Thomas Spies
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Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident, mit Verlaub, wenn ich Sie hoffentlich demnächst einmal im Marburger Rathaus begrüßen darf, werden Sie feststellen, auf unserer Rathaustreppe kann man auch nur schreiten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ja, es ist ein Tag der Freude, dass nunmehr endlich und mit drei Jahren Verspätung die Partikeltherapieanlage des Universitätsklinikums Heidelberg am Standort Marburg in Betrieb geht. Ja, es ist ein Tag der Freude, weil nunmehr in Heidelberg ausgesuchte Patienten, denen Partikeltherapie nützen könnte, am Standort Marburg behandelt werden können.
Ja, es ist ein Tag der Freude, weil eine hessische wissenschaftliche Spitzenleistung der GSI nun tatsächlich auch an einem hessischen Standort angewandt werden wird. Ja, es ist ein Tag der Freude, weil sich auch für den Fachbereich Medizin der Philipps-Universität zumindest wissenschaftlich neue Möglichkeiten ergeben, auch wenn diese Anlage leider nicht wirklich strukturell in den onkologischen Schwerpunkt in Marburg integriert ist. Da war etwas anderes vereinbart worden.
Ja, es ist ein Tag der Freude, weil diese überaus kostspielige und aus Steuermitteln – durch den Erlass eines Teils eines Kaufpreises für das Universitätsklinikum Gießen-Marburg – finanzierte Anlage nun in Betrieb geht. Es ist gut für die Patienten, dass die Partikeltherapie zur Behandlung jener Krankheiten, für die sie geeignet ist, zur Verfügung steht.
Aber das Land hat in seiner Not, zu einem Ergebnis zu kommen, auf seine und die Rechte der Philipps-Universität verzichtet.
Aber ist ein bisschen Selbstbeweihräucherung zum Thema UKGM
wirklich das relevante Thema für einen Setzpunkt zu diesem Zeitpunkt? Fast zeitgleich mit der Eröffnung des Marburger Ionentherapiezentrums teilte die Rhön AG mit, dass es zukünftig keine gemeinsame Geschäftsführung von Gießen und Marburg mehr geben werde. Beide Standorte werden nun nur noch autonom und im Wettbewerb neben- und gegeneinander agieren.
Meine Damen und Herren, das wäre allerdings dringend einer Beratung würdig; denn mit dieser Entscheidung greift der private Betreiber tief und verabredungswidrig in die vereinbarten Strukturen wie die erklärten Absichten des Landes ein.
Meine Damen und Herren, bei aller Kritik an der Privatisierung – jene war falsch, ist falsch und bleibt falsch –
bestand doch immer Einigkeit, dass die Initiative des früheren Ministerpräsidenten Roland Koch für eine Fusion und die wirtschaftliche Einheit beider Standorte richtig war.
Das Ziel der Fusionsankündigung 2003 war gar nicht die Privatisierung, war gar nicht die Finanzierung der Investitionen an den Standorten Gießen und Marburg aus Krankenkassenbeiträgen und aus der Arbeit der Beschäftigten heraus, wie es durch die Privatisierung eingetreten ist, sondern es ging darum, nach jahrelangen Debatten mit einem Schlag die wirtschaftliche Einheit beider Standorte durch die Fusion zu schaffen.
Die Idee der Privatisierung kam überhaupt erst ein Jahr später im Zuge der Konflikte zwischen den Standorten auf. In der politischen Auseinandersetzung um die Privatisierung des Universitätsklinikums Gießen und Marburg ist die Leistung der Fusion oft untergegangen. Es war eine – heute oft vergessene – wirklich herausragende Leistung von Roland Koch und der hessischen CDU. Ich will das ausdrücklich betonen.
Nach Jahrhunderten des Konflikts an einer Grenze ungefähr bei Lollar gibt es heute eine ganz neue Qualität der Zusammenarbeit der Universitäten und der Fachbereiche. Diese Entwicklung hat zwar natürlich mit einer Präsidentin und einem Präsidenten zu tun, die als Person diese Kooperation suchen. Aber natürlich hat sie auch damit zu tun, dass durch die Fusion der Universitätsklinika ein Zusammenwirken erzwungen wurde, das es bis dahin noch nicht gab. Das war ein Ergebnis Ihres Handels, und darauf sollen Sie stolz sein, meine Damen und Herren insbesondere von der CDU. Umso weniger kann die jetzt eintretende Entwicklung hingenommen werden, keineswegs von Ihnen.
Wie oft haben wir gehört, dass hier das drittgrößte Universitätsklinikum Deutschlands, eines der großen hochschulmedizinischen Zentren der Welt entstanden sei mit ganz neuen, großen, zukünftigen Möglichkeiten? Tatsächlich aber wurde genau diese wirtschaftliche Einheit nie umgesetzt. Es gibt kein gemeinsames Budget, es gibt keine gemeinsame EDV, es gibt keine gemeinsame Struktur in zentralen Fragen, z. B. in der Organisation der Abrechnung. Es gibt nicht einmal eine gemeinsame Krankenhausnummer für die Krankenhausplanung.
Meine Damen und Herren, die zentrale Idee des Landes war die Zusammenführung beider Standorte mit dem Ziel einer gemeinsamen, abgestimmten, koordinierten Struktur. Das Papier dazu – wer damals dabei war, wird sich entsinnen – hatte den aparten Namen Quertapete. Was davon ist umgesetzt?
Mit der Privatisierung der mittelhessischen Universitätsmedizin, mit der Fusionsbildung bestand die große Chance einer engen Netzwerkbildung zwischen den beiden Kliniken am UKGM und mit den Krankenhäusern, die seinerzeit zum Rhön-Konzern gehörten und heute schon lange nicht mehr dabei sind. Das hätte gerade unter dem Gesichtspunkt Versorgungsforschung durchaus Chancen beinhaltet. Aber all diese potenziellen Kooperationen wurden nicht eingegangen.
Prof. Werner, der leider im Sommer das UKGM verlassen hat, hat konsequent darauf hingewiesen, dass die Zusammenarbeit zwischen den Standorten intensiviert werden müsste, während man den Eindruck hatte, dass in vielen Entscheidungen nicht einmal das echte Bekenntnis zu einer belastbaren Gemeinsamkeit erkennbar war. Wo ist und war hier die Landesregierung?
Zitat:
… Andeutung einer Benachteiligung durch ein Gießener Übergewicht bei Entscheidungen ist vermutlich nicht falsch beobachtet. Allerdings sollte nicht verkannt werden, dass die heutige Situation … als Ergebnis einer gegen Wettbewerb (unter verschiede- nen Geschwistern) der Standorte gerichteten und auf einen Konsens gegen den Privatisierer setzendes Verfahrensmodell entstanden ist. Dieses hat nie funktioniert und zunehmend gegen die Erschaffer gewirkt. Gießen, als der damals Schwächere, hat sich eben näher an uns und unseren Möglichkeiten orientiert …
Diese Feststellung einer Benachteiligung und eines Ungleichgewichts bei Entscheidungen auf der Grundlage von Wohlverhalten stammt nicht von mir. Sie stammt von Eugen Münch, Ihrem Vertragspartner. Wohlverhalten von Hochschullehrern als Voraussetzung angemessener Behandlung? Die Metabetrachtung, die Reflexion der Bedingungen des eigenen Faches gehört selbstverständlich zur Wissenschaftsfreiheit in ihrem Kern dazu. Deshalb ist diese Haltung nicht nur vertragswidrig. Sie ist mit der Verfassung nicht vereinbar.
Es kann nicht sein, dass die Bedingungen am „Großgerät Universitätsklinikum des Fachbereichs Medizin“ – genau das ist und bleibt die Rangfolge – vom politischen Wohlverhalten in der wissenschaftlichen Betrachtung eben dieser Bedingungen des Großgeräts abhängig gemacht werden. Würden Sie, Herr Staatsminister – ich weiß, dass das unvorstellbar ist –, den Umgang des Landes mit seinen Hochschulen vom politischen Wohlverhalten der Hochschullehrer abhängig machen, Ihr Rücktritt wäre unvermeidlich. Aber natürlich käme in diesem Hause niemand auch nur auf diese Idee.
Meine Damen und Herren, umso mehr ist die Landesregierung gefordert, klarzustellen, was geht und was nicht. Umso mehr ist die Landesregierung gefordert, den verfassungsmäßigen Schutz der Wissenschaftsfreiheit auch in der Betrachtung der Bedingungen des eigenen Faches, auch gegenüber den wirtschaftlichen Interessen des Vertragspartners geltend zu machen. Die Verfassung gilt auch für Eugen Münch.
Aber offenbar bestand nie die Absicht des Partners, diese Vereinbarung einzuhalten, obwohl die Fusion zum Kerngehalt der Vereinbarung gehört. Noch einmal Herr Münch:
Meine Meinung war es immer, dass ein maßvoller Wettbewerb der Standorte und eine höhere Autonomie, die logischerweise der obersten Unternehmensführung eine stärkere, aber weniger häufig ausgeübte Schiedsrichterrolle überträgt, … zum Erfolg führt.
Nein, meine Damen und Herren, das war so nicht abgemacht. Abgemacht war die wirtschaftliche Einheit und nicht der Wettbewerb zweier Standorte. Genau den zu vermeiden war die Initiative von Roland Koch. Genau an dieser Stelle zur Einheit und Gemeinsamkeit und nicht zum Wettbewerb zu führen war die Vorstellung des Landes, die in diesem Hause einmal Konsens war.
Deshalb ist das die eigentliche Herausforderung, die sich, wenn ich zum letzten Mal hier etwas dazu sagen darf, für den Landtag und die Landesregierung stellt: Wie kann Sorge getragen werden, dass die wirtschaftliche Einheit, die kooperative Struktur, die Fairness zwischen den Standorten etabliert und durchgesetzt werden? Wie kann sichergestellt werden, dass Absprachen über Schwerpunkte eingehalten werden? Wie kann die Durchführung der Schwerpunktbildung nach fachlichen und wissenschaftlichen Kriterien erfolgen? Wie kann sichergestellt werden, dass der wirtschaftliche Ausgleich zwischen den Standorten nicht davon abhängt, wer die besseren Fallpauschalen an Land zieht?
Meine Damen und Herren, der Rückbau oder die Schließung eines Universitätsklinikums war, ist und bleibt keine Option. Das war schon 2003 so, als manche dachten, dies wäre das Ziel der Landesregierung. Man wird kein Universitätsklinikum schließen können. Man wird keinen Fachbereich schließen können. Angesichts drohenden Ärztemangels, angesichts der Herausforderungen der Forschung gibt es keine Alternative zum Fortbestand aller drei Klinika und Fachbereiche in Hessen. Im Gegenteil, es stellt sich eher die Frage, hier Ausbau und Weiterentwicklung zu machen.
Dabei kann die Idee einer modellhaften Kooperation vor Ort, wie sie die Rhön AG vertritt, in der Integration von ambulanter und stationärer Medizin unter Einbeziehung von Prävention und Nachbehandlung sehr wohl Chancen in der Region schaffen, wenn es gelingt, das Klima am Standort und das Vertrauen in der Region deutlich zu verbessern. Das UKGM und seine beiden Standorte sind ohne jeden Zweifel hervorragende Krankenhäuser, trotz der Privatisierung und seit weit über 100 Jahren. Das darf nicht verdorben werden.
Deshalb ist die Landesregierung nicht wegen ihrer 5 %, sondern wegen des überragenden öffentlichen Interesses und ihrer Verantwortung für die Sicherung der Freiheit von Forschung und Lehre mehr als gefordert, aktiv zu werden. Es gibt herausragende Chancen an diesen Klinika, man muss sie ergreifen. Aber das wird nur gelingen, wenn Sie sich mehr um das Ergebnis Ihrer Privatisierungsentscheidung kümmern, Herr Staatsminister.
Denn die Wahrheit ist wie bei allen Privatisierungen: Man wird nicht frei von der öffentlichen Verpflichtung, Aufgabenwahrnehmung sicherzustellen. Stattdessen wird es schwieriger und aufwendiger, wenn man um des kurzen Vorteils willen die eigene Steuerung abgegeben hat.
Die SPD-Fraktion war immer willens, die SPD-Fraktion, Thorsten Schäfer-Gümbel und ich werden seit dem 2. Februar 2006 nicht müde, anzubieten, dabei mitzuwirken. Ich darf das nicht nur im Namen der SPD-Fraktion sagen, auch die kommunale Ebene in Marburg wird Sie mit großer Freude in dieser Frage unterstützen,
um die Spielräume, die sich für regionale und kommunale Gesundheitspolitik in der Prävention, in der ambulanten und stationären Versorgung, in der Nachsorge und der Selbsthilfe ergeben, um das Zentrum der Hochschulmedizin herum in der Region zu verbessern.
Da gibt es viel zu tun. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass das, was einmal Ihre anerkennenswerte Idee
und Leistung war, auch heute Bestand hat und endlich wirksam umgesetzt wird. – Vielen Dank.
Herr Kollege May, würden Sie mir denn zustimmen, dass die Einreichung einer Klage auf Zahlung von 100 Millionen € die Verhandlungsbereitschaft für eine Leistung, die am Ende einen Bruchteil davon gekostet hat, spürbar beschleunigt hätte oder jedenfalls diese Option geboten hätte und wir somit schon seit einem Jahr Patienten behandeln würden, statt so lange gewartet zu haben?
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Es sind immer denkwürdige Momente, wenn sich zu Beginn der Beratung eines Setzpunktes der Ministerpräsident – speziell dieser Ministerpräsident, dessen ständige Anwesenheit im Parlament uns dauernde Freude ist –
genötigt sieht, nach vorne ans Pult zu kommen, um uns Halbwahrheiten, Halberfindungen und so manchen Ausdruck mangelnder Reflexion zu erklären.
Herr Ministerpräsident, wenn Sie das für nötig halten, muss es schon ziemlich eng sein.
Herr Ministerpräsident, ich kann verstehen, dass Sie sich eben beklagt haben, wie man von Ihnen verlangen könne, klüger zu sein als andere. Dass Ihnen das ein Problem macht, kann ich nachvollziehen, Herr Ministerpräsident.
Dann erklären Sie uns hier, dass Sie das Problem von Anfang an kennen, und Sie weisen uns darauf hin, dass Ihr Vorgänger tatsächlich den einen Standort abbauen und mit dem anderen zusammenführen wollte. Das war eine falsche Absicht, da stimme ich Ihnen zu. Das hätte Roland Koch von vornherein lassen sollen, statt in der Presserklärung zu der „Operation düstere Zukunft“ die Fusion beider Klinika – mit dem gezielten Abbau des Klinikums Gießen – zu verkünden. Herr Ministerpräsident, da bin ich völlig bei Ihnen.
Eines muss man sehen: dass die Fusion – jedenfalls so, wie Sie sie durchgeführt haben – nur bedingt erfolgreich war. Man muss sich dazu einmal anschauen, was die Geschäftsleitung des Klinikums über die Überschneidung der beiden Standorte, die Kooperation und den Patientenaustausch sagt. Das stammt gar nicht von mir. Die Geschäftsleitung selbst sagt, dass die Aufhebung der Abgrenzung genau an dieser Stelle nicht adäquat gelungen sei.
Herr Ministerpräsident, völlig unzutreffend ist aber, dass Sie sagen, die Rechtsform sei an dieser Stelle unerheblich. Jetzt komme ich auf eine kurze Bemerkung zurück, die Sie eben gemacht haben. Ich habe mit Interesse gehört, wie Sie um Geld für die Universitätsklinika gekämpft haben. Die richtige Lösung zur Verbesserung der Finanzierung der Universitätsklinika ist der Systemzuschlag. Den hat Staatsminister Grüttner auf dem parlamentarischen Abend der beiden Universitäten explizit ausgeschlossen.
Es wäre doch sehr spannend, wenn Sie uns gelegentlich erklärten, ob die im Antrag der Koalitionsfraktionen genannte dritte Säule für die Universitätsklinika adäquat finanziert wird – in welcher Form auch immer. Herr Ministerpräsident, in jedem Fall setzt aber eine zusätzliche Finanzierung voraus, dass adäquate Personalstandards vorhanden sind, damit das Geld, wie bei der gesamten Krankenhausreform, genau dahin fließt, wohin es gehört, nämlich zum Personal.
Der entscheidende Unterschied zwischen dem Universitätsklinikum Gießen und Marburg und allen anderen Universitätsklinika ist aber, dass Sie nicht einmal eine einzige Jahrestranche HEUREKA für das Universitätsklinikum hergeben wollten, sondern sich dieses Geld über die Arbeit der Beschäftigten holen. Nichts anderes bedeutet nämlich die Privatisierung: Die Beschäftigten liefern das Geld für die Investitionen ab, die Sie hätten tätigen müssen und die das Land, wie man an HEUREKA sieht, gut hätte vornehmen können. Darüber werden also die Investitionen finanziert. Herr Ministerpräsident, genau das ist der Unterschied zwischen Privatisierung und Nichtprivatisierung.
Herr Ministerpräsident, das ist nicht meine Zahl. Da Sie vorhin ein solches Loblied auf die Krankenhausprivatisierung angestimmt und eine quasi euphorische Begeisterung darüber zum Ausdruck gebracht haben, sage ich Ihnen: Das Rheinisch-Westfälische Institut bestätigt uns – dieses Institut ist beim besten Willen nicht sozialismusverdächtig –, dass privatisierte Krankenhäuser einen geringeren Personalschlüssel haben.
Eine von dem verehrten Mitglied Ihrer Landesregierung Herrn Staatsminister Grüttner in Auftrag gegebene und finanzierte Untersuchung des Landes Hessen weist nach, dass eine geringere Personalausstattung von Krankenhäusern im Vergleich zum internationalen Standard laut einer breiten Übersicht über die gesamte Literatur zu dem Thema eine Gefährdung für Patienten bedeutet. Herr Ministerpräsident, genau an dieser Stelle besteht ein Zusammenhang, den man zumindest sehen und akzeptieren müsste, statt sich an dieser Stelle in eine solche Euphorie hineinzusteigern, ohne eine klare Gegenregulation, wie es die Personalmindeststandards sind, die Sie gerade so abgelehnt haben, auch nur ins Auge zu fassen. Das ist verantwortungslos.
Jetzt komme ich zu Ihrer Lobhudelei, was den Letter of Intent betrifft. Es trifft zu – das gestehe ich Ihnen zu –, die Partikeltherapie wird kommen, nicht wegen, sondern trotz der Landesregierung, aber immerhin. Das soll uns recht sein.
Herr Ministerpräsident, das von Ihnen zugesagte Moratorium beim Stellenabbau gab es nicht. Die von Ihnen zugesagte Stärkung des Einflusses des Landes hat nicht stattgefunden. Die Regelung zu den Rückkehrern ist, wie man feststellt, wenn man sie sich im Detail anschaut, ordentlich diskutierbar. Einige Baumaßnahmen sind verwirklicht worden, anderen sehen wir jedenfalls mit großer freudiger Erwartung entgegen.
Aber, Herr Ministerpräsident, abgesehen davon, dass Sie den LoI nicht erfüllt haben, gibt es eine ganze Reihe anderer Probleme. Auch das Engagement der Landesregierung für die eigenen Interessen in Forschung und Lehre ist mehr als unzureichend. Wenn wir uns anschauen, was der Landesrechnungshof darüber schreibt, wie außerordentlich „intelligent“ – nämlich unterirdisch schlecht – die Anlage des Kaufpreises von 100 Millionen € in der Von-BehringRöntgen-Stiftung war, muss man sagen: Das ist ein weiterer Beleg dafür, dass diese Privatisierung nicht nur falsch war, ist und bleibt, sondern auch noch so dilettantisch vollzogen wurde, das sie ihresgleichen sucht.
Herr Ministerpräsident, ich hätte mir all das gern erspart. Ich wäre völlig damit zufrieden gewesen, heute kurz darauf einzugehen und Ihnen zu erläutern, dass Sie nicht verstanden haben – ich weiß, Sie möchten nicht klüger sein als andere –, warum die Zahlen, die Sie zitieren, eine Beleidigung für die Beschäftigten sind, denen einfach die Antworten des Arbeitgebers weitergegeben werden, statt dass man sich für ihre Sorgen und Nöten interessiert. Das hat Frau Wissler schon zu Recht gefordert.
Aber, Herr Ministerpräsident, es ist nicht nur so, dass die Beschäftigten, die Sie verkauft haben, Sie nicht interessieren, sondern Sie transportieren auch Zahlen, von denen man bei wohlwollender Betrachtung sagen kann, dass sie ausgesprochen schöngerechnet sind.
Was passiert denn, wenn ein Mitarbeiter aus Krankheitsgründen, z. B. wegen Überlastung, ausfällt? Dann wird er in dieser Zeit durch einen anderen ersetzt. Der macht Überstunden, und auf einmal zählt der Beschäftigte doppelt; denn der eine hat bezahlte Arbeitszeit, in der er krank ist, und der andere hat Überstunden, die bezahlt werden. Auf einmal sind da zwei Beschäftigte.
Genau das ist nämlich das Konzept der Vollstellenrechnungen, mit denen Ihnen dieser Personalabbau dargestellt wird.
Herr Ministerpräsident, ich sage Ihnen gern, was ich machen würde. Da Sie Gesellschafter sind und daher selbstverständlich Zugriff auf die Unternehmensdaten haben, sollten Sie selbst einmal genauer nachschauen oder genauer nachschauen lassen. Es wäre Ihre Pflicht, sich an dieser Stelle im Detail davon zu überzeugen, wie die Zahlen, die Sie so gern bejubeln möchten, eigentlich zustande kommen.
Dann würden Sie wissen, dass der rechnerische Personalzuwachs – VK-Stellen – etwas anderes ist als die tatsächliche Personalentwicklung. Herr Ministerpräsident, Sie wären mit diesem Argument deutlich vorsichtiger umgegangen, wenn es Ihnen die Mühe wert gewesen wäre, sich ein bisschen klüger zu machen.
Es kommt hinzu: Über die Zahl der Personen zu reden ist eine Sache. Zu schauen, was die machen, ist eine andere Sache. Nur die Zahlen des Unternehmens zugrunde gelegt – ich will das gar nicht rechnerisch korrigieren; es wäre Ihre Sache, in die Details zu gehen –, haben wir eine Arbeitslaststeigerung um mindestens 8 %. Die – behauptete – Personalsteigerung um 8 % steht nämlich, worauf Frau Wissler verwiesen hat, einer Steigerung der Fallzahlen um 16 % gegenüber: aufgrund von zusätzlichen Abteilungen, der Ausweitung von Tätigkeiten und der Behandlung von Patienten in Bereichen, die es vorher nicht gab.
Herr Ministerpräsident, wenn man sich das anschaut, nämlich 8 % mehr Personal bei 16 % mehr Arbeit, stellt man fest, es ist falsch, dass Sie hier behaupten, es gebe keine Arbeitsverdichtung. Das ist eine ganz einfache Rechenübung.
Deshalb: Jenseits der Frage, was man von der Privatisierung des Universitätsklinikums Gießen und Marburg hält, und jenseits der Frage, an welchen Stellen der zehnjährigen Geschichte die Landesregierungen – erst die CDU allein, dann alle anderen – ihrer Verantwortung nicht adäquat gerecht geworden sind, muss man feststellen, dass die Liste der Punkte sehr lang ist, an denen man sich für Patienten, für Forschung und Lehre und für beide Standorte mit sehr viel mehr Engagement hätte einsetzen können.
Völlig unabhängig davon bleibt, dass Sie sich nicht die Mühe machen, die Verunsicherung der Beschäftigten und ihre berechtigte Klage über Überlast einmal so genau anzuschauen, um wenigstens zu verstehen, woher die Klage kommt, dass Sie sich kein eigenes Bild machen und sich mit Ihrer Antwort nur auf die Antworten der Geschäftsleitung beschränken. Das ist des Hessischen Ministerpräsidenten unwürdig und verdient allerdings eine Entschuldigung.
Sehr verehrter Herr Kollege Bartelt, bei allem Respekt kann man das so nicht stehen lassen.
In der Ausschusssitzung vom 27.02.2014, auf die Sie Bezug genommen haben, hat der Herr Staatsminister freundlicherweise bereits darauf hingewiesen, dass die VK-Stellen, auf die Sie sich beziehen, auf die sich der Ministerpräsi
dent bezieht und auf die sich die gesamte Debatte hier bezieht, keine Personen sind, sondern eine Recheneinheit, in der genau das passiert, was ich vorhin beschrieben habe, dass nämlich z. B. eine Überstunde als zusätzliche Person oder Stelle gerechnet wird. Deshalb ist eine Stellensteigerung um 8,4 % eben keine Stellensteigerung, sondern eine Belastungssteigerung im Personal.
Dieser Belastungssteigerung im Personal steht eine Leistungssteigerung von 16 % gegenüber, Herr Bartelt. Genau das ist das Problem, um das Sie uns ständig herumführen. Es wäre ein Leichtes – und wir würden uns sehr schnell einig werden –, wenn der Miteigentümer dieses Krankenhauses sich einmal reale Personenzahlen geben lassen würde.
Ich bin ja froh, dass Sie, was vor drei Jahren auf Anfrage angeblich noch völlig unmöglich war, die Überstundenzahlen vom Anfang und von heute kennen. Als ich das letzte Mal danach gefragt habe, hieß es, das wisse die Landesregierung nicht, wie viele Überstunden die Leute in dem Krankenhaus gearbeitet haben, als es ihr noch gehörte. Dass man das inzwischen heranziehen kann, ist ja schon einmal ein Fortschritt. Aber diese Relation macht doch deutlich, wo der Rechenfehler liegt.
Bei allem Respekt: Diese Abteilung für Psychosomatik, von der Sie gesprochen haben, kenne ich sehr gut. Die hatte früher acht Betten, jetzt hat sie 35 Betten. Und nun zu behaupten, das sei keine Aufwandssteigerung, ist nicht richtig, Herr Kollege Bartelt.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Mein überaus verehrter Herr Kollege Bartelt, das hätte ich jetzt wirklich nicht geglaubt. Eine solche Frage wie der ärztliche Bereitschaftsdienst, der die Menschen in diesem Land zu Hunderten, zu Tausenden bewegt hat, gerade angesichts der kapitalen Inkompetenz, die zum Jahreswechsel zutage trat – und Sie verweigern hier, diese Sorgen anzuhören. Ich hätte es wirklich nicht geglaubt, wenn das vorher einer behauptet hätte.
Zu Ihrer freundliche Erklärung, dass der Landtag nicht damit befasst sei und sich deshalb nicht damit beschäftigen müsse: Angesichts der Vielzahl wie Intensität der Debatten, die wir hier zu dem Thema führen, angesichts des Engagements der Landesregierung in dieser Frage mit Pakten zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung, die uns hier ständig als große Leistungen verkauft werden – und Sie sa
gen uns jetzt, die haben da gar nichts zu sagen, das ist alles nichts wert –, angesichts der Tatsache, dass wir uns in der Enquetekommission „Demografischer Wandel“ über Monate sehr intensiv mit der Frage beschäftigt haben – das ist schon ein paar Tage her –, ist die Aussage, das ginge den Landtag irgendwie nichts an, und deshalb bräuchte man dazu auch niemanden anzuhören, wirklich eine Unempfindlichkeit gegenüber den Sorgen der Menschen, die ich Ihnen nicht zugetraut hätte, Herr Kollege.
Denn die Frage der ärztlichen Versorgung und insbesondere der Notdienstversorgung, dann, wenn man Angst haben muss, wie und wo man wen erreicht, weil die üblichen Strukturen gerade nicht verfügbar sind, ist etwas, was die Menschen erheblich bewegt – wenn Sie sich ansehen, wie viele Petitionen wir im Hessischen Landtag zu der Frage hatten, wie viele Leserbriefe in den Lokalzeitungen wir gesehen haben, und, und, und.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich sagen: Diese Reform des ärztlichen Bereitschaftsdienstes war falsch. Sie war der falsche Ansatz, und sie ist – das muss einen nicht weiter wundern – im Ansatz gescheitert.
Das hätte man vorher wissen können, das hätte auch die Kassenärztliche Vereinigung vorher wissen können, wenn man sich ansieht, wie die Konzentration des ärztlichen Bereitschaftsdienstes in manchen Regionen auf eine Bereitschaftsdienstzentrale gewirkt hat. In der Wetterau hat man das schon vor längerer Zeit angefangen. Und was war der Effekt? Es gab große Klagen, es gab schwere Erreichbarkeit. Am Wochenende sind 30 km im ländlichen Raum doch eine beachtliche Distanz. Die vermehrte Inanspruchnahme des Rettungsdienstes, der dann für den echten Notfall nicht zur Verfügung steht, der dann längere Anfahrtszeiten hat, und, und, und – all das konnte man im MainKinzig-Kreis, im Wetteraukreis schon vor längerer Zeit beobachten. Deshalb hätte man das von vornherein wissen können.
Meine Damen und Herren, hinzu kommt eine auch technisch unvollständige Antwort. An der Stelle bin ich der Landesregierung für die Antwort auf die Kleine Anfrage des Kollegen Gremmels und von mir sehr dankbar, was die Frage des Jahreswechsels angeht, auch wenn die Antwort unvollständig ist, weil nämlich die Tatsache, dass diese Nummer 116 117 über Stunden so belegt war, dass man noch nicht einmal in die Warteschleife kam, völlig untergegangen ist. Das ist ja die Krönung. Wenn Sie beschreiben, dass man in manchen Fällen – morgens um vier Uhr vielleicht – mit durchschnittlich 2:37 Minuten Wartezeit durchkam, dann weise ich nur darauf hin, es kommt nicht auf die Durchschnittszeit, sondern auf die Spitzen an. 44 Minuten in einer Warteschleife zu hängen, weil der ärztliche Bereitschaftsdienst nur über diese Nummer zu erreichen ist, ist absolut unzumutbar.
An der Stelle muss man auch fragen, ob vor diesem Hintergrund die Sicherstellung der Versorgung noch gewährleistet ist. Herr Staatsminister, dass Sie nur die Rechtsaufsicht und nicht die Fachaufsicht haben, wissen wir alle. Ganz ehrlich: Das ist überaus zu bedauern, wie wir in den letzten Jahren immer wieder feststellen konnten. Aber wenn die
Sicherstellung ernsthaft infrage gestellt ist und es stattdessen zum Ausweichen auf den Rettungsdienst kommt, dann muss man die Frage stellen, ob die Sicherstellung überhaupt noch gewährleistet ist – ganz abgesehen von der Frage der Qualität, die auch im Antrag der LINKEN aufgeworfen wird. Selbstverständlich müssen sich alle Ärzte in der Notfallmedizin fortbilden, und selbstverständlich hat jeder, der ein Medizinstudium abgeschlossen hat, das alles einmal gelernt. Aber fragen Sie doch einmal einen Pathologen,
fragen Sie einmal Augenärzte, fragen Sie einmal Hals-Nasen-Ohren-Ärzte, ob sie sich ernsthaft zutrauen, im Bereitschaftsdienst Krankheiten, mit denen man zehn oder 20 Jahre lang nichts zu tun hatte, alleine, ohne eine unmittelbare Rückkoppelungsinstanz, wieder gegenüberzutreten. Das ist allerdings eine Frage der Sicherstellung der Qualität, der man sich wenigstens mit einer gewissen Aufmerksamkeit zuwenden muss, zumal man sich auch nicht damit herausreden kann, der ärztliche Bereitschaftsdienst behandle ja die einfachen Krankheiten, bei den schweren komme der Rettungsdienst. Das mit der Einschätzung, ob es so schlimm ist, dass man den Rettungswagen ruft, oder so harmlos, dass man es mit dem ärztlichen Bereitschaftsdienst versucht, verbundene Risiko dem Patienten zuzumuten, ist nämlich bereits eine Fehlentscheidung. Der Patient kann diese Entscheidung überhaupt nicht treffen.
Nein, meine Damen und Herren, richtig ist das Modell, das wir aus dem Lahn-Dill-Kreis kennen, nämlich die Zusammenführung des ärztlichen Bereitschaftsdienstes mit dem Rettungsdienst, und zwar in einer engen Ankoppelung an die Krankenhäuser. Wir schlagen seit Jahren vor, dieses Modell konsequent zu betreiben. Auch die Landesregierung hat in der Vergangenheit den Gedanken durchaus positiv begleitet, dass die Entscheidung nicht beim Patienten liegt, sondern dass in der Rettungsleitstelle entschieden wird, ob der ärztliche Notdienst reicht, ob der Rettungswagen, der Notarztwagen hinausfahren muss oder ob der Patient selbst zum ärztlichen Bereitschaftsdienst kommen kann. Das ist eine Frage, bei der jemand dem Patienten zur Seite stehen muss, deren Beantwortung nicht dem Patienten überlassen werden darf. Deshalb brauchen wir eine Regionalisierung des ärztlichen Bereitschaftsdienstes sowie eine Zusammenführung des ärztlichen Bereitschaftsdienstes mit dem Rettungsdienst und den Krankenhäusern über eine gemeinsame Leitstelle.
Angesichts der aktuellen Kostenverlagerung aus dem ärztlichen Bereitschaftsdienst in den Rettungsdienst müssen wir auch darüber nachdenken, dass die beiden Budgets miteinander korrespondieren können, weil es natürlich nicht sein darf, dass Kostensteigerungen im Rettungsdienst aus anderen Budgets getragen werden und die KV an der Stelle Einsparungen zulasten anderer Budgets vornimmt. Nein, meine Damen und Herren, wenn wir uns die Regelung des ärztlichen Bereitschaftsdienstes in Hessen anschauen, dann wird deutlich, dass die Kassenärztliche Vereinigung insgesamt mehr Unterstützung, mehr Hilfe braucht, auch seitens der Politik.
Das bedeutet, dass politische Verantwortlichkeit wieder klarer wahrgenommen werden muss. Das bedeutet, wir brauchen eine Fachaufsicht der Landesministerien, was die Sicherstellung der Versorgung betrifft, nicht nur eine Rechtsaufsicht. Wir brauchen Regeln, die definieren, was „Sicherstellung“ heißt; solche Regeln gibt es bis heute
nicht. Alles, was wir bisher regeln, bezieht sich auf die Frage, wie wir verhindern, dass es mehr Ärzte als nötig gibt, aber nicht darauf, wie wir sicherstellen, dass es so viele Ärzte wie nötig gibt.
Außerdem brauchen wir eine klare Stärkung der regionalen und kommunalen Zuständigkeiten, weil am Ende die Hausarztversorgung, der ärztliche Notdienst in der Region, in den Kommunen, geregelt werden muss. Wir brauchen schließlich auch die Delegation eines Teils des Budgets an regionale Strukturen.
Der Sachverständigenrat hat zu der Frage, wie man die Versorgung im ärztlichen Bereitschaftsdienst, aber auch im ländlichen Raum insgesamt zukunftsfähig regeln kann, sehr gute Beispiele, sehr gute Empfehlungen gegeben, die interessanterweise mit den Vorschlägen der hessischen Sozialdemokratie in beachtlichem Maße übereinstimmen. Das freut mich, aber ich finde, an der Stelle muss man klar sehen, dass es eine ganze Reihe von Maßnahmen gibt, die wir zur Verbesserung der Versorgung im ländlichen Raum treffen können, ohne dass sich der ärztliche Bereitschaftsdienst aus der Fläche zurückzieht, wie es jetzt gemacht wurde, was falsch war. Dazu gehört die Verdeutlichung der Attraktivität des Arztberufs auf dem Land gegenüber den Studierenden, wie es in Frankfurt erfolgreich praktiziert wird. Auf einmal wollen sie alle wieder Hausarzt werden, auf einmal wollen sie wieder in den ländlichen Raum, wenn man ihnen Möglichkeiten der Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und ärztlichem Beruf im ländlichen Raum zeigt. Das heißt, man muss z. B. auch Landarzt im Angestelltenverhältnis sein können.
Das bedeutet eine stärkere Mitverantwortlichkeit der öffentlichen Hand bei medizinischen Versorgungszentren – kooperativ mit niedergelassenen Ärzten oder im Eigentum einer Kommune. Wir brauchen regionale Gesundheitskonferenzen, die wirklich regional sind, statt sechs Konferenzen für ganz Hessen. Die Gesundheitskonferenzen müssen originäre Kompetenzen haben, damit sie auch etwas gestalten können. Außerdem muss der eine oder andere ärztliche Funktionär aufhören, immer laut zu klagen, wie furchtbar schlecht das Leben der niedergelassenen Ärzte sei. Dann haben die Studierenden auch mehr Lust, diese Funktion zu übernehmen.
Damit kommen wir weiter. Die bisherige Reform des ärztlichen Bereitschaftsdienstes hat dagegen nicht weitergeführt. Eine Anhörung ist allemal richtig, eine detaillierte Prüfung auch. Dass Sie sich dem verweigern, ist uns völlig unverständlich. Wir sehen den Ausschussberatungen mit Interesse entgegen. Wir werden die Initiative der Fraktion DIE LINKE an dieser Stelle entschieden unterstützen.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ohne Zweifel ist es zu begrüßen, dass es in Hessen überhaupt diesen Gesundheitspakt gibt. Da hört es mit den Begrüßungen aber leider auch schon auf.
Allein die Liste der angekündigten Maßnahmen, die in diesem Gesundheitspakt aufgeführt werden, ist ein langes Verzeichnis dessen, was andere tun. Dabei engagiert sich die Landesregierung nicht oder allenfalls marginal. Oder es werden Punkte aufgeführt, die auf den ersten Blick sehr hübsch klingen, aber, wenn man diese Landesregierung kennt, einen doch eher mit Sorge erfüllen. Ich nenne nur das Thema Gesundheitsreport und Versorgungsatlas.
Das klingt wunderbar. Wir kannten einmal einen solchen Sozialbericht. Dieser Bericht war ein solches Dokument des Grauens und des Desinteresses. Das, was zu einem Versorgungsatlas in Hessen angekündigt ist, ist eher schon als Drohung zu verstehen.
Denn, meine Damen und Herren, ein Versorgungsatlas besteht nicht daraus, dass man aufschreibt, wo es welche Arztpraxen gibt, sondern man legt ein die Morbidität, den Krankheitsgrad, die regionalen Bedarfe, Mobilitätsfragen, Erreichbarkeit usw., also ein die tatsächliche Versorgung abbildendes Projekt dar. Daran ist allerdings ganz offenkundig nicht gedacht.
Denken wir an die regionalen Gesundheitskonferenzen. Das klingt wunderbar. Die sind einmal entstanden, indem man die Krankenhauskonferenzen dann Gesundheitskonferenzen genannt hat. Genauso sind sie auch für den Bereich der ambulanten Versorgung zuständig. Es gibt sechs Versorgungskonferenzen für ganz Hessen. Eine kleine Gruppe von einzelnen Interessenvertretern behandelt doch eher die Krankenhausversorgung. Gerade die Frage detaillierter regionaler ambulanter Versorgungsplanung kann gar nicht diskutiert werden, weil eine Versorgungsregion mit 80 bis 100 km Längenausdehnung für die hausärztliche Praxis völlig ungeeignet ist. Auch an der Stelle tut sich nichts.
Meine Damen und Herren, so könnte man die Liste fortsetzen, wenn man wollte. In all den Punkten zur Stärkung der flächendeckenden Versorgung, in denen die Landesregierung selbst gestalterisch tätig werden könnte, bleiben am Ende ein paar Subventionen für Praxisverkäufe übrig. Das hatten wir schon. Nein, das ist in seiner Gesamtheit sehr enttäuschend, wenn man an das Brimborium denkt, mit dem es angekündigt wurde.
Tatsächlich gibt es einige Punkte, die ein Fortschritt sind, z. B. die Förderung des kommunalen Engagements in Fragen der Gesundheitsversorgung. Das fordern wir seit der Enquetekommission „Demografischer Wandel“. Dass zwei Legislaturperioden später auch die Landesregierung der Linie folgt, finden wir durchaus bemerkenswert. Das ist, wie gesagt, ein Zeichen in die richtige Richtung.
Was die Frage der Motivation von Studierenden angeht, liegen wirklich wegweisende Vorschläge auf dem Tisch. Sie haben wenig mit der Landesregierung zu tun und viel damit, was die Fachbereiche Medizin der drei hessischen Universitäten mit Arztausbildung machen. Es hat etwas damit zu tun, wie sich insbesondere die Allgemeinmedizin engagiert. Würde die Landesregierung jetzt im Krankenhausgesetz die Frage der Weiterbildung, ihre Zuordnung und die Verpflichtung zur Teilnahme adäquat regeln und eine Krankenhausplanung machen, in der die Weiterbildung ein Bestandteil ist, dann wäre das Ganze noch viel erfolgreicher. Aber genau an der Stelle, an der die Landesregierung tätig werden könnte, bleibt es bestenfalls im Wolkigen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Eine Vielzahl von Kooperationspartnern engagiert sich in unterschiedlicher Intensität. Herr Kollege Bartelt hat schon
auf das nicht immer ganz einfache Verhältnis zur Kassenärztlichen Vereinigung, z. B. bei der Beurteilung des Abbaus der Überversorgung, hingewiesen. Ansonsten stellen wir fest, dass die Kooperationspartner durchaus engagiert sind. Würde sich die Landesregierung auch mit mehr Engagement daranmachen, kämen wir weiter.
Erlauben Sie noch einen letzten Punkt; denn auch in der Frage „Pflege zukunftsfest gestalten“ wird zu Recht auf das Problem des Fachkräftemangels eingegangen. Solange man nicht für ordentliche Arbeitsbedingungen sorgt, wird der Fachkräftemangel nicht in den Griff zu bekommen sein, meine Damen und Herren. Deshalb brauchen wir gesetzliche Personalmindeststandards für unsere Krankenhäuser, damit denen, die da arbeiten sollen und die das für ganz wenig Geld und mit ganz viel Engagement tun, endlich Arbeitsbedingungen geboten werden, die ihrer Tätigkeit angemessen sind. Dann kämen wir weiter. Bis zu einer wirkungsvollen Förderung der Gesundheitspolitik durch die Landesregierung ist es auch mit diesem Pakt noch ein weiter Weg. – Vielen Dank.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ohne Zweifel ist der Anlass für diese Aktuelle Stunde ein überaus tragischer und bedauernswerter Todesfall eines Kindes. Doch darf die Aktualität dieser Berichterstattung nicht darüber hinwegtäuschen – das muss an dieser Stelle deutlich gesagt werden –, dass Infektionskrankheiten, insbesondere virale Erkrankungen, als Todesursache bei Kindern eine absolute Rarität sind. Kinder in diesem Land sterben an Unfällen und an Suiziden weitaus häufiger als an Infektionskrankheiten.
Unsere Aufmerksamkeit auf einen einzelnen konkreten Fall zu lenken und dem an dieser Stelle eine solche Bedeutung zu geben, läuft Gefahr, darüber hinwegzutäuschen, an welchen Stellen weitaus mehr Handlungsbedarf zum Schutz unserer Kinder bei gesundheitlichen Fragen angebracht ist.
Die Impfquote in Hessen ist – so sagt es uns das Robert Koch-Institut – weitgehend durchschnittlich. Sie liegt geringfügig darüber. Darüber wollen wir uns nicht streiten. An dieser Stelle bleibt es aber ein bisschen enttäuschend – bei der Intensität, mit der in Hessen die Impfung eingefordert wird, nämlich durch das Kindergesundheitsschutz-Gesetz, das wir damals in großer Einmütigkeit getragen haben, das aber leider schon bei seiner ersten Novelle keine Evaluation zu den Wirkungen vorzeigen konnte –, dass Hessen trotz dieser Gesetzgebung nur knapp über dem
Durchschnitt der Impferfolge liegt. Dies sollte ein Anlass sein, noch einmal zu überprüfen, warum eigentlich nicht bis auf das 1 % – Herr Bocklet hat das eben erwähnt – der grundsätzlichen Impfverweigerer immer noch eine Differenz besteht. Immerhin 6 % der hessischen Kinder sind bei Einschulung nicht adäquat geimpft oder haben keinen Impfausweis, 1 % Verweigerer – bleibt noch eine ziemlich große Zahl, die man erreichen könnte, wenn man denn einmal schauen würde, an welcher Stelle das Gesetz, das in Hessen geltendes Recht ist, nicht adäquat umgesetzt wird.
An dieser Stelle sei ein weiterer Blick gestattet. Es gibt Bundesländer, die sind uns an diesem Punkt weit überlegen. Die erreichen eine Vorlage des Impfausweises von 98 %, im Unterschied zu 94 % in Hessen. Die erreichen Masernimpfquoten von fast 99 %.
Und wer ist das? Das sind alles die neuen Bundesländer, die eine lange Tradition in intensiver Pflege des öffentlichen Gesundheitsdienstes haben.
Auch in Hessen gab es einmal einen Gesetzentwurf der verehrten Kollegin Schulz-Asche für einen Ausbau des öffentlichen Gesundheitsdienstes. Das ist schon ein paar Jahre her. Dort sollten gerade die Aspekte der Prävention und der Kommunikation eines Public-Health-orientierten Ansatzes einen sehr viel stärkeren Raum einnehmen, als wir das heute haben. Man kann argumentieren – unzureichende Impfungen sind selten; dem würde ich zustimmen –, dass man besser sein kann, als wir es sind, und dass das insbesondere dort ist, wo der öffentliche Gesundheitsdienst eine sehr viel stärkere Position und andere Tradition hat als bei uns. Das sollte uns zu denken geben.
Meine Damen und Herren, zum Schluss. Natürlich ist es schön, wenn der Hessische Landtag appelliert – dem schließe ich mich voll und ganz an, liebe Kollegin –, jeder möge geimpft sein. Lieber Marcus Bocklet, ich bin nicht maserngeimpft, denn ich bin Jahrgang 1962, da gab es das noch nicht. Die Empfehlungen für die Impfung von Kindern unter 24 Monaten sind noch neueren Datums als die frühen Sechzigerjahre. Ohne Zweifel ist das ein großer Fortschritt.
Aber wenn wir hier appellieren, Menschen sollen geimpft sein, dann lautet doch die Frage: Was heißt das eigentlich für das politische Handeln des Landes? Der Landtag sollte ein bisschen mehr Anspruch an sich selbst stellen, als nur einen Appell an die Bürger zu richten.
Heißt das also, dass der Herr Staatsminister gleich ankündigen wird, dass die Mittel, die sehr bescheiden sind, für Aufklärungsmaßnahmen im Gesundheitswesen und die Mittel für die HAGE aus diesem Anlass und aufgrund des Appells aufgestockt werden? Heißt das, dass das Land sich für deutliche Verbesserungen im Präventionsgesetz des Bundes im Hinblick auf die Verstärkung der Impfquote einsetzen wird? Heißt das, dass die Mittel für die Hessische Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitserziehung erhöht werden? Und heißt das, dass wir diesem Appell auch praktische Geltung verschaffen, indem wir die Regelungen des Gesetzes über den öffentlichen Gesundheitsdienst im Hin
blick auf eine Stärkung der Impfquote verändern? – All das wäre die Aufgabe des Landtags, jenseits eines wohlmeinenden Appells. Ich bin gespannt, was der Herr Staatsminister uns dazu zu sagen hat.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Florian Rentsch,
das waren ja Schauergeschichten, mein lieber Mann. Der Zusammenbruch der medizinischen Versorgung steht bevor. Patienten werden gezwungen, sich fremden, ihnen völlig unbekannten und in der Regel inkompetenten Ärzten auszuliefern. Das Grauen förmlich – nein, nicht DDR, die haben Sie nicht genannt, nein, finsterster Ostblock droht uns dort, wie in den Fünfzigerjahren, als die Menschen massenhaft dahinsiechten, weil niemand mehr da ist, um sich um ihre Behandlung zu kümmern. Mein lieber Mann.
Im gesundheitspolitischen Bereich ist das immer dann relativ verbreitet, wenn es um die Interessen bestimmter Lobbygruppen geht. Manche politischen Gruppierungen empfinden es in besonderer Weise als ihre Aufgabe, die Interessen dieser Lobbygruppen wahrzunehmen. Dafür finanziert die Lobbygruppe im Wahlkampf auch große Wahlkampfveranstaltungen mit FDP-Politikern. Das hat auch nichts genutzt. Ich sage voraus: Auch dieser Beitrag wird die FDP nicht retten, nicht einmal in Bezug auf Ärzte.
Denn worüber reden wir bei der Sicherstellung der ambulanten Versorgung? Wir reden darüber, dass eine öffentliche Aufgabe, eine vor allen Dingen öffentliche Aufgabe, die sich aus den Grundrechten ergibt und die der Staat sinnvoll erfüllen sollte, von der damit beauftragten Körperschaft öffentlichen Rechts als Selbstverwaltung in der Vergangenheit nicht erfolgreich bestritten wurde. Darüber reden wir. Wir reden darüber, dass Leute um Wochen und Monate auf einen Arzttermin vertröstet werden – Leute, die 15 % ihres Einkommens dafür abdrücken, dass sie ordentlich versorgt werden. Das ist ein unerträglicher Zustand, und darüber reden wir.
Nachdem jahrelang versucht wurde, der Selbstverwaltung mit freundlichen Anregungen und Hinweisen Hilfsmittel zu geben, um sich darum zu kümmern, sie es aber nicht tun wollte oder konnte, hat endlich, endlich der Gesetzgeber an dieser Stelle mehr Verantwortung übernommen. Ich glaube, es reicht noch nicht, was da getan wurde. Aber immer
hin ist das ein deutlicher Schritt in die richtige Richtung. Es wird nämlich dafür gesorgt, dass die Menschen einen Anspruch auf eine ordentliche, zeitnahe Behandlung haben und dass die Kassenärztliche Vereinigung als der Träger dieser Versorgung auch Instrumente erhält, um dem nachzukommen. Das allerdings ist ein großer Fortschritt durch das Versorgungsstrukturgesetz.
Meine Damen und Herren, dann höre ich vom MVZ. Das MVZ ist der Ort, an dem niemand mehr einen Arzt aufsuchen kann, sondern nur noch Zuweisungsärzte bekommt.
Eigenartig. Ich kenne ein paar MVZ. Ich besuche die regelmäßig. Wenn ich mit denen rede, die dort arbeiten, und wenn ich mit Patienten rede, die dorthin gegangen sind, dann stelle ich ganz überrascht fest: Dort kann man anrufen. Da kann man einen Termin ausmachen. Da kann man sogar einen Termin mit dem Arzt ausmachen, zu dem man gehen möchte.
Ich glaube, dass der Begriff der freien Arztwahl mit: „Ich rufe an und suche mir den Arzt aus, von dem ich behandelt werden möchte“, adäquat umschrieben ist. Deshalb habe ich überhaupt kein Verständnis dafür, warum an dieser Stelle solche Schauergeschichten aufgetischt werden.
Nein, die Einführung der Terminservicestellen – also der Anspruch des Patienten, innerhalb von vier Wochen einen Termin beim Arzt zu bekommen – ist ein wichtiger Fortschritt. Das schafft Verlässlichkeit für die Patienten. Das erleichtert die Aufgabenerfüllung durch die Kassenärztliche Vereinigung, denn sie hätte das schon lange sicherstellen müssen. Endlich erhält sie Instrumente. Insgesamt schafft das eine deutlich bessere Versorgung. Deshalb sollten wir alle diese Regelung entschieden begrüßen.
Aber woher kommt das mit den Wartezeiten? – Da werden wir uns nicht einig werden. Das Problem dabei ist, dass diejenigen, die über die Zahlen verfügen, sie nicht herausrücken. Ich würde gerne die Frage, in welchem Umfang die Ärzte tatsächlich 90 % ihrer Arbeitszeit für 90 % der Versicherten zur Verfügung stellen, nämlich für die Kassenpatienten, einmal systematisch überprüfen. Ich würde gerne einmal wissen, wie viel Zeit niedergelassene Kolleginnen und Kollegen für Kassenpatienten in der Kassenarztversorgung aufwenden, wie viel Zeit sie für Privatpatienten aufwenden und wie viel Zeit sie insbesondere für IGeL-Leistungen aufwenden, also für Dinge, die man nicht braucht, den Patienten aber unter grenzwertiger Ausschöpfung des Vertrauens in ärztliche Empfehlungen noch obendrauf setzt und sie selbst bezahlen lässt. Welchen Umfang haben diese einzelnen Zeitbereiche?
Ohne Zweifel ist es so, dass an manchen Stellen das Versorgungsproblem daran liegt – der Widerspruch zwischen Überversorgung nach Planzahl und Unterversorgung nach der Wahrnehmung der Patienten –, dass manche niedergelassenen Kollegen gerade einmal 20 % ihrer Arbeitszeit für das aufwenden, wofür sie zu 90 % bezahlt werden – und ansonsten irgendetwas anderes tun, mit dem sich mehr Geld verdienen lässt. Meine Damen und Herren, das kann aber doch keine Rechtfertigung dafür sein, dass wir tatenlos zusehen, wie Patienten monatelang auf einen Arzttermin warten. Nein.
Genau dieses Problem wird endlich angegangen. Wenn wir dazu einmal adäquate Zahlen bekämen, wie viel Zeit die Ärzte für welchen Teil der Tätigkeit aufwenden, dann, lieber Florian Rentsch, müsstest auch du mir zugestehen, dass bei dieser Frage das Problem tatsächlich auf der ärztlichen Ebene liegt.
Wenn wir zu der Frage kommen, warum junge Ärztinnen und Ärzte nicht in die Fläche gehen, dann ist der Versuch, das Ganze mit Geld – und sonst gar nichts – regeln zu wollen, kläglich gescheitert. Das wundert einen auch nicht. Denn die verdienen nämlich auch so genug.
Das Problem der Sicherstellung der ärztlichen Versorgung in ländlichen Räumen hat doch nichts damit zu tun, dass man damit nicht genug Geld verdienen würde. Das hat etwas damit zu tun, welche Arbeitszeiten man dort verrichten muss. Denn Versorgung im ländlichen Raum heißt zwar nicht mehr sieben Tage die Woche 24 Stunden, bedeutet aber doch einen erheblichen Aufwand. Das hat damit zu tun, dass ein immer größer werdender Teil insbesondere junger Ärztinnen sehr viel mehr Wert auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf legt; und junge Ärzte inzwischen auch. Das hat damit zu tun, dass die Alleinverdiener-Hausarztmodelle aus den Fünfzigerjahren in Zukunft nicht mehr tragfähig sind.
Ich hätte eigentlich gedacht, dass eine Partei wie die FDP, die sich einmal als modern verstanden hat, sich auch einen vorsichtigen Blick auf die Zukunftsmodelle junger Generationen erlaubt – statt die Sätze der uralten Männer des ärztlichen Standes nachzuplappern, die immer noch in Kategorien der Alleinverdienerarztpraxis mit mithelfender Ehefrau denken. Diese Struktur wird es nicht mehr geben. Deshalb brauchen wir eine andere Versorgungsorganisation, sonst wird es im ländlichen Raum nicht gelingen.
Nicht, weil ich persönlich das möchte oder die SPD, sondern weil es das einzige Verfahren ist, um sicherzustellen, dass jungen Ärztinnen und Ärzten geregelte Arbeitszeiten angeboten werden können, dass flexible Arbeitszeiten angeboten werden können, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sichergestellt werden kann: genau deshalb brauchen wir die Möglichkeit, dass insbesondere jüngere Ärztinnen und Ärzte in Angestelltenverhältnissen arbeiten können, in denen sie vernünftige Arbeitszeiten planen können – indem man das gemeinsam organisiert oder indem es für einen organisiert wird.
Die Struktur, in der Ärztinnen und Ärzte im ambulanten Bereich als Angestellte arbeiten, nennt man MVZ. Das ist genau die Einrichtung, in deren Rahmen wir flexible Arbeitszeiten anbieten können.
Wie war das früher? Wenn jüngere Ärztinnen und Ärzte in ihrer Weiterbildungszeit eine Stelle bekamen, dann war das eine Stelle im Krankenhaus. Das hieß: 60 Stunden die Woche Dienst und Rufbereitschaft. Wenn sie eine Stelle in einer Praxis bekamen, bedeutete das eine Arbeitsbelastung in gleicher Höhe. Auch heute noch ist es nur sehr schwer möglich, im Betrieb einer Einzelpraxis zu nennenswerten zeitlichen Handhabbarkeiten zu kommen.
Was war das Ergebnis? In unserer Generation – Herr Dr. Bartelt wird es bestätigen – wurde eine ganze Reihe von Ärztinnen und Ärzten ausgebildet, die anschließend nie in diesem Beruf gearbeitet haben, weil das nämlich mit einer
Familie vollkommen unvereinbar war. Dieses Problem wird endlich gelöst. Das ist ein ganz wichtiger Schritt zu einer besseren Versorgung, auch in den ländlichen Räumen, weil wir die Arbeitsbedingungen denen anpassen, die da arbeiten sollen. Auch deshalb ist das Versorgungsstrukturgesetz ein wichtiger Fortschritt – sicher noch nicht das Ende des Weges, aber ein Schritt in die richtige Richtung.
Sie haben sich eben sehr ausführlich darüber ausgelassen, dass die Über- und Unterversorgung durch dieses Gesetz unzureichend geregelt werde. Dazu ist Folgendes zu sagen. Die Selbstverwaltung hat seit 1996, also seit dem letzten Jahrtausend, den Auftrag, sich mit der Frage adäquater Bemessungszahlen, also der Frage zu beschäftigen: Wie viel Arzt braucht der Mensch? Reicht es, zu sagen: „so viel Arzt, wie man 1991 pro Kopf hatte“? Oder sollte man das differenzierter betrachten? Sich dieser Frage zuzuwenden, hat die Selbstverwaltung seit 20 Jahren verweigert. Auch mit dem Versorgungsstrukturgesetz von 2011 ist das faktisch nicht gelungen. Jedenfalls hat sich der Gemeinsame Bundesausschuss dieser Frage überhaupt nicht zugewandt und auch nicht versucht, vernünftige soziodemografische Daten heranzuziehen – außer der Frage, wie alt die Leute sind –, um zu entscheiden, wie die Versorgung mit Ärzten gestaltet werden muss. Daran hängt doch das Problem. Ehrlich gesagt, dieses Problem kann für die Selbstverwaltung auch nicht gelöst werden.
Natürlich wäre es hilfreich, wenn wir eine vernünftige Gesundheitsberichterstattung hätten. Leider gibt es auch in dieser Beziehung aber keinerlei Ambitionen, auch nicht auf der Landesebene. Ich brauche mir nur anzuschauen, was im Hessischen Gesundheitspakt 2.0 steht. Da heißt es, es soll ein Gesundheitsreport erstellt werden. Darin soll stehen, wie viele Ärzte es in Hessen gibt. Das zu wissen ist zwar sehr hilfreich, aber die relevanten soziodemografischen Planungsdaten werden auch hier nicht erfasst. Das würde auch nicht viel nützen, weil sich die KV nach diesen Daten bislang ja nicht richten darf. An der Stelle besteht also auf beiden Ebenen erheblicher Handlungs- und Verbesserungsbedarf.
Darüber hinaus bekommt die Kassenärztliche Vereinigung eine ganze Reihe weiterer Instrumente, nämlich den Strukturfonds und den Innovationsfonds, um einen Beitrag dazu leisten zu können, die Versorgung in den ländlichen Räumen zu verbessern. Dieses Gesetz ermöglicht also eine ganze Reihe wichtiger, wenn auch nicht vollständiger Schritte, um den Herausforderungen an die ärztliche Versorgung – insbesondere in den heute oder zukünftig unterversorgten Bereichen – zu entsprechen und sich der Verantwortung für eine öffentliche Aufgabe, die Gesundheitsversorgung, wieder zu stellen. Deshalb glaube ich, dass wir an dieser Stelle sehr gut beraten sind, dem Antrag der FDP-Fraktion auf gar keinen Fall zuzustimmen.
Erlauben Sie in der zusammengeführten Debatte noch zwei Bemerkungen zu der Großen Anfrage und zu der Antwort darauf. Ohne Zweifel verdient die Landesregierung herzlichen Dank für die umfangreiche Beantwortung. Die Zahlensammlung ist allemal eindrucksvoll, auch wenn die Zusammenstellung der Zahlen über den Istzustand der ärztlichen und der weiteren medizinischen Versorgung sicherlich nicht ausreichend ist.
Was leider völlig fehlt – ich muss das leider jedes Mal betonen, vielleicht versteht es irgendwann einmal einer –, ist ein adäquater Umgang mit dem Thema gesundheitliche Prävention. Zu Ihrer Entlastung muss man sagen: Das Gesetz, das Herr Gröhe vorgelegt hat, ist mindestens genauso schlimm. Auch da besteht noch erheblicher Handlungsbedarf, was ein Präventionsgesetz auf Bundesebene angeht.
Herr Staatsminister, aber auch in Hessen passiert an dieser Stelle nichts. Bei allem Respekt: Depression und Übergewicht als „Lifestyleerkrankungen“ abzutun, für die soziodemografischen Bedingungen, die zu Burnout und zu Depression führen, und für die sogenannten Zivilisationskrankheiten – die in diesem Lande überwiegend Armutskrankheiten sind – den Begriff Lifestyle nach dem Motto zu verwenden, das seien quasi Vergnügungserkrankungen, wird den Tatsachen nicht gerecht. Ich weiß zwar, dass Sie hier einen Anglizismus für Wohlstands- und Zivilisationskrankheiten übernommen haben, aber die Konnotation des Wortes Lifestyle stellt im Deutschen doch ganz andere begriffliche Zusammenhänge her.
Wenn es eine wirklich dringende Herausforderung an die Gesundheitspolitik des Landes gibt – jenseits dessen, über das wir schon so oft gestritten haben, wie die Frage, ob man mehr oder weniger Krankenhäuser planen muss und wie man die Aufsicht über die Kassenärztliche Vereinigung wahrnimmt –, dann ist das doch die Vermeidung von Krankheiten. Die Vermeidung von Krankheiten muss vor allen Dingen der Bekämpfung des unerträglichen Zustandes dienen, dass in diesem Lande arme Menschen mehr als zehn Jahre kürzer leben als reiche Menschen. Herr Staatsminister, ein bisschen mehr Initiative in dieser Frage würden wir uns schon wünschen. Das ist kein Lifestyleproblem, sondern eine soziale Ungerechtigkeit in diesem Lande, die ihresgleichen sucht. Wenn Sie hier einmal ein bisschen Initiative zeigen würden, wären Sie unserer vollen Unterstützung und Begeisterung gewiss.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Anlage würde längst laufen, wenn die CDU und die Regierung so klug gewesen wären, unseren Ratschlägen zu folgen, und von vornherein anständig Druck ausgeübt hätten, statt sich jahrelang am schulz-ascheschen Nasenring durch die Manege führen zu lassen, bis sie endlich zu einem Ergebnis kamen.
Ich will ganz ausdrücklich das Ergebnis loben.
Ich will ausdrücklich loben, dass nun endlich damit zu rechnen ist, dass die Partikeltherapieanlage in Betrieb ge
nommen wird, wenn auch, wie vor Ort zu hören ist, eher trotz als wegen der Bemühungen der Landesregierung.
Aber es ist nun wahrlich kein Anlass zu hemmungslosem Jubel, wenn eine von einem wortbrüchigen Vertragspartner eingegangene Verpflichtung mit drei Jahren Verspätung – wofür ihm 100 Millionen € Kaufpreis erlassen wurden – endlich erfüllt wird. Das ist in Ordnung. Ein Anlass zum Jubeln ist es nicht.
Dass dafür die Mehrheit an der Anlage den Heidelbergern überlassen werden musste, obwohl sie mit hessischem Geld bezahlt worden ist, ist auch kein Anlass zum Jubeln. Zusammenarbeit – ja, ohne jeden Zweifel, aber Unterwerfung – nein. Herr Kollege, ein Verhältnis von 75,1 % zu 24,9 % als eines auf Augenhöhe zu bezeichnen, ist mutig.
Es ist richtig, dass diese Methode weiter erforscht wird, vernünftigerweise am onkologischen Schwerpunkt in Marburg. Auch das ist richtig. Warum allerdings die Landesregierung, obwohl der onkologische Schwerpunkt in Marburg ist, toleriert, dass die Kinderonkologie irrationalerweise in Gießen bleibt, verstehe ich nicht. Vielleicht kann es uns der Herr Staatsminister nachher erklären.
Wesentlicher aber ist – auch deshalb gibt es keinen Anlass zum Jubilieren, sondern es muss ernsthaft und besonnen mit der Frage umgegangen werden –, dass es in Deutschland pro Jahr etwa 500.000 und in Hessen pro Jahr etwa 40.000 Krebsneuerkrankungen gibt. In Marburg werden, wenn die Anlage einmal läuft, maximal 1.000 Behandlungen pro Jahr möglich sein. Allein diese Gegenüberstellung macht deutlich, es bleibt eine wissenschaftliche Anlage, deren Wirksamkeit nur bei der Behandlung ganz weniger Tumore nachgewiesen ist. Sie steht nun für immer mehr Patienten zur Verfügung, aber selbst in der Zusammenarbeit mit der Universitätsklinik Heidelberg allenfalls bei der Behandlung von rund 0,5 % der jährlichen Krebsneuerkrankungen.
Machen wir uns klar: Diese Methode soll und muss weiter erforscht werden. Aber so zu tun, als wären damit der finale Durchbruch, die endgültige Lösung und das unmittelbare Heilungsversprechen für Tausende von Krebserkrankten gewährleistet, geht weit über die aktuellen Möglichkeiten hinaus. Das zu behaupten wäre unredlich.
Wollte man solche Anlagen, die Siemens gar nicht mehr bauen will, auch nur für die Hälfte der an den drei häufigsten Krebsarten – diese gelten alle als geeignet – neu erkrankten Patienten zur Verfügung stellen, würden Investitionskosten anfallen, die ungefähr 15 % des Jahresvolumens der Krankenkassen beanspruchen würden. Das ist in den Fällen, für die es geeignet ist, richtig. Aber natürlich muss man sehen, dass das am Ende vermutlich nur einem begrenzten Teil der Patienten zur Verfügung stehen wird.
Jubelanträge über Selbstverständlichkeiten, nämlich die Einhaltung einer Vereinbarung, dienen allerdings nur einem Punkt: davon abzulenken, was alles an Problemen vorliegt.
Ich habe vor zwei Wochen einen Tag auf einer Station verbracht, auf der ich vor 15 Jahren gearbeitet habe. Ich will nicht über Details reden. Es war eine freundliche Geste des Krankenhauses, das zuzulassen. Ich will nur so viel sagen: Nach allem, was ich dort von den Mitarbeitern gehört und selbst gesehen habe, war ich nicht überrascht. Ich glaube, mehr muss man nicht sagen.
Meine Damen und Herren, in dieser Frage wäre es richtig, wenn sich auch die Mehrheit in der Lage zeigte, etwas mehr Lauterkeit, etwas mehr Selbstkritik und etwas mehr Reflexion an den Tag zu legen.
Kein Mensch, der sich auch nur fünf Minuten lang damit beschäftigt hat, hält die Privatisierung für ein Erfolgsmodell.
In Wahrheit wissen Sie das alle selbst. Jetzt kommt es darauf an, gemeinsam zu eruieren, wie die Probleme, die dadurch entstanden sind, gelöst werden können. Seit dem Jahr 2006 bieten wir Ihnen gebetsmühlenartig an, bei der Lösung dieser Herausforderungen zu kooperieren; das Scheitern des Universitätsklinikums Gießen und Marburg kann nämlich keine Option sein, und man muss deshalb gemeinsam schauen, wie man aus Ihrer falschen Entscheidung das Beste machen kann.
Dieses Angebot haben Sie bislang an keiner Stelle annehmen wollen. Stattdessen bekommen wir Selbstlob und – wie heute wieder – Jubelanträge vorgelegt. Ich will das Angebot erneuern. Die Herausforderungen sind die Verbesserung der Qualität und die Stärkung des Vertrauens der Menschen, die auf dieses Krankenhaus angewiesen sind. Ich will das ganz deutlich sagen: Das Universitätsklinikum Gießen und Marburg ist – nicht wegen, sondern trotz Ihrer Privatisierung – ein gutes Krankenhaus, weil die Beschäftigten die Folgen der Privatisierung mit Engagement, Mehrarbeit und Selbstüberforderung kompensieren.
Warum müssen sie das? Weil die Investitionen, die Sie mit lockerer Hand in den Haushalt für Frankfurt einstellen, in Gießen und Marburg von einem privaten Träger bezahlt werden, der die Investitionssumme im Betrieb erwirtschaften muss, und weil der Ausgleich genau dieser Differenz an der Arbeitsleistung der Beschäftigten hängen bleibt. Dabei hätte eine Jahrestranche HEUREKA gereicht, um diese Investitionen zu tätigen. Stattdessen wird das mit einer Arbeitsverdichtung für die Beschäftigten bezahlt.
Vielleicht lassen sich nächstes Jahr manche Auseinandersetzungen leichter in Kooperation umwandeln. Ich jedenfalls bin da zuversichtlich.
Erstens ist es nämlich nötig, dass wir über die Parteigrenzen hinweg zu einer Kooperation kommen, die sich den aktuellen Problemen stellt. Ich für meinen Teil war dieses Jahr schon zweimal mit der Geschäftsleitung im Gespräch über genau diese Frage, nämlich wie man das gemeinsam
lösen könnte. Die Geschäftsleitung des Universitätsklinikums Gießen und Marburg wäre froh, wenn sie diesbezüglich landespolitische Einigkeit vorfände.
Sie wäre froh, wenn wir an der Stelle kooperieren würden. Das Angebot steht seit sieben Jahren. Nur die Landesregierung – Herr Staatsminister, jedenfalls Ihre Vorgänger – verweigert sich konsequent einem gemeinsamen Dialog und der Kooperation und macht es damit auch dem UKGM schwerer. Aber ich will die Hoffnung nicht aufgeben.
Zweitens. Der Einfluss des Landes muss gestärkt werden, damit überhaupt Einfluss genommen werden kann und die Rolle des Landes Relevanz erlangt. Meine Damen und Herren, wir hatten vor ein paar Jahren ein Schriftstück auf dem Tisch, in dem das vollmundig und lautstark versprochen wurde. Nichts ist seither passiert. Die notwendige Steigerung des Einflusses des Landes hat nicht stattgefunden. Wie wollen Sie denn die von Ihnen verursachten Probleme auf eine Art und Weise lösen, die das Vertrauen der Menschen in der Region stärkt? Das erreichen Sie nicht mit Jubelanträgen, und das erreichen Sie nicht, wenn Sie keinerlei Einfluss auf das Geschehen nehmen können – geschweige denn, es bislang nicht einmal wollen. Herr Staatsminister, ich will die Hoffnung an dieser Stelle aber nicht aufgeben.
Drittens. Wir brauchen Verfahren zur systematischen Erfassung der kritischen Ereignisse. Eine solche Evaluation bei der Privatisierung nicht zu vereinbaren, war fahrlässig, und es war fahrlässig, nicht daran zu denken, dass man das kritisch überprüfen muss. Das muss jetzt nachgeholt werden, und es ist insofern unverzichtbar, als die öffentliche Debatte versachlicht werden kann und nicht jede kleine Komplikation durch die Medien gejagt wird; denn das ist dem Standort nicht zuträglich.
Der Vorschlag einer solchen Kommission kam seinerzeit vom vorletzten Geschäftsführer, Herrn Rohrer. Ich meine, das Unternehmen steht dem offen gegenüber. Aber daran müssten dann alle Beteiligten mitwirken. Es geht sicherlich nicht ohne Vereinbarungen und ohne Zugeständnisse des Unternehmens, was die Frage der Personallage angeht. Die gegenwärtigen erneuten Abbaupläne sind da ganz bestimmt nicht hilfreich. Es geht auch nicht ohne das Engagement der Landesregierung bei der Finanzierung der Universitätsklinika.
Da greifen die Vereinbarungen zu den Krankenhäusern deutlich zu kurz, und da muss Herrn Gröhe seitens der Union klar gemacht werden: Der Systemzuschlag für Universitätskliniken ist unverzichtbar – ob es um Gießen und Marburg, oder Frankfurt, oder Freiburg und Tübingen geht. Man kann die Hochleistungszentren mit den teuersten Fällen nicht alleine lassen, ohne adäquat gegenzufinanzieren. Ganz egal, ob privatisiert oder nicht: Hier haben Sie viel zu tun.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Im Moment weiß niemand genau, wie sich die Mehrheitsverhältnisse am UKGM nach dem Sommer darstellen werden. Umso dringlicher ist eingefordert, dass die Landesregierung den Auftrag, sich allen Optionen zu öffnen, die sich bei einem Change of Control ergeben, endlich erfüllt. Wir sind gespannt, zu hören, welche Gedanken Sie sich dazu nach drei Jahren in der Zwischenzeit gemacht haben.
Zum Schluss gilt: Entweder ist die Mehrheit in diesem Haus endlich bereit, selbstkritisch ihre Entscheidung zu überprüfen und gemeinsam zur Lösung der dadurch initiierten Probleme zu kommen, oder die zwei teuersten Einrichtungen im Bildungsbereich des Landes werden Schaden nehmen. Das kann niemand wollen. – Vielen Dank.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine Vorbemerkung. Am 16. Januar wurde der Antragsentwurf der SPD zum Gedenken an den 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz den Fraktionen der CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, DIE LINKE und der FDP zugesandt mit der Bitte um Stellungnahme für einen gemeinsamen Antrag. Seitens der FDP und der LINKEN kamen Hinweise, seitens der GRÜNEN Ablehnung. Eine Rückmeldung der CDU steht bis heute aus. Wo hier parteiliche Instrumentalisierung des Gedenkens liegen kann, möge jeder selbst beurteilen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, am 27. Januar 1945 wurden die Gefangenen des Konzentrationslagers Auschwitz durch die 322. Infanteriedivision der Roten Armee befreit. Von den noch angetroffenen überlebenden Häftlingen verstarben viele trotz medizinischer Hilfe in den folgenden Tagen. Mindestens 1,2 Millionen Menschen waren bis dahin allein an diesem Ort systematisch misshandelt, gedemütigt, missbraucht und ermordet worden.
Noch heute glaubt man an der Rampe in Auschwitz zu spüren, wie Menschen damals sortiert wurden, ob sie sofort in der Gaskammer oder langsamer im Arbeitslager ermordet würden oder von Josef Mengele für medizinische Experimente benutzt werden sollten. Ein Ort, an dem die Grenzenlosigkeit des Verbrechens, die totale Entmenschlichung der Verbrecher eine kaum auszuhaltende Beklemmung auslöst. Es ist die Unterteilung in verwertbare und unwerte Menschen. Es ist die Entmenschlichung durch Reduzierung auf das eine Merkmal, das Verneinung bis zur Vernichtung begründen sollte. Die Monstrosität des Ortes lässt immer noch die Monstrosität der Taten ahnen.
Verbrechen sind immer unfassbar. Aber erst der Plan zur vollständigen Vernichtung der gesamten jüdischen Bevölkerung Europas und noch mehr die bürokratische, nach der Wannsee-Konferenz industriell organisierte Umsetzung des Massenmordes machen die Geschehnisse so unvergleichlich und jenseits aller anderen menschlichen Verbrechen zur singulären Katastrophe. Es ist diese Singularität, die die besondere unauslöschbare Verantwortlichkeit der
Nation der Nachfahren der Täter begründet, jene Verantwortlichkeit, der wir uns immer neu stellen müssen.
Gewiss, es gibt kaum einen Staat, der in seiner Geschichte immer frei blieb von schuldhafter Verstrickung in Krieg und Gewalt. Der Völkermord an den Juden jedoch ist beispiellos in der Geschichte.
So Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985. Es diese Einzigartigkeit des Verbrechens, die die dauerhafte Gegenwärtigkeit der Erinnerung erzwingt. Noch einmal von Weizsäcker:
Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird.
Es kommt also auf schmerzhafte Klarheit an, jenseits obskurer Debatten des Historikerstreits oder um kleinliche Deutungshoheiten. Deshalb bleibt es doch zumindest zum Tag der Befreiung von Auschwitz, zumindest zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus unangemessen, wenn – das ist der einzige wesentliche Unterschied zwischen den beiden vorliegenden Anträgen – Sie in Ihrem Antrag die Benennung der Einzigartigkeit durch den Plural der Diktaturen ersetzen. Deswegen und nur deswegen werden wir uns bei Ihrem Antrag enthalten.
Noch einmal von Weizsäcker:
Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.
Es waren sehr mutige Menschen, die sich dem Nicht-erinnern-Wollen entgegenstellten, die konsequent die Aufklärung und Verfolgung der Verbrechen in den Konzentrationslagern betrieben haben. Sie verdienen allergrößten Respekt, allen voran der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer.
Sich erinnern, jede und jeder, persönlich, und den nachwachsenden Generationen die Erinnerung zu vermitteln bleibt deshalb dauerhafte Aufgabe. Aber ist sich erinnern zu wollen heute noch die alleinige Frage? 1985 stellte sie sich allerdings noch.
Heinrich Wefing schreibt in dieser Woche in der Zeitschrift „Die Zeit“, wir befinden uns „an der Schwelle zwischen der persönlichen Erinnerung und der musealen Gedächtniskultur“. Schon mein eigener jüngster Bruder hat kaum eine Erinnerung an den Großvater, der, wohl nur ein Mitläufer, selbst einmal eine Waffen-SS-Uniform besaß.
Die Herausforderung der Gegenwart ist deshalb nicht nur das historische Gedenken. Die Herausforderung der Gegenwart ist die Identifikation der Wurzeln der Unmenschlichkeit und ihre Benennung im Alltäglichen. Es kommt auf die Anfänge, auf die kleinen Momente der Unmenschlichkeit an.
„Ein bisschen steckt in jedem Kind das, was man den Faschismus nennt“, schreibt Hanns Dieter Hüsch. Wie dem begegnen? – Die Gefahr der Gegenwart ist sicherlich keine Machtübernahme faschistischer Verbrecher. Und doch sind die Gefahren rechtsextremer Gewalt gegenwärtig und präsent. Über 100 Menschen wurden in den letzten 20 Jahren aus rassistischer Verneinung ihrer Existenzberechtigung
auf unseren Straßen erschlagen. Jubelnde Massen schauten in Hoyerswerda zu.
Kann der Gegenwart der Unmenschlichkeit wirklich allein mit der Erinnerung an ihr größtes Verbrechen begegnet werden? – Ich glaube, wer sich allzeit zum Mitmenschlichen, d. h. zum empathischen Einfühlen jedem gegenüber fähig erhält – und das betrifft natürlich besonders diejenigen, die es schwerer haben oder bei denen wir Vorbehalte haben könnten –, wer sich vor den niedrigen Impulsen des Ressentiments, von denen niemand, der selbstkritisch ist, völlig frei ist und auch keiner völlig frei sein kann, wer sich also vor diesen Impulsen selbst durch Reflexion schützt, wer jeden anderen in der Gewissheit der Wertschätzung belässt, wer jedem und jeder Achtung, Akzeptanz, Freiheit und Sicherheit schenkt, jedem und jeder, der schützt sich und uns alle.
Der potenziell grenzenlosen Unmenschlichkeit tritt das allgegenwärtige Bemühen um Mitmenschlichkeit entgegen. Vergessen wir niemals Opfer und Täter. Seien wir aufmerksam alle Zeit. „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ – Vielen Dank.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie schön, wenn das Schöne schön ist und ein Schönes noch schöner gemacht werden soll.
In einträchtiger Schönheit hörten wir eine fast schon Eröffnungsrede, auch wenn das Objekt noch nicht ganz fertig ist.
Wir Sozialdemokraten unterstützen diese Initiative, und, ja, wir sind uns alle einig im schönen Wollen des schönen Museums des Parks des Brentano-Hauses.
Meine Damen und Herren, so schön das alles ist: Was hat eine solche Debatte im Parlament verloren?
Ohne Zweifel können kulturpolitische Debatten, wenn sie denn stattfinden, eine Sternstunde des Parlamentarismus sein – nicht nur das Salz, nein, auch noch Thymian, Petersilienwurzel, und etwas Kerbel in der Plenarsuppe –, wenn sie denn stattfinden.
Kulturpolitische Debatten sind Debatten an Symbolen: Nicht nur der konkrete Gegenstand, sondern die im Symbol ausgedrückten weitreichenden, dahinter liegenden Auffassungen zu Grundfragen der Gesellschaft werden mit behandelt. Denn genau darum geht es bei Kultur: um Äußerungen zu den grundsätzlichen Fragen.
Denken wir nur an die Debatte um das Holocaust-Mahnmal in Berlin. 20 Jahre lang blieb nichts, aber auch gar nichts unumstritten – wem gewidmet? welcher Standort? die ästhetische, die politische Legitimation, die Größe, selbst das Material –, eine Debatte entlang der Wendungen
der Nachkriegsgeschichte. Lebendig, fruchtbar, Orientierung gebend, gerade weil keine oberflächliche Einigkeit in Harmoniesurrogaten bestand.
Das gilt sogar im Kleinen, im ganz Lokalen, in meinem Wahlkreis, wenn die Frage um Zukunft und Standort eines Denkmals des Marburger Jäger-Bataillons wiederholt gar den Petitionsausschuss des Landtags und die Kommunalaufsicht bewegt. Oder denken wir nur ans Erbacher Schloss und die Debatte um Schloss, Sozialwohnungsbau und Geweihsammlung.
Welche Kraft die Auseinandersetzung in der kulturellen Debatte haben kann, können wir – und zwar in übelster Form – an der Denkmalstürmerei von der Antike bis zur Gegenwart sehen, wenn sie versucht, Geschichte zu verhindern.
Meine Damen und Herren, anderswo werden solche Debatten geführt. Am Montagabend dieser Woche hat der französische Staatspräsident Hollande das Nationale Museum für die Geschichte der Einwanderung in Paris eingeweiht.
Das Museum wurde bereits 2007 eröffnet. Es ging auf Jospin zurück, der sich als integrationsoffen erweisen wollte. Zu jener Zeit war allerdings Sarkozy Präsident, und dieser hat sich aus integrationspolitischen Erwägungen heraus geweigert, das Museum einzuweihen. Hollande holt die versäumte Einweihung sieben Jahre später demonstrativ als Bekenntnis zur Rolle Frankreichs als traditionelles Einwanderungsland nach, auch deshalb, um sich von dem wieder erstarkten Oppositionspolitiker Sarkozy und seinen Ideen abzugrenzen.
Dass an kulturellen und kulturpolitischen Symbolen grundsätzliche Fragen des Staates, der Gesellschaft, der Interpretation von Grundsatzfragen und Werteentscheidungen ausgetragen werden und ausgetragen werden können, ist richtig und sinnvoll. Die kulturpolitische Debatte – insbesondere dann, wenn am Ort der Spannungen geführt wird – ermöglicht ein elegantes, zugleich aber auch diskursfähiges An- und Aussprechen der Konflikte, die ausgetragen werden müssen. Sie ermöglicht die Klärung wichtiger und kritischer Fragen, die beratungsbedürftig sind. Einigkeit bedarf keiner Debatte. Sie quält allenfalls durch Langeweile.
Nun findet in dieser Plenarsitzung eine kulturpolitische Debatte statt. Dass das überhaupt passiert, ist allerdings ein Lichtblick. Und es ist nicht einfach nur ein Antrag: nein, in der wenigen Zeit, die für Debatten zur Verfügung steht, ein Setzpunkt, ein inhaltlicher Schwerpunkt der Mehrheitsfraktion. Doch was ist der Gehalt der Debatte? Was ist der Gegenstand der kulturellen Auseinandersetzung?
Wir hörten eine schöne Einführungsrede – etwas zu früh. Der Kauf und der Erhalt des Brentanohauses werden nicht erst seit heute diskutiert. Die Frau Kollegin hat eben dankenswerterweise darauf hingewiesen, wie lange die Debatte schon geführt wird und wer sich engagiert hat. Die Sozialdemokratie hat letztes Jahr gar ein Nutzungskonzept vorgelegt. Niemand ist wirklich dagegen, und es geht ja auch um eine schöne Sache. Es ist zutreffend: Wir alle sind dafür.
Aber wenn es denn so einmütig ist, meine Damen und Herren, warum debattiert das Parlament darüber? Was ist der
Gehalt der Debatte? Sind wir der Werbeblock zur Verkündigung, sind Flyer zu teuer, sollen wir den Radiospot zur Einweihung ergänzen? Oder – das wäre schlimmer – traut die Mehrheit Ihrer Pressestelle nicht zu, die Pläne der Regierung ordentlich bekannt zu machen, Herr Staatsminister?
Was soll eine derartig unpolitisch-biedermeierliche Harmonie – noch dazu an einem Gegenstand der Romantik? Die Romantik: die Kultur der Leidenschaften, wo es stürmt und drängt, persönliche, kulturelle, soziale, in Poesie geformte Emotionalität, manchmal unheimlich, manchmal überzogen, manchmal gefährlich, aber immer offen, ehrlich, authentisch. Eine solche Debatte über Kultur wäre der Romantik angemessen. Und was machen Sie? Selbstloberfülltes, weihrauchvernebeltes Parlamentsgerede. Herr Staatsminister, Sie haben das doch gar nicht nötig.
Im Gegenteil, wenn die Mehrheit mit solcher parlamentarischen Wucht ihre Initiativen kundtun muss, dann kommen einem doch eher Zweifel. Wir sind uns bezüglich Brentanohaus, Romantikmuseum und Osteinischer Park doch einig. Wenn es aber gar nichts auseinanderzusetzen gibt, dann bedarf es doch keiner Debatte an dem Ort, an dem der Wille des Volkes in allgemeine Gesetze zu überführen ist. Warum dann dieser Setzpunkt?
Schaut man sich die Reihe der Regierungserklärungen an, die wir in dieser Legislaturperiode erleben durften: ein Sammelsurium der Oberflächlichkeiten und der Nichtssagenheit. Dann allerdings passt der Antrag gut: biedermeierliches Stillhalten, bloß keine Substanz hervorkommen lassen. Eine Politik wie Kuschelrock und Helene Fischer.
Und das ausgerechnet in einer kulturpolitischen Debatte. Statt produktiver Kräfte, die den Landtag und natürlich auch diese Koalition auszeichnen könnten, statt gesellschaftlicher Grundsatzreibungspunkte, aus denen produktive Bewegung entstehen könnte – endlich auch einmal in diesem Parlament –, schütten Sie uns zu mit Knödel-Kleister-Pampe aus Spitzwegbildchenküchen. Einen solchen Diskurs haben brentanosche Leidenschaften nicht verdient.