Protokoll der Sitzung vom 04.04.2019

(Vizepräsidentin Cornelia Seibeld)

man auch mal mit einem Blauen Brief arbeiten, da muss man im Zweifel mit einem Schulverweis drohen, und man muss die Leute sitzen lassen. Das ist als breit angelegtes Potpourri notwendig. – Eine Zwischenfrage!

Herr Kollege! Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ziller?

Bitte schön!

Haben Sie das Gefühl, wenn Sie sich sozial herausfordernde Gebiete in der Stadt mit hoher Jugendarbeitslosigkeit angucken, dass das System im Status quo – Hartz IV mit Sanktionen –, so, wie es heute funktioniert, hilft, diesen Jugendlichen Wege in die Ausbildung zu bauen?

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir permanent an unserem System arbeiten müssen; wir müssen immer besser werden. Wir müssen aber auch viel besser in der Kommunikation dessen werden, was wir von denen erwarten, die unsere Hilfe in Anspruch nehmen. Wir sind eine Solidargemeinschaft; wir alle finanzieren sie. Wir machen das alles gerne und voller Begeisterung, aber wir als Solidargemeinschaft haben auch den Anspruch, dass ein jeder, der unsere Hilfe in Anspruch nimmt, sein Bestes tut, um diese unentgeltlich in Anspruch genommene Hilfe zu reduzieren.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der AfD]

Darauf haben wir einen Anspruch. Jetzt wollen Sie die finanziellen Sanktionen abschaffen.

Herr Kollege! Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage – von Herrn Woldeit?

Bitte schön!

Vielen Dank, Herr Kollege! – Sie haben kürzlich sicher auch das Interview von Falko Liecke, einem Parteikollegen von Ihnen und Stadtrat in Neukölln, mitbekommen, der sich unter anderem darüber beklagte und es als unerträglich bezeichnete, dass 25 Jahre junge Menschen mit einem Mercedes-AMG zum Amt fahren, ihre Sozialleistungen abholen, man keine Handhabe hat. – Glauben Sie, dass der Schritt der jetzigen Koalition da zu einer Verbesserung führen könnte?

Ich glaube in der Tat, dass das Love Bombing, das NichtAndrohen finanzieller Konsequenzen, kein richtiges Werkzeug ist. Vor allem wird gar nicht gesagt, was man neu einführen möchte. Es wird gar nicht gesagt, was man anders machen möchte, sondern nur das, was wegfallen soll. Es sollen Maßnahmen wegfallen, ohne dass neue Maßnahmen dazukommen. Das hat ein bisschen etwas von nicht ganz zu Ende gedacht, um es positiv zu formulieren.

Keine Person wird in unserem Sozialstaat im Stich gelassen, Bedürftigen wird jederzeit geholfen; aber wer von der Solidargemeinschaft komplett finanziert wird, der hat die Verpflichtung mitzuhelfen, damit diese Hilfebedürftigkeit beseitigt oder reduziert werden kann. Natürlich haben die arbeitslosen Personen bei angebotenen freien Stellen auch die Verpflichtung, sich vorzustellen. Natürlich haben sie sich auch pünktlich einzufinden. Natürlich haben sie auch die angebotenen und vereinbarten Weiterbildungsangebote in Anspruch zu nehmen und müssen regelmäßig daran teilnehmen. Das sind sie der Solidargemeinschaft schuldig.

Wie ist denn die Rechtslage? – Manchmal habe ich den Eindruck, alle Leute tun so, als wenn wir hier im luftleeren Raum agieren. Der Arbeitslose im ALG-II-Bezug hat alle sich ihm bietenden Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung seiner Hilfebedürftigkeit auszuschöpfen. Insbesondere ist er verpflichtet, aktiv an sämtlichen Maßnahmen zur Wiedereingliederung in Arbeit mitzuwirken. Handelt er diesen zentralen Verhaltenspflichten zuwider, sieht das Gesetz bei einem Pflichtverstoß eine Kürzung der Regelbezüge vor; das ist dann klar gegliedert: wenn er nach Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung entsprechende Eigenbemühungen entfallen lässt, wenn er zumutbare Arbeit, Arbeitsgelegenheiten oder Ausbildungen nicht annimmt oder sich weigert, sie fortzuführen, oder wenn der Leistungsbezieher eine zumutbare Bildungsmaßnahme abbricht.

Die heutigen Sanktionsmechanismen sind damals unter Kanzler Schröder in der rot-grünen Bundesregierung vereinbart worden. Der Gesetzgeber hat damals klar formuliert: Zu Beginn des Berufslebens müssen die Weichen in Richtung des ersten Arbeitsmarktes gestellt werden.

Deswegen muss besonders bei den unter 25-Jährigen das Grundprinzip des Förderns und Forderns mit Konsequenz eingefordert werden.

Seit Jahrzehnten haben wir hier in Berlin nicht mehr eine so günstige Arbeitsmarktlage gehabt wie heute. Fachkräfte werden überall benötigt: im öffentlichen Dienst wie im Handwerk, in den Industriebetrieben und in der Gastronomie. Hier bieten sich den Arbeitslosen derzeit wirklich gute Chancen; wir haben viele Ausbildungsplätze, die nicht besetzt werden können. Wir haben dafür Sorge zu tragen, dass die Jugendlichen in diese Jobs kommen. Für uns als CDU ist ganz klar: Den Arbeitslosen bieten sich alle Chancen. Wir haben sie zu motivieren, fortzubilden, zu coachen und zu stützen, aber wer sich partout verweigert, der muss dann auch mit finanziellen Sanktionen rechnen. Daher wird eine grundsätzliche Abschaffung sämtlicher Sanktionsmechanismen von uns als CDU abgelehnt. Das sind wir der Solidargemeinschaft schuldig. – Vielen Dank!

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der AfD]

Vielen Dank! – Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Düsterhöft das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Schultze-Berndt! Ach, das sind die gleichen Vorwürfe, die wir auch schon in der Ausschussberatung hatten. Der erste Vorwurf ist: Wir wollen grundsätzlich „Fordern und Fördern“ abschaffen. Dieses Grundprinzip, das stellen wir grundsätzlich infrage. Gerade wir als SPD-Fraktion werfen das über Bord. Das haben Sie gerade zum Schluss noch einmal gesagt. Ich finde, das zeigt nur, dass Sie sich mit diesem Antrag überhaupt nicht auseinandergesetzt haben und auch nicht mit dem, was dahinter steckt. – Erstens.

Zweitens: Das haben Sie heute nicht wiederholt, aber das haben Sie im Ausschuss sehr deutlich gesagt: Wir würden mit diesem Antrag behaupten, dass die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter in den Jobcentern schlechte Arbeit leisten. Da möchte ich das auch an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich sagen, dass das mitnichten der Fall ist. Ganz im Gegenteil! Wir wissen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern sehr gute Arbeit leisten. Sie haben aber auch bestimmte Vorgaben. Diese bestimmten Vorgaben werden vom Gesetzgeber erlassen. Wir wollen, dass diese Vorgaben geändert werden und dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern andere Instrumente mit an die Hand bekommen, um mit ihren Kunden anders und besser umgehen zu können.

[Beifall bei der SPD – Beifall von Harald Wolf (LINKE) und – Tobias Schulze (LINKE)]

Auch Sie als Opposition, auch die FDP, müssen doch erkennen, dass wir in drei Bereichen tatsächlich Probleme haben, erstens bei den Sanktionen für Menschen unter 25 Jahren. Ich habe noch nie in einem Jobcenter – und ich bin wirklich oft in den Jobcentern unterwegs und tausche mich sehr intensiv mit sehr vielen Mitarbeitern dort aus – einen einzelnen Mitarbeiter getroffen, der sagte, die Sanktionen im U-25-Bereich seien das Geilste, was sie hätten. Im Gegenteil! Viele sagen:

[Sebastian Czaja (FDP): Ich hätte gern Geld ohne Leistungen!]

„Ich hätte gerne andere Alternativen, um mit den Klienten umzugehen.“ In der Jugendhilfe kommen wir auch nicht auf die Idee, die Leute zu sanktionieren. Nein, da arbeiten wir mit Ihnen. Genau darum geht es auch, was wir uns als Alternative vorstellen können.

Zweitens die Sanktionen im Bereich der Bedarfsgemeinschaften mit Kindern: Was wir dort für die Kinder riskieren, übersteigt bei weitem das, was wir bei den Eltern erreichen können. Drittens die Sanktionierung der Kosten der Unterkunft: Wir reden sehr oft über die Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit in unserer Stadt. Wir geben dort eine Menge Geld aus. Wenn wir dazu beitragen können, mit der Veränderung der Sanktionen an dieser Stelle ein paar weniger Wohnungslose und Obdachlose zu produzieren, welche uns ein Vermögen kosten, diese dann wieder unterzubringen und wo wir auch Biografien dauerhaft zerstören, dann finde ich, ist es doch die Sache wert, genau an dieser Stelle die Sanktionen abzuschaffen.

[Vereinzelter Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN – Beifall von Thomas Isenberg (SPD)]

Ich stelle fest, und das muss ich wirklich mit Bedauern feststellen, dass Sie sich anscheinend überhaupt nicht mit dem Antrag und mit diesem Ansinnen, das dahinter steckt, befasst haben, obwohl wir im Plenum über diesen Antrag diskutiert, obwohl wir im Ausschuss sehr umfassend darüber diskutiert haben. Das haben Sie ganz zum Schluss noch einmal deutlich gesagt. Deswegen möchte ich Sie an dieser Stelle noch einmal, ein letztes Mal, auffordern, und darum bitten, Ihre Position noch einmal zu überdenken. Sie haben es am Anfang gesagt: Die SPD weicht da von der Bundesposition ab.

[Sebastian Czaja (FDP): Müsst ihr so viel tun in dieser Koalition?]

Ehrlich gesagt, es fühlt sich sehr gut an, das zu tun. Vielleicht nehmen Sie sich ein Herz, überdenken die Sache noch einmal und machen genau dasselbe.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN]

(Jürn Jakob Schultze-Berndt)

Vielen Dank! – Für die AfD-Fraktion hat der Abgeordnete Mohr das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen Abgeordnete! Verehrte Gäste auf der Zuschauertribüne! Ich finde es schon einigermaßen bemerkenswert, dass die Koalitionsfraktionen ganz offenkundig in Ermangelung von Themen mit lokalpolitischem Bezug heute nun zum zweiten Mal einen Antrag beraten lassen, der primär von bundespolitischer Bedeutung ist, wir auf Landesebene eigentlich rein gar nichts mit zu entscheiden haben und der darüber hinaus aus unserer Sicht noch in die falsche Richtung geht.

Wir hatten erst im Herbst vergangenen Jahres schon einmal die Debatte hier im Plenum. Damals habe ich auf die völlig aussichtslose und ablehnende Beschlusslage im Bundestag verwiesen. Darüber hinaus haben wir uns erst kürzlich, das wurde im Ausschuss angesprochen, erneut mit dem Antrag befasst. Werte Kollegen der Koalitionsfraktionen! Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, dass Sie krampfhaft mit Blick auf die anstehenden Wahlen im Osten, in Sachsen, in Brandenburg und Thüringen versuchen, irgendwie ihr sozialpolitisches Profil zu schärfen, damit Sie nicht noch mehr Wähler an die AfD verlieren. Allein, dieser Aktionismus wird Ihnen nicht helfen, und es tut gut zu sehen, wie die Bürger zunehmend Ihr Spielchen durchschauen.

Sanktionsmöglichkeiten bei Arbeitslosengeld-II-Bezug für unter 25-Jährige abzuschaffen wird Ihnen keine Stimme bringen und es ist sicher nicht dazu geeignet, über Jahre verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen.

[Beifall bei der AfD]

Denn seit Jahrzehnten faseln Sie etwas von sozialer Gerechtigkeit. Deshalb, nur zu! Erzählen Sie von Ihrem neuesten Einfall den vielen Geringverdienern da draußen, die schön brav ihre Steuern entrichten und die nun von Ihnen das Signal gesendet bekommen, dass selbst bei groben Regelverstößen die Leistungsempfänger, die von der Solidargemeinschaft leben, keinerlei Konsequenzen zu befürchten haben. Damit brechen sie fundamental mit dem Grundsatz des Förderns und Forderns, auf dem unser Sozialstaat beruht. Das ist alles andere als gerecht denjenigen gegenüber, die das bezahlen müssen. Solidarität beruht nämlich auf Gegenseitigkeit und ist keine Einbahnstraße.

[Beifall bei der AfD]

Die Position der AfD-Fraktion hat sich völlig überraschend, auch nach Beratung des vorliegenden Antrags im Ausschuss, nicht geändert. Wir stehen weiterhin für die Beibehaltung der bisherigen Gesetzeslage und damit auch

für die Möglichkeit von Sanktionen bei Missbrauch unseres Sozialstaats, zum Beispiel bei Verdacht auf Schwarzarbeit parallel zum Arbeitslosengeld-II-Bezug. Die Zwischenfrage von Karsten Woldeit eben hat es noch einmal deutlich gemacht.

Wiederholtes Nichterfüllen von Mindestanforderungen, die der Staat selbstverständlich definieren und festlegen darf, muss, egal auf welcher Ebene, irgendwann zwingend Konsequenzen nach sich ziehen. Diese Lebenserfahrung sollte eigentlich schon frühestmöglich in der Grundschule gemacht werden. Bislang gibt es dort nämlich auch kein Bienchen, wenn ständig die Hausaufgaben nicht gemacht werden und Pünktlichkeit ein Fremdwort ist. Aber selbst da ist diese Koalition von dunkelrot bis grün mit ihrer linken weltfremden Politik bereits dabei, das abzuändern: Sitzenbleiben, überbewertet; Schulnoten, überbewertet, bloß weg von der Leistungsgesellschaft und jedwedem Druck.

Die AfD-Fraktion wird sich als bürgerlich-konservative Partei dieser Entwicklung mit aller Kraft entgegenstellen. Das Prinzip des Förderns und Forderns hat seine volle Berechtigung. Zum Glück sieht das die Mehrheit im Bundestag ähnlich. Das wird sich so schnell auch nicht ändern. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Vielen Dank! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Ziller jetzt das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe verbliebene Gäste! Zuerst: Ich finde es gut, wenn sich Berlin und das Berliner Parlament das demokratische Recht herausnimmt, auch über den Bundesrat in Deutschland mitzugestalten. Ich finde, das ist ganz natürlich. Ich finde, das kann man als Schaufenster vorwerfen, aber das ist unsere Demokratie in Deutschland, wie sie gegliedert ist. Ich finde es sinnvoll, dass wir davon Gebrauch machen.

Herr Schultze-Berndt! Ich will vielleicht heute einmal anders anfangen als im Ausschuss. Ich wünschte mir, es wäre so einfach zu sagen, mit ein bisschen Druck, mit ein bisschen Sanktionen, ob Geld oder anderen Formen, bekommen wir das schon hin, und dann machen die jungen Leute das, was wir haben wollen. Meine Erfahrung ist – Hartz IV ist schon ein bisschen in Betrieb und funktioniert schon eine Weile –, dass das möglicherweise für die Jobcentermitarbeiter ein Mittel ist. Vielleicht wollen die das auch oder glauben, dass es im Einzelfall hilft, aber in der Summe, wenn man sich das anschaut, wie das System funktioniert, wie Kinderarmut, wie Jugendarbeit, wie Jugendarbeitslosigkeit, bei Langzeiterwerbslosigkeit eben nicht durchbrochen werden und von Generation zu Generation weitergegeben werden, müssen wir doch

feststellen, dass das, was wir bisher haben, nicht funktioniert.

Wenn wir uns an dem Punkt erst einmal einig sind – das wäre mir wichtig –, kann man über die Wege reden. Wir schlagen den Weg vor zu sagen, nehmen wir einmal die Sanktionen heraus und schauen andere Baustellen an. Wie kann man Schulen besser machen? Wie bekommen wir die Jugendberufsagentur noch besser hin, um tatsächlich jungen Menschen Wege in Ausbildung zu bauen? Aber der erste Punkt wäre die Frage in der Analyse: Das System, das wir heute haben, funktioniert nicht. Wir verlieren zu viele junge Menschen. Wir verlieren zu viel Potenzial dieser Gesellschaft, das wir genau bei dem Fachkräftemangel brauchen. Ich weiß nicht, ob Sie einmal mit Unternehmerinnen und Unternehmern reden. Wenn die berichten, wer Ihnen vom Jobcenter zugewiesen wird unter Androhung von Sanktionen, sagen sie, dass sie mit denen nichts anfangen können. Sie sagen: Ihr zwingt sie zu uns, das bringt nichts. Wir nehmen die, die freiwillig kommen, weil das viel mehr funktioniert. Das bringt den Unternehmerinnen und Unternehmern auch mehr. Wie finden wir also Wege, junge Menschen auch in Richtung Unternehmen zu bringen, damit die dann möglicherweise Fachkräfte sein können, Fachkräfte der Zukunft? Die Sanktionen sind nicht der Weg. Deswegen haben wir den Vorschlag gemacht, die herauszunehmen, neue Wege zu denken, gern auch gemeinsam.

[Beifall bei den GRÜNEN]