Protokoll der Sitzung vom 22.02.2018

In der Beratung beginnt die Fraktion der CDU. – Frau Kollegin Seibeld, Sie haben das Wort!

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Frage der medizinischen Altersfeststellung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge geht es vor allem um die Akzeptanz der Flüchtlings- und Integrationspolitik in Deutschland. Es geht aber auch darum, ein deutliches Signal an diejenigen Menschen zu senden, die auf der Flucht vor Krieg und Vertreibung zu uns kommen. Denn nur wer sich an Regeln und Gesetze hält, wer also in diesem Fall zutreffende Angaben zu seiner Identität macht, kann hier auf Aufnahme und Unterstützung hoffen.

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Strikte und verbindliche Regeln sind hier zwingend erforderlich. Wer diese nicht herstellt, verschwendet Vertrauen in unser demokratisches und rechtstaatliches System.

Die Flüchtlingspolitik der letzten Jahre hat zu einer Polarisierung in Teilen der Gesellschaft geführt. Dafür gibt es immer wieder Anlässe wie kürzlich den Mordfall an der fünfzehnjährigen Mia in Kandel in Rheinland-Pfalz, die bei einer Messerattacke so schwer verletzt worden ist, dass sie anschließend verstarb. Der mutmaßliche Täter war ein angeblich gleichaltriger Exfreund, der aus Afghanistan im Jahr 2016 nach Deutschland gekommen ist und sein Alter seinerzeit mit 14 Jahren angegeben hatte. Im Zuge der strafrechtlichen Ermittlungen ist jetzt festgestellt worden, dass er mindestens siebzehneinhalb, bestenfalls 20 Jahre alt ist, also in jedem Fall zweieinhalb Jahre älter, als er selber angegeben hatte. Das ist nur eines der aktuellen Beispiele für ein sehr missbrauchsanfälliges System.

Allein in Berlin wurde von 2014 bis August 2016 bei 1 273 Flüchtlingen die Angabe der Minderjährigkeit durch Untersuchungen widerlegt. Im Saarland gibt es eine sogenannte zentrale Vorclearingstelle. Von Februar 2016 bis Anfang 2018 hat es 528 junge Flüchtlinge gegeben, bei denen es nach oberflächlicher Betrachtung und

(Henner Schmidt)

Befragung bereits Zweifel an der angegebenen Minderjährigkeit gegeben hat. Deshalb wurden sie radiologisch untersucht. Ergebnis: 254 der Flüchtlinge wurden als volljährig eingeschätzt.

In Hamburg hat es der Landesbetrieb Erziehung und Beratung im vergangenen Jahr mit 772 jungen Flüchtlingen zu tun gehabt. 96 junge Flüchtlinge, bei denen die Zweifel nicht ausgeräumt werden konnten, wurden untersucht. Im Wesentlichen wurde die Volljährigkeit festgestellt.

Das Jugendamt in Stuttgart zählte im vergangen Jahr 227 junge, unbegleitete Flüchtlinge, die behaupteten, sie seien minderjährig. Nach Angaben des stellvertretenden Jugendamtleiters, Heinrich Korn, wurden 33 Prozent als volljährig eingestuft.

Klar ist, dass eine taggenaue, auch eine monats- oder konkret jahrgenaue medizinische Altersfeststellung vermutlich nicht möglich sein wird. Behörden und Gerichte brauchen dies aber auch nicht. Sie müssen vielmehr wissen, ob ein Jugendlicher 14, 18 oder 21 Jahre alt ist. Die Ungenauigkeiten, die es gibt, müssen selbstverständlich zugunsten des Jugendlichen ausgelegt werden.

Das Ziel muss eine bundeseinheitliche Regelung zur medizinischen Altersfeststellung sein. Dies fordert zum Beispiel auch der Städte- und Gemeindebund. Hintergrund ist, dass die Jugendämter in den einzelnen Bundesländern, aber auch in den einzelnen Gemeinden ganz unterschiedliche Herangehensweisen haben, das Alter festzustellen. Ziel muss es sein – und zwar nur dann, wenn Zweifel an der Altersangabe des Jugendlichen bestehen –, mit medizinischen Maßnahmen, die sich zusammensetzen aus der Begutachtung äußerlicher Merkmale, aus der Röntgenaufnahme der Hand oder Schlüsselbeine, aus der zahnärztlichen Untersuchung Klarheit zu erlangen. International – in Schweden, Österreich und Belgien – gibt es durchaus noch weitere Untersuchungsmethoden, die man sich möglicherweise wissenschaftlich betrachten und daraufhin angucken müsste.

Das Gegenargument des körperlichen Eingriffs, das wegen der Röntgenstrahlen immer wieder vorgebracht wird, verfängt aus meiner Sicht nur eingeschränkt. Zunächst ist niemand gezwungen, unzutreffende Angaben zu machen, wenn er in unser Land einreist. Und im Übrigen beläuft sich die röntgenologische Belastung auf ein Tausendstel dessen, was im Jahr ohnehin an Röntgenstrahlen aufgenommen wird, fällt also letztlich kaum ins Gewicht. Zudem gibt es neue Methoden, mit denen eine Altersfeststellung durchaus ohne medizinische Nebenwirkungen möglich ist, beispielsweise mit einem neu entwickelten Ultraschallgerät.

Noch ein wesentlicher Grund spricht für eine verbindliche medizinische Altersfeststellung. Die Unterbringung

von jungen Erwachsenen, die mehr Lebenserfahrungen haben, mehr erlebt haben, häufig traumatisierter sind, zusammen mit tatsächlich Minderjährigen, mit 12-, 13-, 14-Jähringen, schadet beiden. Der junge Erwachsene ist nicht mehr in der Situation, dass er die Betreuung eines 14-Jährigen benötigte, und auf den 14-Jähringen wirkt sich die Unterbringung mit 21-Jährigen auch nicht günstig aus.

Festzustellen bleibt allerdings auch, dass eine Altersfeststellung nie ganz exakt möglich sein wird. Um dem Rechnung zu tragen und den Anreiz dafür abzusenken, sich in Deutschland als Minderjähriger auszugeben, obwohl es nicht den Tatsachen entspricht, sollten wir Regelungen finden, mit denen junge Erwachsene, jedenfalls bis zum Alter von 21 Jahren, vielleicht auch darüber hinaus, weitergehende Leistungen bekommen als sie es als Erwachsene täten. Wir sollten die zusätzlichen Leistungen für junge Flüchtlinge also nicht mit dem 18. Geburtstag enden lassen. Förderungen, um in Beruf oder Ausbildung anzukommen, bei Bedarf eine psychosoziale Betreuung durch eine feste Bezugsperson wären auch nach dem 18. Geburtstag noch wünschenswert. – Vielen Dank!

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der FDP]

Für die Fraktion der SPD hat jetzt die Abgeordnete Frau Korte das Wort. – Bitte schön!

[Beifall von Lars Düsterhöft (SPD)]

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir beraten heute über einen Antrag der CDUFraktion, der medizinische Altersfeststellungen bei geflüchteten Jugendlichen als Regelfall einführen will. Der Titel Ihres Antrags beginnt allerdings anders, nämlich: „minderjährige Flüchtlinge, die keine sind“. – Diese Formulierung halte ich für irreführend und provozierend, denn wir reden über Geflüchtete, die welche sind.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN – Gunnar Lindemann (AfD): Nee!]

In Ihrem Antrag fordern Sie, dass die medizinische Altersfeststellung, die heute bereits in § 42f SGB VIII verankert ist, zum Regelfall wird. Neben dieser gut funktionierenden, im Gesetz verankerten Rechtslage gibt es medizinische Gründe und auch ganz praktische Gründe, Ihre Forderung abzulehnen. Ich möchte mit dem beginnen, was heute schon – anders als es von Ihnen mit den im Antrag genannten Zahlen suggeriert wird – funktioniert. Das ist das in § 42 festgelegte, stufenweise interdisziplinäre Verfahren. Die darin verankerte qualifizierte

(Cornelia Seibeld)

Inaugenscheinnahme, die durchgeführt wird, wenn das Alter anhand von Ausweispapieren nicht zweifelsfrei bestimmt werden kann, bietet eine Vielzahl an Möglichkeiten.

[Gunnar Lindemann (AfD): Von 1 bis 100!]

Erfahrenes, gut ausgebildetes und sachverständiges Personal geht dabei systematisch und professionell vor. Sozialpädagoginnen und -pädagogen des Landesjugendamtes und Psychologinnen und Psychologen eines freien Jugendhilfeträgers arbeiten dabei Hand in Hand. Bei Bedarf sind Befragungen weiterer Personen oder die Einsicht in die Unterlagen möglich. All dies geschieht ohne unverhältnismäßigen Aufwand für die ausführenden Stellen und ohne unverhältnismäßige Risiken oder Eingriffe für die Betroffenen. In Zweifelsfällen sind medizinische Untersuchungen bereits heute möglich. Sie sind aber nur in wenigen Fällen nötig.

Und das ist der nächste irreführende Punkt Ihres Antrags: Die Zahlen, die Sie nennen, zeigen in keinster Weise, dass die Inaugenscheinnahmen zu fehlerhaften Ergebnissen und zu hohen Dunkelziffern führen. Sie suggerieren etwas, das Sie nicht belegen können.

Ich möchte auf einen weiteren Aspekt eingehen. Der betrifft die Frage der Belastbarkeit der Ergebnisse der medizinischen Untersuchungen. Diese wird von wissenschaftlicher Seite stark bezweifelt, denn es wird nicht davon ausgegangen, dass die Fehlerquote niedriger ist als bei den qualifizierten interdisziplinären Inaugenscheinnahmen.

[Gunnar Lindemann (AfD): Die Fehlerquote ist ja tödlich!]

Sicher hingegen ist, dass die Untersuchungen selbst – es handelt sich hier um Röntgenuntersuchungen – schädlich sein können,

[Gunnar Lindemann (AfD): Oh!]

und deshalb nur bei absoluter Notwendigkeit angewendet werden sollten. Diese absolute Notwendigkeit ist hier nicht erkennbar. Deshalb sollte diese Art der Untersuchung auch die Ausnahme bleiben und nicht zum Regelfall werden.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Ich gehe davon aus, dass Ihnen die Kosten, von denen die Senatsverwaltung ausgeht – etwa 1 500 Euro pro Fall – bekannt sind. Bei den aktuellen Fallzahlen sind es etwa 1,4 Millionen Euro pro Jahr.

Ich möchte die letzten Sätze nutzen, um etwas Grundsätzliches anzusprechen. Der Ansatz der Koalitionsfraktionen und mein ganz persönlicher Ansatz im Bereich der Integrationspolitik ist eine humanitäre Politik, die sich für menschenwürdige Verfahren und das Abbauen von Grenzen und Ressentiments einsetzt. Deshalb werden wir es

nicht zulassen, dass Menschen – in diesem Fall junge, geflüchtete Menschen – lediglich wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe unter einen Generalverdacht gestellt werden und an ihnen ein Exempel statuiert wird.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Das stufenweise Verfahren, die qualifizierte Inaugenscheinnahme und die medizinischen Untersuchungen in den wenigen Zweifelsfällen haben sich bewährt. Wir haben gutes Personal, das sich der Fälle annimmt, und wir haben eine klare Vorstellung von Integrationspolitik, die funktioniert und das Wohl aller Menschen im Blick hat. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Seibeld?

Nein! – Das war meine letzte Rede in diesem Haus. Ich bedanke mich für die gute Zusammenarbeit, besonders mit den Kolleginnen und Kollegen aus den Bereichen Integration, Arbeit und Soziales, Kultur sowie Bürgerschaftliches Engagement und Partizipation. Ab dem 28. Februar werde ich voraussichtlich Bezirksstadträtin für Bildung, Schule, Kultur und Sport in Neukölln sein. Ich hoffe dann auf eine weiterhin gute Zusammenarbeit, vor allem natürlich mit dem Hauptausschuss.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der CDU und der FDP]

Auch von hier aus alles Gute für Sie! – Für die AfDFraktion hat jetzt der Abgeordnete Herr Bachmann das Wort. – Bitte schön!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 56 000 als unbegleitete Minderjährige eingereiste Personen befanden sich Ende 2017 in Deutschland. Ihre Betreuung kostet den Steuerzahler jährlich ca. 3,5 Milliarden Euro. Diese immensen Kosten beruhen darauf, dass Minderjährige besonders aufwendig und teuer betreut und untergebracht werden.

[Marianne Burkert-Eulitz (GRÜNE): Das ist gut so!]

Damit geht es bei der regelhaft-medizinischen Altersfeststellung schlicht um eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit.

(Karin Korte)

[Beifall bei der AfD]

Wer gegenüber dem Staat eine vorteilhafte Rechtsstellung reklamiert, muss auch die Voraussetzungen hierfür belegen.

[Gunnar Lindemann (AfD): Richtig!]

Nur im Bereich Migration und Asyl ist das vielfach anders. Hier kann man sanktionslos alles Mögliche ins Blaue hinein behaupten, und es wird einem unbenommen geglaubt.