Protokoll der Sitzung vom 24.09.2020

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung des Abgeordneten Brodehl?

Nein, vielen Dank. - Da geht es um die Frage: Begegnung von Kulturen - Konfrontation, Abgrenzung oder Integration? Da geht es um die Frage, ob Menschenrechte universell, für alle Menschen gelten oder nur für bestimmte Menschen. Da geht es um

die Frage: nationale Identitäten - Realität oder Konstruktion? Da geht es um die Frage: War die deutsche Teilung eigentlich selbstverschuldet oder von außen aufgezwungen? Da geht es auch um die Debatte über die Frage - das wird man bei der CDU gern hören -: War die DDR ein Unrechtsstaat?

Die Diskussion über all diese Schlagworte und Themen, die wir in der Debatte heute Morgen gebracht haben, ist an unseren Schulen längst Realität. Das wird unterrichtet, und das muss es auch. Ich möchte dafür werben, an diese Themen auch kontrovers heranzugehen. Frau Röttger, ich kann Ihre Freude über die Einheit verstehen. Wenn Sie aber Geschichtsunterricht nach dem Motto gestalten wollen: „Das ist so toll für uns alle und ein Riesenglück für unser Volk!“, dann ist das kein Unterricht, wie er, zumindest aus meiner Sicht, im Jahr 2020 sein sollte. So gilt an unseren Schulen das Überwältigungsverbot. Die Lehrkraft darf ihre Position gar nicht den Schülerinnen und Schülern aufoktroyieren.

Wenn wir genau hingucken, dann stellen wir fest: Es ist eben nicht alles tutti. Im Osten gibt es Menschen, die ihre Lebensleistung nicht gewürdigt fühlen. Im Westen gibt es Menschen, die ihren finanziellen Beitrag zur Deutschen Einheit nicht gewürdigt fühlen.

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Anette Röttger?

(Dr. Frank Brodehl [AfD]: Ach?)

Herr Habersaat, Sie verteidigen gerade unseren gemeinsam gestellten Antrag. Mir leuchtet nicht ganz ein, warum Sie jetzt mit diesen Argumenten den Geschichtsunterricht verteidigen, den ich ja in keiner Weise infrage gestellt habe. Ich habe in meiner Rede lediglich die Betonung darauf gelegt, dass wir auch heute noch eine feste Verankerung dieses Themas im Geschichtsunterricht benötigen - nicht mehr und nicht weniger.

- Frau Röttger, ich habe empfohlen, dass man, bevor man in diesem Landtag etwas einfordert, mit einem zweiten Blick guckt, was in der Realität davon schon vorhanden ist. Aber das betraf nicht allein Sie. Sie haben gefordert, die Einheit solle im Unter

(Martin Habersaat)

richt vorkommen. Ich habe gesagt: Das steht schon im Lehrplan. - Frau von Kalben hat gesagt, man müsse sich auch um die Integration Europas kümmern. Ich habe gesagt: Das steht schon im Lehrplan. - Herr Brodehl hat empfohlen, Zeitzeugen einzubinden. Ich habe gesagt: Das steht schon im Lehrplan.

(Heiterkeit und Beifall SPD und SSW)

Herr Abgeordneter, gestatten Sie nunmehr eine Zwischenbemerkung oder -frage des Abgeordneten Koch?

Herr Kollege Habersaat, in der Tat sprechen wir über unseren gemeinsamen Antrag. In diesem formulieren wir, dass wir die deutsche Teilung und ihre Überwindung „verstärkt“ als Thema berücksichtigt wissen wollen. Teilen Sie diese Auffassung?

(Heiterkeit - Volker Schnurrbusch [AfD]: In- teressant!)

- Herr Kollege Koch, ich teile alles, was wir in gemeinsame Anträge schreiben. Aber ich darf - das ist in unserer Fraktion erlaubt - durchaus eine eigene Pointierung in Bezug auf die Themen vornehmen. Wie Sie wissen, bin ich Bildungspolitiker; zu den bildungspolitischen Themen unseres Antrags habe ich mich gemeldet. Ich habe schon an anderer Stelle gesagt, dass ich es schwierig fände, wenn die einzige Antwort, die uns auf alle Fragen dieser Welt immer einfällt, lauten würde: „Das müssen wir an den Schulen behandeln“, oder: „Das müssen wir verstärkt an den Schulen behandeln.“ Deswegen erlauben Sie mir, dass ich darauf hinweise, was es im Lehrplan alles schon gibt. Ich würdige natürlich das gemeinsame Werk dieses Antrags, finde aber ganz persönlich: Das ist nicht das Beste, was uns jemals in diesem Haus gemeinsam gelungen ist.

(Zurufe Lars Harms [SSW] und FDP - Volker Schnurrbusch [AfD]: Oh! Ihr von der CDU solltet vielleicht Lehren ziehen, wenn es um gemeinsame Anträge geht!)

Bevor wir diesen gemeinsamen Antrag geschrieben hatten, war das eine reine, flache Jubelarie. Insofern haben wir ihn durchaus ein Stück nach vorn gebracht.

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung des Abgeordneten Dr. Stegner?

(Christopher Vogt [FDP]: Jetzt gibt es Ärger! - Heiterkeit)

Ganz im Gegenteil! - Ich möchte eine Bemerkung machen. Ich finde es angesichts des unseligen Beitrags von rechtsaußen richtig, dass wir einen gemeinsamen Antrag formuliert haben. Aber natürlich sind wir unterschiedliche Fraktionen, und wir dürfen unterschiedliche Kolorierungen von Themen vornehmen. Die Gemeinsamkeiten sind jedenfalls deutlich größer als die Unterschiede. Die Toleranz hält es aus, dass man sich in Nuancen unterscheidet. Ich finde es sehr richtig, wenn darauf hingewiesen wird, dass in den Schulen vieles engagiert stattfindet. Ich wünschte mir, alle täten das so engagiert, wie es in den Schulen meist schon geschieht.

(Vereinzelter Beifall SPD)

- Vielen Dank, Herr Kollege Stegner. Ich finde es auch völlig legitim, wenn in einer solchen Debatte die SPD die Ostpolitik von Willy Brandt besonders hervorhebt, die FDP an Genscher auf dem Balkon erinnert

(Christopher Vogt [FDP]: Nein, nein, bei der Ostpolitik waren wir auch dabei!)

und die CDU für Dr. Kohl und dessen „blühende Landschaften“ wirbt.

(Heiterkeit SPD)

Das ist doch alles okay. Was auffällt, ist, dass ein AfD-Politiker noch nie etwas zur Deutschen Einheit beigetragen hat.

(Zuruf Dr. Frank Brodehl [AfD])

Ich möchte abschließend festhalten: Wer die innere Einheit tatsächlich stärken möchte, der muss sich im Unterricht auch den kritischen Seiten stellen. Wir dürfen das nicht einseitig als Jubelveranstaltung aufziehen. - Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall SPD und SSW - Volker Schnurr- busch [AfD]: Die ewigen Miesmacher von (Martin Habersaat)

links! Die können es nicht lassen und müssen alles in den Dreck ziehen!)

Das Wort zu einem weiteren Kurzbeitrag hat die Abgeordnete Eka von Kalben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Habersaat, wenn Sie sich den Antrag genau angucken, dann sehen Sie, dass wir bei unseren Formulierungen zu all diesen schulischen Maßnahmen nicht infrage stellen, dass das schon im Lehrplan steht. Wir wollen dieses Thema verstärkt behandelt wissen, das heißt, auf bestimmte Aspekte soll der Blick besonders gerichtet werden. Wir fordern also nicht, das Thema neu zu verankern; denn es ist bereits im Lehrplan verankert.

Wir sind Teil der Jamaika-Koalition. Viele von Ihnen wissen, wie es ist, wenn man einer Koalition angehört. Natürlich hat man es auch mit Anträgen zu tun, von denen man einige Teile besser und andere weniger gut findet. Ich finde es aber sehr schade, wenn in einer Debatte wie dieser hier die Nuancen in den Fokus gerückt werden und nicht die Tatsache an sich, dass wir diesen Antrag gemeinsam einbringen. In unserer Demokratie gibt es genug Themen, die wir uns gemeinsam angucken müssen.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP und vereinzelt CDU)

Meine Damen und Herren! Diese Debatte hat mir gezeigt, dass man tatsächlich unterschiedlich auf die Vergangenheit blickt. Das gilt auch für die Koalitionsfraktionen. Ein besonderer Aspekt - den man durchaus kritisch sehen kann - ist die Einbeziehung von Zeitzeugenbefragungen in den Unterricht. Herr Habersaat, Sie sagten, dieser Ansatz sei bereits Teil des Lehrplans. Ich glaube, dass wir auch in Bezug darauf sehr genau hinschauen müssen.

Ich möchte nämlich den 10. November 1989 aus meiner Perspektive beschreiben. Herr Brodehl, Sie waren dort und hörten eine tobende Masse, die andere Menschen, die sich mit der Hymne über die bevorstehende Wiedervereinigung freuten, niederbrüllten. - Ja, stimmt. Ich war in dieser Masse. Die Leute standen auf der Mauer. Ich habe an der Mauer gestanden und habe auch Leuten hinaufgeholfen. Darunter waren ganz viele Leute, die zum ersten Mal im Westen waren und sich freuten. Es war sozusagen Party. Man ging auf die Mauer.

Vorn waren aber in jener Nacht schon wieder Volkspolizisten, die das Brandenburger Tor abschirmten. Es gab in gewisser Weise eine knisternde Atmosphäre. Ich hatte mich damals auch mit einigen Leuten getroffen, die im Neuen Forum mitgearbeitet haben. Und die haben gesagt: „Oh, Leute, lasst uns das jetzt mal nicht überziehen.“ Es bestand die Angst, dass die Volkspolizisten die Grenzen vielleicht wieder schließen würden.

Und dann steigen auf die Mauer Leute aus der studentischen Verbindung mit riesengroßen Deutschlandfahnen, schwenken die und singen dazu die Nationalhymne mitten in diesem Fest der Einheit. Es gab ja noch nicht die Wiedervereinigung, es waren lediglich die Grenzen zwischen der DDR und der BRD geöffnet worden. Da hatten viele Menschen vor Ort Angst vor diesem martialischen Auftreten. Darunter hatten sich auch Leute gemischt, die rechtsradikale Symbole trugen. Und diese Menschen wurden von der Mehrheit, die dort am 10. November 1989 war, niedergerufen, und sie haben gesagt: „Geht runter von der Mauer! Ihr eskaliert! Hört auf, jetzt hier die Hymne zur singen!“ Ich finde, das war genau richtig. Das ist meine Perspektive auf den 10. November 1989.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort zu einem Kurzbeitrag hat der Abgeordnete Werner Kalinka.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der größte Dank für die Einheit gebührt dem Mut der Bürgerinnen und Bürger der DDR, die für Freiheit und Frieden gekämpft haben.

(Beifall im ganzen Haus)

Das war alles andere als selbstverständlich; Lars Harms hat das richtig gesagt.

In Leipzig standen die Panzer in der Nebenstraße und waren bereit, eingesetzt zu werden. Die SEDSpitze hatte ja Wochen vorher mit der chinesischen Lösung gedroht. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch daran, was es bedeutet, Panzer fahren zu lassen.

Dies ist auch die Stunde, denjenigen besonders zu gedenken, die an der Gesundheit Schaden genommen haben oder gar gestorben sind, weil sie sich für die Freiheit engagiert haben oder in die Freiheit wollten. Was dort von der Diktatur gemacht wurde mit Mauer und Stacheldraht, mit dem MfS und an

(Martin Habersaat)

deren Dingen, das ist einer der schlimmsten Vorgänge überhaupt, die man sich vorstellen kann.