Protokoll der Sitzung vom 24.09.2020

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Einen Tag nach dem Fall der Berliner Mauer kam es in Berlin am Schöneberger Rathaus zu einer bizarren Szene. Sie erinnern sich? Es fand eine spontane Kundgebung statt. Willy Brandt, Helmut Kohl und Berlins regierender Bürgermeister, Walter Momper, hielten die Reden, und Momper hat dabei mit seinem berühmt gewordenen Satz „Wir Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk auf der Welt!“ die Stimmung meiner Familie und die Stimmung der allermeisten meiner Bekannten genau auf den Punkt gebracht.

Bei vielen der damals anwesenden Kundgebungsteilnehmer war aber genau dies offensichtlich nicht der Fall; denn weite Passagen insbesondere der Reden von Kohl und von Momper waren vor Buhrufen und Gejohle kaum zu verstehen.

Als die Politiker dann am Ende der Kundgebung die Nationalhymne anstimmten, sangen zwar viele mit, aber diejenigen, die pfiffen und johlten, waren eindeutig lauter. Was für ein verstörendes Bild! Mir war damals klar, dass die Störer ein ganz verqueres historisches Bewusstsein haben mussten und dass sie die tiefe Bedeutung von Einigkeit und Recht und Freiheit nicht ermessen konnten. Kurz, es war offensichtlich: Ihnen fehlte die politische Bildung. Von daher begrüßen wir den Antrag, 30 Jahre deutsche Einheit, ausdrücklich. Er zielt übrigens in genau die Richtung, die unser Antrag vor fast genau einem Jahr für ein würdiges Gedenken an die friedliche Revolution von 1989/1990 hatte. Dass mich das freut, das können Sie sich vorstellen.

Sie sprechen vom Erinnern: Erinnern an die Zustände, die damals in der DDR herrschten, an die materiellen und geistigen Grenzen, unter denen die Menschen litten, aber auch an den Mut, mit dem viele von ihnen gegen die Ungerechtigkeit angekämpft haben. Natürlich ist da auch die Erinnerung an die Freude und die Erlösung des 9. November.

In Ihrem Antrag haben Sie viele gute Vorschläge dazu gemacht, wie Erinnerung umgesetzt werden kann. Vermisst habe ich allerdings die konsequente

(Christopher Vogt)

Einbindung von Zeitzeugen in Unterrichtseinheiten. Nichts kann den persönlichen Austausch mit denjenigen ersetzen, die in der DDR leben mussten. Wie hat sich denn die Planwirtschaft auf die Kreativität ausgewirkt? Wie wohnte man denn in mietpreisgedeckeltem Volkseigentum? Wie erlebte man den Widerspruch zwischen Angstkultur und Jubelpropaganda?

Sie schreiben zuletzt in der Überschrift Ihres Antrags: Den Blick nach vorn richten. Ja, so abgedroschen es klingen mag, aus Geschichte kann und sollte man etwas lernen. Wir, unsere Generation, sind uns bewusst, dass die Ereignisse des Wendejahres 1989/1990 weit mehr waren als nur die Vereinigung zweier deutschen Teilstaaten, denn endlich waren alle Deutschen in Einheit und Freiheit dort angekommen, wohin sie schon seit dem 19. Jahrhundert unterwegs waren. Schon die lange Zeitspanne verdeutlicht die Umwege, die Sackgassen, die Irrungen und die Anstrengungen, die auf diesem Weg gelegen hatten.

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Christopher Vogt?

Ja, bitte.

Herr Dr. Brodehl, Sie haben gesagt, Ihnen fehlten in unserem Antrag die Gespräche mit Zeitzeugen. Ich hatte diese in meiner Rede auch angesprochen. Das steht auf Seite 2 unseres Antrags. Mir scheint, Sie sind nicht auf dem aktuellen Stand unseres Antrags. Das steht sehr wohl drin, und das halte ich auch für einen sehr wichtigen Punkt.

- Vielen Dank, dass Sie mich darauf hinweisen. Tatsächlich war es so: Ich habe gestern Abend noch lange im Büro gearbeitet und eben erst diesen neuen Antrag gelesen. Im Ursprungsantrag stand dies soweit ich weiß - nicht. Das habe ich mit Sicherheit nicht überlesen. Lassen Sie uns nicht instrumentalisieren, ob Sie das nun zuerst gesagt haben oder ich. Uns ist das aufgefallen, und uns ist es wichtig, Zeitzeugen einzubinden, wie wir das ja auch in einem anderen historischen Kontext tun.

(Beifall AfD)

Ich sagte, dass wir uns bewusst darüber geworden sind, dass es eine längere Zeitspanne war, die auf diesen Tag hingeführt hatte, und dass auf diesem

Weg viele Irrungen und Wirrungen lagen. Und genau dieses Wissen darf eben nicht zu einer Fußnote im Geschichtsunterricht verkommen. Sonst fehlt dem Blick nach vorn der notwendige Hintergrund. Das meine ich insbesondere bezogen auf die Herausforderungen, die die Zukunft mit sich bringen wird: Umweltprobleme, soziale Fragen, die Migrationsfrage und außenpolitische Fragen.

Immer häufiger kommen hierbei in den letzten Jahren die richtige Gesinnung oder die richtige Haltung mit ins Spiel. Und das ist, ich sage es in aller Deutlichkeit, eine gefährliche Entwicklung. Es heißt nicht, „Einigkeit und Haltung und Freiheit“, sondern „Einigkeit und Recht und Freiheit“.

(Beifall AfD - Zuruf Dr. Ralf Stegner [SPD])

- Da sind jetzt genau die Richtigen laut. - Wenn die richtige Haltung wichtiger wird als das Recht, dann sind dies zuletzt totalitäre Strukturen, und dafür müssen wir unsere Schüler sensibilisieren.

Wir haben deshalb einen Änderungsantrag eingebracht, in dem wir Ihren an sich guten Antrag dahin gehend ergänzen, dass die Landeszentrale für politische Bildung in Ihrem Bildungsangebot den Aspekt des Totalitarismus stärker berücksichtigen sollte und dass - wie gesagt - Zeitzeugen eingebunden werden sollen.

Ich bitte also um Zustimmung zu beiden Anträgen, und ich bin mir sicher, dass dies am Ende dazu beitragen wird, dass wir Szenen, wie wir sie am 10. November erlebten, als die Nationalhymne in Johlerei unterging, nicht mehr erleben müssen. Das Gegenteil sollte doch der Fall sein, nämlich dass wir als Deutsche „Einigkeit und Recht und Freiheit“ wieder selbstbewusst feiern und zelebrieren können. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen jetzt schon eine richtig gute Einheitsfeier am 3. Oktober. - Vielen Dank.

(Beifall AfD)

Für die Abgeordneten des SSW hat das Wort deren Sprecher, der Abgeordnete Lars Harms.

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr geehrten Damen und Herren! 30 Jahre Deutsche Einheit. 30 Jahre, das ist eine Generation. Die Deutsche Einheit von 1990 war ein historischer Moment. Zwei getrennte Länder, die wieder zusammenkommen. Das ist in der Weltgeschichte ein Ereignis mit Seltenheitswert, denn meistens ist es so, dass das,

(Dr. Frank Brodehl)

was einmal getrennt war, auch getrennt bleibt. Von daher kann man an dieser Stelle auch einmal stolz sein auf das, was geleistet wurde. Es war also ein einmaliges Ereignis. Das dürfen wir uns immer wieder vor Augen führen.

Die Deutsche Einheit ist keine Selbstverständlichkeit. Sie wurde uns nicht einfach so geschenkt, sondern sie war ein jahrelanger politischer Prozess.

(Beifall Werner Kalinka [CDU])

Daher befassen sich die vorliegenden Anträge insbesondere mit dem Aspekt der politischen Bildung. Der öffentliche Diskurs ist noch nicht zu Ende. Von daher ist es gut, das Thema Deutsche Einheit auch hier im Landtag anzusprechen. Der politische Prozess, der die Einheit ermöglicht hat, ist von der Straße ausgegangen. In diesem Prozess wurden Fehler gemacht, ja, aber es wurde eben auch vieles richtig gemacht. Und das, was richtig gemacht wurde, kommt in der Außendarstellung leider viel zu oft zu kurz. Ein Beispiel ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Im Westen war man noch meilenweit von einer Vereinbarkeit entfernt. Die Frauen sollten am liebsten zuhause bleiben und dafür Sorge tragen, dass die Waschmaschine läuft. Viele andere Möglichkeiten blieben auch nicht, da entsprechende Betreuungsplätze für die Kinder fehlten, vor allem in ländlicheren Regionen.

In der DDR war es hingegen völlig normal, dass Frauen auch ohne längere Unterbrechungen erwerbstätig sind. In dieser Hinsicht hat der Westen profitiert. Ohne die Wende wären die Ausweitung der Kinderbetreuung und wohl auch die Gleichberechtigung der Frauen möglicherweise nicht so schnell vorangeschritten, wie es zum Glück jetzt passiert ist.

(Beifall SSW)

Es lässt sich auch feststellen, dass eine Reihe ostdeutscher Städte und Regionen gewachsen sind und dass es den Bürgern grundsätzlich besser geht. Die Animositäten zwischen Ost und West sind geringer geworden. Vor allem bei der jüngeren Generation in Ost und West kennt man diese Denkweise nicht mehr. Es hat keine Bedeutung, ob man aus dem Osten oder dem Westen kommt, und das ist doch sehr erfreulich. Hier wurde also ein wichtiges Ziel erreicht, meine Damen und Herren. Es ist tatsächlich zusammengewachsen, was zusammengehört.

Das, was noch nicht erreicht wurde, sind gleiche Löhne. Es ist mir unverständlich, warum für Landesbeamte in den ostdeutschen Bundesländern weniger gezahlt wird als im Rest der Republik. Meiner

Meinung nach haben wir als Länder da eine ganz klare Vorbildfunktion. Wir müssen für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn zahlen, egal ob man nun in Schwerin oder in Kiel arbeitet.

Ein anderes Thema, das mir an dieser Stelle noch wichtig ist, ist etwas, das im Osten und im Westen schon immer gleich war. Es geht um den Heimatverlust von ganzen Dorfgemeinschaften. Laut BUND wurden seit 1945 in Ost- und Westdeutschland insgesamt 300 Ortschaften durch die Gewinnung von Kohle zerstört. Mehr als 120.000 Menschen wurden umgesiedelt, und auch heute noch geschieht das. Es kann einfach nicht sein, dass man trotz des Beschlusses zum Kohleausstieg noch weitere Ortschaften zerstört. Ein solches Bild gehört für uns als SSW jedenfalls nicht zu einer modernen geeinten Bundesrepublik. Deshalb muss dieser Wahnsinn lieber heute als morgen aufhören.

Abschließend lässt sich aus meiner Sicht durchaus feststellen, dass die Deutsche Einheit als positiv für Deutschland zu werten ist. Entscheidend ist, dass sich dies auch entsprechend in schulischer und kultureller Bildung niederschlägt. Meine Damen und Herren, schön wäre es, wenn die Überwindung von Gegensätzen bei der deutschen Wiedervereinigung auch ein Vorbild für mehr Gemeinsamkeit auf europäischer Ebene wäre. Das wäre nämlich nötiger denn je. Ich finde: Wenn wir heute darüber reden, dann sollten wir nicht immer nur zurückblicken und sehen, was einmal war. Wir sollten vielleicht einmal die Lehren daraus ziehen, was wir in Deutschland als Erfolgsmodell exportieren können. Wir können immerhin sagen, dass sich in dieser Zeit riesige Armeen gegenüberstanden, dass wir tagtäglich damit rechnen mussten, dass es zu einer Kriegshandlung kommt, und dass es unvorstellbar war, dass man sich in irgendeiner Art und Weise einigen kann. Vor dem Hintergrund, dass dies gelungen ist, muss es möglich sein, auch auf europäischer Ebene noch einiger zu werden. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall SSW, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und vereinzelt CDU)

Das Wort zu einem Kurzbeitrag hat der Abgeordnete Martin Habersaat.

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Deutsche Einheit gehört in den Geschichtsunterricht - das haben wir von einigen Red

(Lars Harms)

nern heute sinngemäß gehört, von Frau Röttger wörtlich. Ich möchte an dieser Stelle eine Lanze für unsere Schulen und den Geschichtsunterricht brechen: Dort ist sie längst!

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Dennys Bornhöft [FDP])

In der Sekundarstufe I an den Schulen SchleswigHolsteins ist die Entwicklung zur Einheit Deutschlands und Europas seit 1945 als Thema vorgesehen. Es steht unter der Überschrift: Von der Spaltung zur Integration? - Das ist aus meiner Sicht ein guter Ansatzpunkt, um über das Thema zu diskutieren. Viele Gedanken, die sich dort wiederfinden, hat Frau von Kalben vorgetragen.

In unserem Lehrplan wird ausdrücklich empfohlen, an dieser Stelle die Methode der Zeitzeugenbefragung einzuführen. Früher gab es diese Empfehlung in Bezug auf das Thema Zweiter Weltkrieg. Das geht aus technischen Gründen heute nicht mehr so gut. Aber zu dem Thema Wiedervereinigung ist diese Methode wieder absolut geeignet.

(Lars Harms [SSW] und Christopher Vogt [FDP]: Aus biologischen Gründen!)

(Christopher Vogt [FDP]: Aus biologischen Gründen!)

- Aus biologischen Gründen; akzeptiere ich.

Der Umgang mit Massenmedien soll ebenfalls thematisiert werden. Diese Empfehlung könnte man fast als Antwort auf die AfD-Beiträge lesen.

Der Lehrplan der Sekundarstufe II ist noch viel mehr eine Antwort auf die AfD. Darin geht es unter anderem um die Frage: Kann man eigentlich aus der Geschichte lernen? - Offenkundig können es nicht alle.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW - Wortmeldung Dr. Frank Brodehl [AfD])

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung des Abgeordneten Brodehl?