Protokoll der Sitzung vom 11.12.2020

An dieser Stelle habe ich große Sympathien für Überlegungen aus dem Parlament, den EuGH, den Hüter der europäischen Verträge, schnellstmöglich anzurufen, um zu verhindern, dass die Regierungen von Ungarn und Polen auf Zeit spielen. Wir wissen, dass die beiden kein Interesse an einer schnellen Klärung haben.

(Beifall SPD, SSW, Tim Brockmann [CDU] und Dr. Marret Bohn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, hätte die Blockade des Haushalts angedauert, wäre auch der Wiederaufbau blockiert gewesen, der als Reaktion auf die teils dramatischen Folgen der Coronakrise auf den Weg gebracht wurde. Das war kein Kollateral

(Vizepräsidentin Annabell Krämer)

schaden, sondern bewusstes Kalkül. Die Regierungen Polens und Ungarns haben riskiert, dass ihre eigene Bevölkerung auf Unterstützung verzichten muss. Das ist vor allem aber zutiefst unsolidarisch gegenüber denjenigen Ländern, die noch dringender auf die Hilfe angewiesen sind. Ich habe hier schon oft gesagt: Europäische Solidarität darf keine Einbahnstraße sein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir tun gut daran, die Situation in Polen und Ungarn differenziert zu beurteilen. So befremdlich das Verhalten der Regierungen ist, darf doch nicht aus dem Blick geraten, wie viele Menschen insbesondere in Polen in den vergangenen Wochen für den Rechtsstaat, aber auch gegen die unerträgliche Verschärfung des Abtreibungsrechts auf die Straße gegangen sind. Das ist ein großartiges Engagement.

(Beifall SPD, SSW und vereinzelt BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN)

Es bleibt zu hoffen, dass auch in Ungarn die demokratische Opposition noch mehr Rückenwind bekommt.

Der Rechtsstaatsschutz ist einer der wichtigen Pfeiler der EU und gleichzeitig leider durch das Verhalten einzelner Mitgliedstaaten eine wichtige Herausforderung. Ich betone: Alle Bürgerinnen und Bürger müssen sich darauf verlassen können, dass sie vor antidemokratischen Bestrebungen in ihren jeweiligen Ländern geschützt werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Vorgängerinnen und Vorgänger haben uns mit dem Projekt Europa ein großartiges Erbe hinterlassen. Lassen wir nicht zu, dass es von Nationalisten und Egoisten zerstört wird. - Vielen Dank.

(Beifall SPD, vereinzelt CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und SSW)

Das Wort für die CDU-Fraktion hat der Abgeordnete Hartmut Hamerich.

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich danke von dieser Stelle aus der SPD für die Initiative, diesen grundsätzlichen Punkt auf die Tagesordnung zu setzen, auch wenn er die Landespolitik nicht direkt berührt. Die schnelle Einigung auf einen gemeinsamen Antrag unterstreicht die große Einigkeit der demokratischen Parteien in diesem Parlament in der Frage der Rechtsstaatlichkeit in der EU. Uns alle

treibt die Sorge, dass diese Grundwerte in einigen Mitgliedstaaten in großer Gefahr sind und damit an den Grundfesten der Europäischen Union gerüttelt wird.

Gemäß Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union ist Rechtsstaatlichkeit einer der Grundwerte der EU. Die Rechtsstaatlichkeit bedeutet, dass die Staatsgewalt zu jeder Zeit innerhalb des von der Gesetzgebung vorgegebenen Rahmens handelt, die Demokratie und die Werte der Grundrechte wahrt sowie der Kontrolle unabhängiger und selbstständiger Gerichte unterliegt.

Zur Rechtsstaatlichkeit gehören unter anderem die folgenden vom Gerichtshof der Europäischen Union und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannten Prinzipien: Grundsätze der Gesetzmäßigkeit, Rechtssicherheit, Willkürverbot der Exekutiven, wirksamer Rechtsschutz, garantiert von unabhängigen und unparteiischen Gerichten, wirksame gerichtliche Kontrollen inklusive Achtung der Grundrechte, Gewaltenteilung zwischen Staatsorganen und Gleichheit vor dem Gesetz. Auch das Prinzip der freien Presse und Berichterstattung gehören zu den demokratischen Grundwerten der Europäischen Gemeinschaft.

Zu diesen Grundwerten haben sich alle Mitgliedstaaten mit ihrem Beitritt in die Europäische Union bekannt. Sowohl in Ungarn als auch in Polen verstärken sich die Maßnahmen, um regierungskritische Stimmen und Aktivitäten zu diskreditieren. Die Medien werden immer stärker kontrolliert und auf Regierungsfreundlichkeit getrimmt. Gesetze werden beschlossen, die die Unabhängigkeit der Justiz untergraben, und die Gewaltenteilung wird geschwächt. Erst am Mittwoch konnten wir lesen, dass in Polen ein staatlicher Energiekonzern 20 regionale Zeitungen übernommen hat. Gegen beide Staaten läuft ein EU-Vertragsverletzungsverfahren.

Bislang wirkt die EU aber bei der Kontrolle oft wie ein zahnloser Tiger. Die Durchschlagskraft der möglichen Maßnahmen ist sehr begrenzt. Leider sind auch in weiteren osteuropäischen Staaten wie Bulgarien, Rumänien oder Slowenien rechtsstaatliche Prinzipien unter Druck geraten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Höhepunkt der Auseinandersetzung ist die Verweigerung von Polen und Ungarn, ihre Zustimmung zu dem 1,8 Billionen € schweren Finanzpaket - bestehend aus dem mehrjährigen Finanzrahmen - zu geben. Das ist jetzt seit gestern bereinigt. Ich bin froh und stolz, dass dieser Erfolg gelungen ist.

(Vereinzelter Beifall CDU und SPD)

(Regina Poersch)

Wie es allerdings möglicherweise zu einer gewissen Einsicht gekommen ist, hängt sicherlich damit zusammen, dass es einen Brandbrief von 300 Bürgermeistern und Oberbürgermeistern aus Polen und Ungarn an die Kommissionspräsidentin gegeben hat. Die Aussage des Posener Oberbürgermeisters, dass dieser Staat die EU nur als Kuh sieht, die gemolken werden kann, sagt ein Weiteres.

(Vereinzelter Beifall CDU)

Ich glaube, dass wir uns darauf verständigen müssen, wie man diesen negativen Entwicklungen begegnen kann. Nach meiner und nach unserer Auffassung ist damit eine Schwelle erreicht, die nicht überschritten werden darf. Die Grundwerte sind nicht verhandelbar. Die Glaubwürdigkeit der EU ihren Bürgern gegenüber, aber auch nicht europäischen Ländern gegenüber darf keinen Schaden nehmen. Unsere Bürger setzen darauf, dass gleiches Recht für alle gilt. 80 % der Deutschen halten nach dem letzten Deutschlandtrend den geplanten Rechtsstaatsmechanismus für richtig. Wer Geld von der EU erhält und sich nicht an Grundregeln von Rechtsstaat und Demokratie hält, der darf diese Finanzmittel auch nicht in Anspruch nehmen.

Wie das umsetzbar ist, dazu vermag ich keinen Lösungsvorschlag hier einzubringen. Ich glaube aber, wir sind uns einig darüber, dass wir das zu kontrollieren haben.

(Vereinzelter Beifall SPD und SSW)

Ich weiß auch nicht, ob das Einstimmigkeitsverfahren der EU der richtige Weg ist, sodass die, die am meisten von diesem Problem betroffen sind, dafür sorgen können, dass das ausgehebelt wird. Ich glaube, wir müssen daran arbeiten, dass sich nichts gegen eigene Grundwerte richten kann. Das halte ich für wichtig. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und bitte um Zustimmung zu diesem Antrag.

(Beifall CDU, vereinzelt SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Das Wort für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat der Abgeordnete Bernd Voß.

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Erfolg der Europäischen Union beruht nicht nur auf der Schaffung von Frieden, sondern auch auf dem Konsens über gemeinsame Grundwerte. Auf diesen Konsens haben sich alle Mitgliedstaaten durch Artikel 2 des EU-Vertrags

verständigt und sich ihm so verpflichtet. Es ist zwar richtig, dass die EU gegenüber beitrittswilligen Staaten auf der Grundlage der sogenannten Kopenhagener Kriterien fordernd und disziplinierend auftreten kann und auch strenge Auflage durchsetzen kann. Falsch ist aber, dass dies nicht mehr in der Konsequenz erfolgt, wenn der Beitritt erst einmal erfolgt ist.

Mit dem Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2020 wurde von der Kommission erstmals eine Bestandsaufnahme der Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten durchgeführt. Das beruht im Grunde auf dem Prinzip der internationalen Zusammenarbeit des Namings and Shamings. Viel mehr ist das im Grunde nicht. Und eigentlich setzt sich immer mehr das Prinzip durch: Naming without Shaming, und das wiederholt sich immer und immer wieder. Die EU darf nicht wegsehen, wenn einzelne Regierungen wie neuerdings in Slowenien, besonders aber in Polen und Ungarn die Demokratie in ihrem Land schwächen.

Im November 2020 haben sich die Kommission, der Rat und das Europäische Parlament nach monatelangen Verhandlungen auf die Einführung einer Rechtsstaatkonditionalität geeinigt, das heißt auf die Verknüpfung der Einhaltung von rechtsstaatlichen Prinzipien mit dem EU-Haushalt und dem Wiederaufbaufonds Next Generation EU, und das ist auch gut so. Finanzkürzungen können bei Verfehlungen mit qualifizierter Mehrheit der Mitgliedstaaten eingeleitet werden. Der Nachweis von Verfehlungen, wir wissen es alle, ist nicht einfach, er ist schwierig. Aber allein, dass es eine Rechtsstaatskonditionalität geben könnte, stellt im Grunde schon einen Erfolg dar.

Es ist uns wichtig, dass alle Kommunen, Städte und Regionen in den betroffenen Mitgliedstaaten so wenig wie möglich unter diesen autoritären Staatsoberhäuptern leiden müssen. Hartmut hat es eben bereits gesagt: Es sind inzwischen 300 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister aus Ungarn und Polen, die diesen Brief unterschrieben haben. Eingeleitet wurde er im Grunde durch eine sehr breite Allianz eines grünen Bürgermeisters in Budapest und eines konservativen Bürgermeisters, Rafal Trzaskowski, in Warschau. Das zeigt aber auch, was in diesen Ländern los ist. Ich sage später noch einiges mehr dazu.

Daraus folgt einerseits, dass für die Nationalregierung unliebsame Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in den Ländern systematisch finanziell beschnitten werden. Andererseits gilt natürlich auch: Wenn es gelingen sollte, Mittel einzubehalten, dann

(Hartmut Hamerich)

werden diese auch nicht mehr dorthin fließen. Daher ist es eine Option, dass die EU erheblich mehr als bisher Städten, Regionen und Kommunen direkt den Zugang zu EU-Fonds ermöglichen sollte. Dafür müssen Kommunen und Regionen natürlich jeweils nachweisen, dass eine strikte Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Transparenz sichergestellt ist. So kann Förderung nicht nur schneller, sondern auch zielgenauer gehen. Ich glaube, das sollte man sich auch einmal überlegen. Es ist auch ein Zeichen von Solidarität, nicht alle über einen Kamm zu scheren und rechtsstaatliche Strukturen überall in Europa zu stärken.

Wie ist jetzt die Einigung der Staats- und Regierungschefinnen und -chefs von gestern zu bewerten? Das Vetorecht einzelner Länder ist an dieser Stelle weg, und damit besteht die Möglichkeit, 1,8 Billionen € auszuteilen. Aber allein aus dem jetzt laufenden EU-Haushalt - denn dafür gilt diese Abmachung nicht - kann Ungarn noch über 10 Milliarden € abrufen, Polen noch über 40 Milliarden €. Wenn im Zusammenhang mit den Mitteln des neuen EU-Haushalts der Europäische Gerichtshof angerufen wird, dann dauert die Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit noch einmal Jahre. Es muss endlich aufhören, dass Autokratinnen und Autokraten in Europa sich weiter scheinbar bedingungslos subventionieren lassen und subventioniert werden.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SSW und Stephan Holowaty [FDP])

Anders als geplant, und ich glaube, das muss man sich immer wieder vor Augen führen, sind für den neuen Rechtsstaatmechanismus nur Verstöße gegen Haushaltsfragen, nicht aber gegen Pressefreiheit, Meinungsfreiheit oder die Unterdrückung von Minderheiten maßgeblich. Es werden weiter Fakten geschaffen. Kaum ein entlassener Richter wird wiedereingestellt; kaum eine Redaktion wird wiedereröffnet; kein zerstörter Ruf wird wiederhergestellt; und auch kein Unternehmen, das zerstört wird, wird irgendwie wiederaufgebaut werden, wenn der Europäische Gerichtshof Unregelmäßigkeiten bestätigt.

Es ist eine Chance vertan worden, autokratische Länder endlich in rechtsstaatliche Grenzen zu weisen. Bei allem Respekt vor dem gestern Erreichten: Wir tun uns keinen Gefallen, das Beseitigen des Vetos gegen den Haushalt an dieser Stelle als großen Erfolg zu feiern.

Aber ich sage auch etwas Positives: Die Bürgerinnen und Bürger von Polen haben vor 40 Jahren mit der Solidarnosc-Bewegung begonnen, für die Freiheit von einem autokratischen Staat zu demonstrie

ren und für die Öffnung Europas zu streiten. Sie haben es geschafft. Wir brauchen heute in allen Ländern Europas starke Kräfte für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Ohne sie ist der Rechtsstaat der Verlierer dieser Entwicklung, und ich glaube, das darf nicht sein. - Vielen Dank.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ver- einzelt SPD und SSW)

Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Abgeordnete Stephan Holowaty.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Rechtsstaatlichkeit wird in der EU auch weiterhin ein schwieriges Thema bleiben; das zeigen auch die Ereignisse der letzten Tage. Es ist eben nicht so: Ende gut, alles gut.

Seit gestern ist zwar der Streit zwischen Ungarn und Polen auf der einen Seite und der EU auf der anderen Seite um die Blockade des EU-Haushalts und der Corona-Hilfspakete aufgelöst - vorläufig! Und - auch das ist wichtig - erstmals besteht zumindest eine klitzekleine Aussicht darauf, dass die Vergabe von EU-Mitteln an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien in den Mitgliedsländern gekoppelt wird. Das ist übrigens ein ganz großer Erfolg für die liberale Parteienfamilie in Europa. Denn es darf sehr klar gesagt werden: Gäbe es im Europaparlament nur die alte große Koalition, hätte es vermutlich nicht einmal diesen minimalen Erfolg gegeben; dann hätten sich Ungarn und Polen sehr einfach durchgesetzt.

(Beifall FDP und Tim Brockmann [CDU])

Ich erinnere nur daran, dass es die EVP bislang noch nicht einmal geschafft hat, die ungarische Fidesz wirklich komplett vor die Tür zu setzen.

(Beifall FDP und Wolfgang Baasch [SPD])

Gerade die liberalen Parteien sind es, die entschieden darauf bestehen, dass Geld nur in die Länder fließen kann, die die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit der EU nicht verletzen.