Protokoll der Sitzung vom 10.11.2011

Um die mit laufend steigenden Eingangszahlen konfrontierten Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zu entlasten, wurde im November 2009 von der Justizministerkonferenz und der Konferenz der Arbeits- und Sozialminister eine gemeinsame Kommission auf Staatssekretärsebene eingesetzt. Dieser gehörte auf Justizseite auch Niedersachsen an. Die Ressorts Justiz sowie Arbeit und Soziales arbeiteten und arbeiten insoweit eng zusammen.

Die Kommission wurde beauftragt, abgestimmte konkrete Änderungsvorschläge auf dem Gebiet des Sozialrechts gegenüber dem Bundesgesetzgeber auszuarbeiten. Vornehmlich ging es um Änderungen des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und des Sozialgerichtsgesetzes. Grundlage waren Vorschläge, die bereits zuvor von einer Länderarbeitsgruppe der Justizministerkonferenz zusammengetragen worden waren.

Anregungen der gemeinsamen Kommission flossen sodann nach enger Abstimmung mit dem Bundesgesetzgeber bereits in das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ein, das mit Beginn dieses Jahres in Kraft getreten ist. Hier ist die Neuregelung der Kosten für Unter

kunft als Satzungslösung mit Gestaltungsmöglichkeiten für den Landesgesetzgeber bzw. die Kreise und kreisfreien Städte nach den §§ 22 a und 22 b SGB II zu nennen.

Im Oktober 2010 legte die gemeinsame Kommission einen Abschlussbericht vor. Darin waren jene Vorschläge der Länderarbeitsgruppe beschlossen worden, die bei den Vertretern beider Ressorts eine Mehrheit gefunden hatten.

Die Justizministerkonferenz leitete die Vorschläge an die Bundesregierung weiter. Außerdem wurde unter Zustimmung Niedersachsens beschlossen, die Diskussion über jene Empfehlungen fortzusetzen, die in der gemeinsamen Kommission keine doppelte Mehrheit gefunden hatten. Dies ist auch geschehen. Erste Ergebnisse wurden auf der Justizministerkonferenz im Mai 2011 vorgestellt. Derzeit wird ein entsprechender Gesetzesvorschlag zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes erarbeitet.

Teile der Vorschläge der gemeinsamen Kommission aus ihrem Abschlussbericht hat die Bundesregierung in den Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze aufgenommen. Hierzu zählt die Möglichkeit für das Gericht, das Verfahren zu straffen, indem es einen Beteiligten, der keine natürliche Person ist, aufgeben kann, zur mündlichen Verhandlung einen Vertreter zu entsenden, der über die Sach- und Rechtslage ausreichend unterrichtet ist und über die nötige Vertretungsbefugnis verfügt. Des Weiteren zählt die Wiedereinführung der Vertretungsfiktion für Ehegatten, Lebenspartner und Verwandte in gerader Linie dazu.

Die Bundesregierung hat den Gesetzentwurf im August 2011 in den Bundestag eingebracht, wo er derzeit in den Ausschüssen beraten wird. Die Zweite und Dritte Lesung im Bundestag soll noch im Dezember dieses Jahres stattfinden.

Ich will, abseits vom Konzept, noch darauf hinweisen: Wir haben also materiellrechtliche Änderungen angeregt, die zum Teil vorgenommen worden sind und zum Teil noch erfolgen mögen. Wir haben verfahrenstechnische Vorschläge gemacht, die zum Teil berücksichtigt worden sind und zum Teil hoffentlich noch berücksichtigt werden. Außerdem weise ich darauf hin, dass der Bundesgesetzgeber seit Einführung seiner sogenannten Hartz-IV-Gesetze auch Verordnungsermächtigungen hatte, bestimmte Sätze, z. B. für Heizkosten, festzusetzen. Leider hat er von dieser Verordnungsermächtigung keinen Gebrauch gemacht. Man könnte

auch sagen: Die Politik läst hier ein Stück weit Problemlösungen auf dem Rücken der Justiz liegen.

(Zuruf von der SPD: Das ist ja eine neue Erkenntnis!)

Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Dringliche Anfrage im Namen der Landesregierung wie folgt:

Erstens. Die Geschäftszahlen in der Sozialgerichtsbarkeit haben sich in diesem Jahr positiv entwickelt. Die Zahl der Eingänge ist in den ersten drei Quartalen um 6,6 % zurückgegangen; gleichzeitig konnte die Zahl der Erledigungen um 4,1 % gesteigert werden. Damit war es erstmals möglich, auch über einen längeren Zeitraum den Einstieg in den Bestandsabbau zu schaffen. Bei den Klageverfahren ist der aktuelle Bestand zwar derzeit noch hoch, die in den Vorbemerkungen dargestellte Abordnung von 20 Richterkräften wird aber zu einem nachhaltigen Bestandsabbau beitragen. Die Präsidien der Sozialgerichte haben überdies vielfach mit der Bildung von sogenannten Bestandskammern reagiert, die sich gezielt dem Abbau überlanger Verfahren widmen.

Zweitens. Die Landesregierung teilt die Auffassung des Hauptrichterrats der niedersächsischen Sozialgerichtsbarkeit, dass der derzeitige Stellenbestand im richterlichen Dienst zunächst erhalten bleiben muss. Soweit Hilfsmaßnahmen noch bis zum 31. Dezember 2012 befristet sind, kann ich schon jetzt eine Verlängerung bis Ende 2013 in Aussicht stellen. Die Befristung der Hilfsmaßnahmen durch andere Gerichtsbarkeiten war geboten, um bei einer Fortsetzung der Maßnahme die jeweilige Belastungsentwicklung in den anderen Bereichen berücksichtigen zu können. Über den erforderlichen Stellenbestand nach dem Jahr 2013 wird mit dem Haushaltsplan 2014 unter Berücksichtigung der dann aktuellen Eingangs- und Bestandszahlen zu entscheiden sein.

Drittens. Die Sicherstellung einer bedarfsgerechten personellen Ausstattung gehört zu den Schwerpunktthemen der Landesregierung bei der Haushaltsaufstellung. Ein wesentliches Element zur Stellenplanung im Justizbereich ist dabei das Personalbedarfsberechnungssystem, kurz PEBB§Y, mit dem der Personalbedarf und die Belastung in den einzelnen Justizzweigen fortlaufend überprüft werden. Auf der Basis des Personalbestandes am 30. September 2011 - also ganz aktuell, liebe Kolleginnen und Kollegen - weist der richterliche Dienst in der Sozialgerichtsbarkeit eine sehr güns

tige Durchschnittsbelastung von 0,97 aus. Der Idealwert beträgt 1,0. Hier liegen wir also sogar noch ein bisschen besser. Damit ist nach Auffassung der Landesregierung eine ausreichende Personalausstattung sichergestellt. Gleichwohl sind aus den in der Vorbemerkung beschriebenen Gründen derzeit noch Verfahren anhängig, bei denen davon auszugehen ist, dass sie die Kriterien für eine Entschädigungszahlung nach dem Gesetz zum Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren bereits jetzt erfüllen. Für diese Verfahren war im Haushalt 2012/2013 Vorsorge zu treffen.

Danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU und Zustimmung von Professor Dr. Dr. Roland Zielke [FDP])

Vielen Dank, Herr Minister. - Die erste Zusatzfrage stellt Herr Haase für die SPD-Fraktion.

Herr Präsident! Herr Minister, die Bemühungen zur Verstärkung des richterlichen Dienstes in der Sozialgerichtsbarkeit und der Folgedienste durchaus anerkennend, aber sehend, dass sie tatsächlich nicht ausreichen - denn der Sockel an Fällen ergibt mehr als eine Jahresproduktion, sage ich einmal nonchalant in Bezug auf die Eingangszahlen -, frage ich die Landesregierung: Welcher Optimismus hat Sie veranlasst, angesichts gleichbleibend hoher Eingangszahlen und des Rückstands, der in der Tat nach wie vor in hohem Maße vorhanden ist, die Personalkosten z. B. in der Mipla 2014, also ab 2014, mit 1 Million Euro weniger pro Jahr anzusetzen?

(Zustimmung bei der SPD - Hans- Jürgen Klein [GRÜNE]: Das ist ja ein Ding! - Zuruf von der SPD: Skandal!)

Herr Minister Busemann, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Haase, ich habe eben dargestellt, dass wir in einer Situation, die ja nicht befriedigend ist - meine Botschaften in Richtung Berlin haben Sie vernommen -, gleichwohl seit Jahren - schon unter meiner Vorgängerin - im Begriff sind, die Zahl der Sozialrichterinnen und Sozialrichter erheblich zu steigern. Sie wurde mehr als verdoppelt. Aus ei

nem Mix von Stellensteigerungen plus Abordnungen aus Gerichtsbereichen, die Gott sei Dank nicht so stark belastet sind, plus einem gewissen Quantum an kw-Stellen ergibt sich dieser zurzeit günstige Wert von PEBB§Y unter 1,0 bei sich etwas verbessernder Gesamtlage. Das muss beobachtet werden.

Ein Teilquantum der Stellen haben wir mit kw-Vermerken bis 2013 versehen. Der Gegenwert dieser kw-Vermerke macht offenbar - der Finanzminister wird es genauer sagen können - den Betrag aus, aufgrund dessen gesagt werden kann: Ab 2014 fahren wir dann billiger.

Ich sage Ihnen ganz eindeutig: Es gibt die ersten Anzeichen dafür, dass die Spitze des ohnehin zu hohen Bergs erreicht und leicht überschritten ist. In den Verfahren zur einstweiligen Anordnung merken wir es schon deutlich, aber auch in den Hauptsacheverfahren sind wir jetzt im Begriff, den Bestandsabbau zu zeitigen. Würde sich der Trend noch einmal umkehren - das hoffen wir nicht, aber angenommen, es würde sich noch einmal steigern -, dann muss die Ansage ganz klar lauten: Wir müssen vielleicht sogar über weitere Stellen nachdenken, wir müssen die kw-Vermerke wieder beseitigen und diese Leute im Boot halten, und wir müssen weitergehend auch darüber nachdenken, wie bisher, mit Erfolg, Verwaltungsrichter, Finanzrichter und Richter aus der ordentlichen Gerichtsbarkeit in der Sozialgerichtsbarkeit einzusetzen. Ich glaube, nur aus diesem Mix im System ergibt sich eine vernünftige Aufgabenbewältigung. Denn eine Übersteigerung mit Stellen, die vielleicht ab 2014 oder 2015 nicht mehr gebraucht werden, können wir uns auch nicht leisten.

(Zustimmung bei der CDU)

Die nächste Zusatzfrage kommt von Herrn Tonne für die SPD-Fraktion.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts der von Ihnen gerade dargestellten Abordnungen von Richterinnen und Richtern anderer Gerichtsbarkeiten an die Sozialgerichtsbarkeit, die es in den vergangenen Jahren gegeben hat, frage ich die Landesregierung, wie sie die Tragfähigkeit des Abordnungsmodells im Vergleich zur Schaffung neuer Stellen bewertet, insbesondere vor dem Hintergrund der Kritik des Hauptrichterrats der

Sozialgerichtsbarkeit, der diesbezüglich von massiven Reibungsverlusten spricht.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung von Helge Limburg [GRÜNE])

Herr Minister Busemann, bitte schön!

Herr Präsident! Herr Kollege Tonne, diese Kritik des Hauptrichterrats ist mir so nicht bekannt. Daher wäre ich dankbar, wenn Sie das in irgendeiner Form festmachen würden, damit wir uns darüber unterhalten können.

Klar ist: In der Justiz gibt es Bereiche - sagen wir einmal, die Verwaltungsgerichtsbarkeit -, in denen es entspannt zugeht, und es gibt Bereiche - so in der Sozialgerichtsbarkeit -, in denen richtig Druck herrscht. In der Wirtschaft spricht man gern vom „atmenden Betrieb“. Insoweit ist es, glaube ich, vernünftig - Beamten- und Richterrecht hin oder her -, dass man dort, wo Entlastung ist, schaut, ob man Leute findet, die man in den Bereich abordnen kann, in dem Belastung besteht. Insoweit muss ich sagen: Manchmal mit etwas Überzeugungsarbeit, aber durchweg haben sich immer wieder auf freiwilliger Basis, ohne Zwang und Druck von oben, gerade Kollegen aus der Richterschaft der Verwaltungsgerichtsbarkeit gefunden, um in der Sozialgerichtsbarkeit tätig zu werden - nicht nur gequältermaßen, mit Reibungsverlusten, die ich nicht sehe, auszuhelfen, sondern manche haben auch Gefallen daran gefunden. Wir haben auch schon einige Umsetzungen gehabt, weil die Betreffenden gesagt haben: Wir machen das auch für längere Zeit.

Ich kann also solche Reibungsverluste nicht erkennen. Ich denke, dass wir, wissend, dass es mit Versetzungen von Richterinnen und Richtern in andere Gerichtsbarkeiten so seine rechtlichen Schwierigkeiten hat, mit diesem System der Abordnung, wie wir es fahren, erfolgreich sind.

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)

Frau Weddige-Degenhard, Sie haben für die SPDFraktion die nächste Zusatzfrage. Bitte schön!

Danke, Herr Präsident. - Ich frage die Landesregierung: Es gibt ja das Gesetz zum Rechtsschutz bei

überlangen Gerichtsverfahren. In welcher Höhe rechnen Sie mit Zahlungen aufgrund dieses Gesetzes, also aufgrund der überlangen Gerichtsverfahren, und worauf stützen Sie Ihre Kalkulation?

Herr Minister, bitte schön!

Herr Präsident! Frau Kollegin! Meine Damen und Herren! Dass es Verfahren gibt, die nach allgemeiner - auch unserer - Einschätzung eine überlange Dauer haben, ist bedauerlich, aber möglicherweise nie ganz wegzubekommen. - Das ist das eine.

Nun hat ja - auch mit dem Druck des EGMR - die Bundesebene das Gesetz gegen überlange Verfahrensdauer gemacht, das wir - man muss ja über Details immer streiten - am Ende mittragen. Das musste so sein; das ist richtig. Das schafft hoffentlich auch einen gewissen vorsichtigen, die richterliche Unabhängigkeit wahrenden Druck, dass wir an den Standorten noch mehr aufpassen, dass es nicht zu überlanger Verfahrensdauer kommt.

Nun ist das Gesetz im Raum. Sie wissen, dass darin von Entschädigungsleistungen die Rede ist. Wenn Verfahren objektiv - das muss ja auch noch ausprozessiert werden - zu lange gedauert haben, kann es in der Umrechnung ab dem Zeitpunkt, zu dem es zu lange gedauert hat, monatlich 100 Euro kosten.

Wir haben einmal eine überschlägige Bilanz gemacht. Nach einem Verfahrensstand von vor einigen Monaten haben wir geschaut, wie viele Verfahren wir in unserer niedersächsischen Justiz anhängig haben, die schon - manche aus guten Gründen, manche aus zu hinterfragenden Gründen - mehr als drei Jahre anhängig sind. Multipliziert mit der Monatszahl potenzieller Entschädigungsleistungen, sind wir auf eine Jahresleistung von 3,1 Millionen Euro gekommen. Für einen Doppelhaushalt wären das 6,2 Millionen Euro.

Das ist in der Tat eine sehr geschätzte Zahl. Wenn wir alle uns anstrengen - die Behördenleiter wissen auch, dass ich Wert darauf lege -, dann tragen wir hoffentlich dazu bei, dass diese Zahl gesenkt wird. Von diesem Geld hat nämlich niemand richtig etwas. Die Leute wollen schnelle Urteile haben und keine Entschädigungsleistungen. Wir müssen uns aber haushaltstechnisch darauf einstellen. Deswegen ist diese Zahl so ermittelt bzw. gegriffen - wie Sie wollen - worden. Wir hoffen, dass wir sie unterschreiten können.

Die erste Zusatzfrage für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stellt Herr Limburg. Bitte sehr!

Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich habe noch eine Frage zu den Bestandskammern. An welchen Sozialgerichten sind wie viele Bestandskammern eingerichtet worden? Das war mir nicht ganz klar.

Herr Minister, bitte!

Herr Präsident! Herr Kollege Limburg, ich gehe davon aus, dass vor allem an Sozialgerichten eigentlich an jedem Standort - zumindest an den großen Standorten - solche Bestandskammern eingerichtet worden sind. Es gibt eine Übereinkunft, dass unsere Präsidenten und Direktoren so verfahren wollen. Ohne dass ich jetzt in den letzten Standort hineinblenden könnte, gehe ich einmal davon aus, dass auch danach verfahren wird.

Für die CDU-Fraktion stellt Frau Heister-Neumann eine Zusatzfrage. Bitte schön!

Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir sind uns alle darüber einig, dass gerade bei den Verfahren zum einstweiligen Rechtsschutz in der Sozialgerichtsbarkeit eine zügige Abarbeitung von besonderer Bedeutung ist. Deshalb frage ich die Landesregierung, wie sich dort die Verfahrenszahlen entwickelt haben und wie sich auch die durchschnittliche Dauer der Verfahrenszeiten darstellen lässt.