüringen und Brandenburg.
Unsere Forderung nach einem Abschiebestopp kann nur ein Schritt sein; das will ich hier auch betonen. Wir wollen zudem, dass sich das Land für die Erteilung von Aufenthaltstiteln starkmacht und die Ausländerbehörden in Sachsen auch sensibilisiert, ihre Spielräume zur Ausgabe von humanitären Aufenthaltstiteln zu nutzen. Genau das können und sollten wir als Bundesland tun.
Wir erwarten des Weiteren, dass sich der sächsische Innenminister, der jetzt nicht anwesend ist, den ich aber trotzdem anspreche, als Vorsitzender der Innenministerkonferenz für eine Neubewertung der Situation in Afghanistan starkmacht. Denn das können wir hier nicht machen – das ist ganz klar; diese Debatte wollen wir hier auch nicht führen.
Helfen Sie uns – damit komme ich zum Ende –, den derzeitigen eiskalten Kreuzzug von Thomas de Maizière – anders kann man es nicht nennen – zu stoppen.
Zeigen Sie auch Mut, die derzeitigen humanitären Handlungsspielräume, die die Bundesländer haben, zu erhalten und zu stärken.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Zum vorliegenden Antrag der Fraktion DIE LINKE möchte ich aus Sicht der CDU-Fraktion folgende Ausführungen machen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und eine gefestigte Rechtsprechung deutscher Verwaltungsgerichte hatten mehrfach bestätigt, dass Rückführungen nach Afghanistan im Einzelfall möglich sind. Die Bundesrepublik Deutschland kommt ihren humanitären Verpflichtungen nach und gewährt denjenigen Flüchtlingen Asyl, die schutzberechtigt sind. Hilfe und Unterstützung, soziale Teilhabe und Integration für diejenigen, die einen Anspruch auf Schutz haben, sowie Rückführung derjenigen, die ausreisepflichtig sind, sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Diese dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Die Schutzquote für Asylbewerber aus Afghanistan ist in Deutschland mit 56 % fast doppelt so hoch wie im europäischen Durchschnitt, der bei 32 % liegt. Die Lage in Afghanistan ist zweifelsohne kompliziert. Es gibt aber Regionen in Afghanistan, in denen die Lage ausreichend kontrollierbar und für den Einzelnen vergleichsweise ruhig und stabil ist. Diese Regionen können als sicher angesehen werden.
Natürlich sind wir bei unserer Einschätzung auf die Bewertung des Bundes angewiesen und sollten diese – nicht zuletzt aus Gründen der Komplexität der Situation vor Ort – nicht in Abrede stellen. Wir betonen häufig, dass wir als Landesparlament keine Außenpolitiker sind und exekutiv natürlich auch kein Außenministerium betreiben. Dann sollte aber eben auch gelten, dass wir uns auf die vorgenommene Bewertung eines Drittlandes durch das Bundesaußenministerium und die Bundesregierung
Deutschland und Afghanistan haben eine gemeinsame Erklärung über die Zusammenarbeit im Bereich der Migration am 2. Oktober 2016 unterzeichnet und sich auf verlässliche Regeln für die Rückkehr nach Afghanistan geeinigt – dies eingebettet in die Vereinbarung eines milliardenschweren Hilfspakets für Afghanistan durch die Europäische Union. Wir helfen also vor Ort bei der Verbesserung der allgemeinen Situation. Damit leisten wir auch einen Beitrag zur Verbesserung der Sicherheitslage in Afghanistan.
Am 5. Dezember 2016 ist der erste Rückführungsflug mit 34 ausreisepflichtigen afghanischen Staatsangehörigen sicher und planmäßig in Kabul gelandet. Dort sind diese Personen von den afghanischen Behörden und Mitarbeitern der Internationalen Organisation für Migration, IOM, einer Einrichtung der UNO, in Empfang genommen worden. An der Rückführungsmaßnahme haben sich die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und das Saarland beteiligt. Rückführungsmaßnahmen sind notwendig, um das Asylsystem in Gänze funktionsfähig zu halten. Die Maßnahmen müssen im Einzelfall verantwortungsvoll, aber ebenso konsequent durchgeführt und fortgesetzt werden. Wenn jemand keinen Anspruch auf internationalen Schutz hat und ausreisepflichtig ist, dann muss er die Bundesrepublik Deutschland wieder verlassen, es sei denn, es liegen konkrete Abschiebehindernisse im Einzelfall vor. Das gilt grundsätzlich auch für Personen aus Afghanistan.
Ich möchte Ihnen noch einen weiteren Zusammenhang aufzeigen: Im Jahr 2016 sind über 3 200 Personen freiwillig in ihr Heimatland zurückgekehrt. Dafür gibt es finanzielle Unterstützung.
Auch in Zukunft sollte die Förderung der freiwilligen Rückkehr fortgesetzt bzw. ausgebaut werden. Das Instrument der freiwilligen Rückkehr funktioniert aber nur dann, wenn auch ausreisepflichtige Personen, die nicht freiwillig zurückkehren, durch Abschiebung in ihr Heimatland zurückgeführt werden.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Nagel, Sie greifen mit Ihrem Antrag ein aktuelles, schwieriges, emotionales und vielschichtiges Thema auf. Das Thema Abschiebung von ausreisepflichtigen Personen ist grundsätzlich schwierig für politische Entscheidungsträger, für die zuständigen Behörden – beispielsweise Ausländerbehörden und Polizei –, vor allem aber schwierig und emotional für die betroffenen Menschen und die Menschen in deren Umfeld.
Für uns als SPD ist dabei völlig klar: Die geltende Asylgesetzgebung muss auch in Sachsen umgesetzt werden. Viele Menschen – vor allem aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und anderen Ländern – sind in den letzten zwei Jahren nach Deutschland und auch nach Sachsen gekommen – als Flüchtlinge oder sie haben sich für einen Asylantrag entschieden. Es werden auch noch weitere kommen. Darunter sind viele, deren Asylantrag abgelehnt
wird, weil sie keine Asylgründe vorweisen können. Diese Menschen müssen unser Land wieder verlassen, ob es uns gefällt oder nicht.
Es ist gut, dass die Staatsregierung alles versucht, um die Quote für freiwillige Ausreisen weiter zu erhöhen. Die Entwicklung ist tatsächlich auch positiv. Allerdings kommen trotzdem viele Menschen ihrer Ausreisepflicht nicht nach. Die Endkonsequenz ist dann eine Durchsetzung der Ausreisepflicht, wenn nicht gute Gründe für ein Aussetzen dieser sprechen. So verbietet es sich, Menschen durch eine Abschiebung in Gefahr für ihr Leben oder ihre Gesundheit zu schicken.
Ohne Abschiebung als letztes Mittel würde unser Asylsystem – das sage ich hier in aller Deutlichkeit – nicht funktionieren. Die Integrationsbemühungen für Menschen mit Bleiberecht wären deutlich erschwert. Wir werden in näherer Zukunft also nicht ohne diese Maßnahme auskommen können. Dennoch schmerzt mich jeder Fall, insbesondere dann, wenn Kinder betroffen sind oder gut integrierte Menschen abgeschoben werden. Auf diesen Punkt komme ich später noch zu sprechen.
Kommen wir nun zur Frage der Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern nach Afghanistan, dem zentralen Thema Ihres Antrages: Zahlreiche Landtage und der Bundestag haben in den letzten Wochen und Monaten darüber debattiert; die Medien sind voll davon. Wir haben es soeben gehört – die Anerkennungsquote liegt hier bei über 50 %. Dennoch sind viele ausreisepflichtig.
Das Land wird offiziell in sichere Gebiete und unsichere Gebiete eingeteilt. Ich finde aber, dass die Sicherheitslage in Afghanistan nicht einfach zu beurteilen ist – sie hat sich offensichtlich im Verlauf des letzten Jahres sogar weiter verschlechtert. Das stellte auch das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, das UNHCR, in seinem Bericht Ende letzten Jahres fest. Darin warnt das UNHCR vor einer Unterscheidung in sichere und unsichere Gebiete. Dies sei aufgrund der sich ständig ändernden Sicherheitslage nicht möglich. Deshalb sei die statistische Entwicklung der Entscheidungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge eher überraschend. Die Entscheidungspraxis unterscheidet tatsächlich noch in sichere und unsichere Gebiete.
Wir haben gehört, dass es bei den Bundesländern, in denen die Abschiebungen vollzogen werden müssen, sehr unterschiedliche Positionen gibt. Am weitesten geht Schleswig-Holstein, das aus humanitären Gründen auf Grundlage von § 60 a des Aufenthaltsgesetzes die Abschiebungen nach Afghanistan für drei Monate ausgesetzt hat. Einige andere Bundesländer – wir haben es gerade gehört – beteiligen sich nicht an den Sammelabschiebungen, machen aber Druck in Richtung Bundesinnenministerium und auch des Auswärtigen Amtes.
Doch laut Auswärtigem Amt und Bundesinnenministerium, wo die Sicherheitslage in Afghanistan nach dem UNHCR-Bericht erneut geprüft wurde, sei es immer noch
zumutbar, dass zumindest junge alleinstehende Männer nach Afghanistan abgeschoben werden. Auch das gehört dazu: Selbst das UNHCR empfiehlt keinen Abschiebestopp, sondern mahnt vielmehr eine viel sorgfältigere Einzelfallprüfung an als bisher geschehen.